Freitag, 16. Dezember 2011

Restgedanken 2011

Einer der großen Unterschiede zwischen Stadt und Land sind die Sterne. Du gehst nachts nach Hause, die Laternen sind längst ausgeschaltet worden, und siehst die Sterne. In Berlin hast du nur den diffusen Widerschein der Stadt, in deinem Dorf blickst auf die winzigen Lichter über dir. Je kleiner die Häuser, desto größer der Himmel. Und selbst wenn du noch nicht einmal weißt, welches dieser Lichter da oben der gottverdammte Scheiß-Polarstern ist, gibt dir der Himmel in dieser Nacht ein gutes Gefühl.

Politik ist nicht die Suche nach der Wahrheit, sondern die Suche nach der Mehrheit.

Wenn man sich oft den Kopf kratzt, bildet sich Grind, den man dann wieder wegkratzen muss. So haben auch alte Menschen eine Beschäftigung.

Unsere Erde ist sehr schön – bis auf die Teile, die mit Menschen in Berührung gekommen sind.

Moral und gesunder Menschenverstand haben als Leitsterne keine Bedeutung mehr. Wer die heutige Welt verstehen will, muss entweder Jurist oder Betriebswirt sein.

Ich weiß auch nicht, wann man erwachsen wird. Wahrscheinlich habe ich den Zeitpunkt verpasst.

Der Schriftsteller sitzt meist allein in seinem Zimmer und schreibt auf, was er eigentlich sagen wollte.

Jedes Leben sagt auch etwas über seine Zeit aus. Deswegen kann auch jedes Leben erzählt werden.

Wieso muss alles einen Grund haben? Die Sachen, die man grundlos tut oder mitnimmt, sind oft die besten.

Ich könnte mich als Schriftsteller bezeichnen, aber für das Finanzamt ist mein Schreiben nur Liebhaberei und Zeitvertreib. Von Beruf bin ich also gar nichts, ich mache nichts, ich bin ein Tunichtgut, Taugenichts, ein Faulenzer, ein ungewollter Ruhepol in unruhigen Zeiten, eine irritierende Bewegungslosigkeit als permanente Provokation, jemand der seine Existenz nicht hinreichend erklären kann.

Der neueste Modetrend: Perfekt zum Abhängen sind nicht nur Jogging-Hosen, sondern auch die ganzen bequemen Trekkingsachen. Die Begriffe sind ohnehin nur Tarnung, in Wirklichkeit geht es um die totale Entspannung. Frankie says: Relax!

Wer „alternativlos“ sagt, ist zu faul zum denken.

Seit Wochen plagt mich ein hartnäckiger Husten, täglich produziere ich literweise Auswurf, aber keine Texte. Ein Zeichen? Wenn ja: von wem und wozu? Will das Universum an mir seinen Sarkasmus beweisen?

Verzweifelt anders sein wollen – die Tragik unserer Epoche.

Die enorme Menge an Wissen, die wir jeden Tag vergessen. Dazu produzieren Maschinen riesige Mengen an Informationen, die keiner braucht. Die phantastische Welt des dritten Jahrtausends!

Dienstag, 13. Dezember 2011

Ein wertvoller Hinweis

Mein Tagestipp: Gut frühstücken! Frühstücken Sie heute einmal richtig und mit Bedacht. So sollte zum Beispiel Obst nicht fehlen: Trauben, Mandarinenstückchen und Erdbeeren. Dazu winzige ofenwarme Croissants und Sesamcracker mit geschmolzenem Emmentaler. Frisches Weißbrot, Salami in dünnen Schreiben, Ziegenkäse, Quark und Marmelade. Kaffee, etwas Tee, Mangolassi als kühlen und köstlichen Kontrapunkt. Dann Hähnchenschenkel, nicht zu pikant gewürzt. Cross gebackene Nachos mit Avocadodip, Frikadellchen mit Cornichons, dazu diese kleinen Partybrötchen mit Sesam, Kümmel oder Mohn drauf. Ferner ein Gläschen Sekt - und warum nicht auch mal das Thema Champagner ins Spiel bringen? An dieser Stelle soll man seine Weitsicht lobpreisen, am Tisch links und rechts vom Computer genug Platz gelassen zu haben, denn hier soll nicht nur in wenigen Stunden die notwendige Fron des Tages geleistet werden, der unermüdlich zu verrichtende Dienst am Leser gleichsam geschultert und das später unter Tränen der Demut zu verzehrende und nur allzu kärglich mit einem Nebelhauch von geliehener Margarine dekorierte Brot verdient werden, sondern hier stehen nun auch die silbern schimmernden Platten mit Schinken aus Parma und Prag, aus Bayonne und Graubünden, stoßweiße dicke französische Landbrotscheiben auf klobigen Brettern, Roggenbrot, kleinere Speck- und Zwiebelbrote. Natürlich ein Rührei mit frischem Paprika und Kräutern. Würste aller Art, gebratene und gekochte Wurst, Aufschnitt oder Aufstrich. Ein Fässchen mit gesalzener Butter. Käsekuchen und Schokoladeneis mit Sahne. Weizenbier und Obstler. Die Morgenzeitung. Das Sofa. Der Schlaf. Der heutige Tipp: Starten Sie richtig in den Tag!

Mittwoch, 30. November 2011

Auf Wiedersehen

Die Sonne ist längst untergegangen und mein letzter Arbeitstag als Kiezschreiber im Brunnenviertel endet nun. Drei Jahre, von Dezember 2008 bis November 2011, habe ich als Schriftsteller und Journalist Kurzgeschichten, Glossen, Reportagen, Pressemitteilungen, Weihnachtsmärchen, Gedichte und sogar einen Roman geschrieben. Sie sind auf der Homepage des Quartiersmanagements Brunnenviertel-Brunnenstraße, im Magazin „Brunnen ¼“, im Newsletter, von meinem Verlag und in diesem Blog veröffentlicht worden. Ab morgen bin ich wieder einer der glücklichen Arbeitslosen in dieser wunderbaren Stadt. Wer in der heutigen geldgetriebenen, sinnentleerten, hochgradig absurden und zukunftslosen Leistungsgesellschaft nicht benötigt wird, hat alles richtig gemacht. Ich werde auch weiterhin über den Wedding und seine Menschen schreiben und engagiere mich ehrenamtlich in der Gründungsinitiative für eine Bürgerstiftung im Wedding. Wer Lust hat, kann mich und einige andere Stiftungsgründer an unserem Stand auf dem Weihnachtsmarkt besuchen, der am 11. Dezember auf dem Leopoldplatz im Wedding stattfindet. Dort stellen wir unseren Kunstkalender 2012 und meinen Kriminalroman vor – um großzügige Spenden für unsere Stiftungsarbeit wird gebeten!

Wilmersdorfer Witwen

Sie haben die Kaltschnäuzigkeit von gestandenen Frontsoldaten: Wilmersdorfer Witwen. Zwei Exemplare sitzen heute am Nachbartisch, als ich bei meinem Stammgriechen gebratene Auberginenscheiben mit Zaziki an einer Variation von Braugerste und Hopfen genieße. Da geht es zunächst um das Enkelkind der einen Dame, das Hartz IV bekommt, mit dem Geld aber nicht auskommt, weil es alkoholkrank ist. Leider habe ich nicht ganz mitbekommen, ob der Enkel depressiv wurde, nachdem er die Arbeit verloren hat, ob die Depressionen Ursache des Arbeitsplatzverlustes sind oder der Alkohol beides verursacht hat bzw. beides lindern kann. Jedenfalls säuft die eigene Tochter (und Mutter jenes 31-jährigen „Kindes“) wesentlich mehr, nämlich zwei Flaschen Wein am Tag. Dann erzählt die andere von ihrem Bruder, der kürzlich auf dem OP-Tisch verblutet ist, weil der Arzt beim Versuch einer Tumorentfernung zu tief geschnitten habe. Nach pietätvollem, etwa zehnsekündigen Schweigen bemerkt ihr Gegenüber: „Die Kartoffeln schmecken gut.“ Hardcore. Dann geht es weiter: In einer Schublade des verstorbenen Bruders fand sich ein Tagebuch, aus dem hervorging, dass er Anfang der siebziger Jahre nicht nur eine Affäre mit einer anderen Frau hatte, sondern auch noch Vater eines unehelichen Kindes geworden ist. Diese andere Frau hat ihn jahrelang erpresst. Nun beratschlagen die Witwen, ob man den unbekannten und inzwischen vierzigjährigen Spross der Familie ausfindig machen und über die wahre Vaterschaft informieren soll. Bei meinem Griechen werden die besten Geschichten erzählt! Ich frage mich, wozu ich überhaupt im langweiligen „Spiegel“ blättere, der sich doch nur wieder mit Panikmache rund um das Thema Geld beschäftigt. Da halte ich es doch mit Gerhard Polt, der im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ gerade ein sehr kluges Interview gegeben hat: „Ich hab um gar keine Währung Angst (…), es wird immer Leute geben, die wissen, wie man einen guten Wein oder ein leckeres Schnitzel macht.“ Darum geht es im Leben wirklich: Familie und Freunde, Essen und Trinken, Lebensfreude und Gesundheit.

Samstag, 19. November 2011

Minimal-invasiver Lebensstil: der dritte Weg?

Marek Smrz vertrat in der linken Szene das von ihm entwickelte Theorem des minimal-invasiven Lebensstils. Das hieß: so geringe Eingriffe in die Umwelt wie möglich, Drosselung des persönlichen Verbrauchs und der Aktivitäten. Smrz lehnte beispielsweise Fahrräder ab – über Autos wurde hier schon gar nicht mehr diskutiert -, weil sie ebenfalls industriell aus Metall und Kunststoff hergestellt wurden. Man solle alles zu Fuß erledigen, für unabwendbare Reisen nehme man die öffentlichen Transportmittel. In den strengen Grenzen dieses Konzepts gab es natürlich nur sehr geringe Möglichkeiten für eine Erwerbstätigkeit, beispielsweise in einer selbstverwalteten Werkstatt im eigenen Kiez. Außerdem ließ sich seine Idee wunderbar mit den Boykottlisten verbinden, an denen in linken Kreisen akribisch gearbeitet wurde. Wenn man den Kapitalismus ins Herz treffen wollte, durfte man nicht moralisch argumentieren, sondern musste auf die Brieftasche der Konzerne zielen. Also: keine amerikanischen Produkte, weil man damit den US-Imperialismus und Angriffskriege unterstützt, kein Ikea-Plunder, weil man damit den skandinavischen Faschismus unterstützt, Fairtrade-Zeugs kaufen usw. – wem das alles zu kompliziert wurde, ging einfach nach Kreuzberg in die LPG am Mehringdamm einkaufen, dann war sicher alles im Einkaufskorb allerschwerstens pc.
Smrz setzte sein Theorem des minimal-invasiven Lebensstils, mit dem der expansive Konzernkapitalismus im Übrigen seiner zerstörerischen Dynamik beraubt werden sollte, in erster Linie im heimischen Bett um. „Wenn man es sich recht überlegt, ist doch jede Stunde, die man gefaulenzt hat, auf das Sinnvollste verwendet worden. All die Zeitschätze, die er dem Imperium der Vernunft vorenthalten und freudig verschwendet hatte. Keine Minute mochte er missen, die er auf dem Bett liegend oder aus dem Fenster starrend in den Augen anderer vergeudete. All die Traumfetzen der zahllosen Nickerchen, all die zufriedenen Grunzer der Behaglichkeit nach einem guten Essen, all das gedankenverlorene Dösen vor dem Fernseher, all die gemütlichen Zeiten der Müdigkeit und der Melancholie. Der süße Zauber vollkommener Untätigkeit ...“ zitierte er Rondo Delaforce, den großen Denker des Müßiggangs, aus dessen Frühwerk „Die singende Fleischwurst“.
Mardo kannte das alles, schließlich hatten sie gemeinsam bei einigen Krügen „Gambrinus“ in den „Prager Hopfenstuben“ auf der Karl-Marx-Allee den Grundstein für das philosophische Werk von Marek Smrz gelegt. Die Mischung aus Gelassenheit und Gerissenheit, aus portugiesischem Lebensgenuss und tschechischer Lebensklugheit – dieser Delaforce musste mit Mardo verwandt sein. Vielleicht lebte er sogar in dieser Stadt? Ruhe war sein Schlüssel zum Glück. Mardo glaubte nicht daran, dass die Menschen, die nach Managementratgebern lebten, wirklich ein glückliches und sorgenfreies Leben führten. Es war wie in dem Märchen vom Hasen und vom Igel. Mardo hatte wie Smrz früh beschlossen, sich der Fraktion der Igel anzuschließen. Der echte Berliner hat Zeit und lässt sich nicht von der Hektik der Kleinstadt anstecken.
(Aus den ersten Vorarbeiten zum zweiten Mardo-Krimi)

Donnerstag, 17. November 2011

Staatlich geförderter Naziterror

Es ist schon sehr aufschlussreich, aus welchen Rattenlöchern die Faschos in der Abenddämmerung des Kapitalismus gekrochen kommen. Jetzt kommt die ganze widerliche Jauche innerhalb und außerhalb des Staatsapparats zum Vorschein. Zum Glück machen die Konservativen einen Krisengipfel ...

Nicht-Christen und Nicht-Deutsche sind offenbar Freiwild für die staatlich geförderten Terrorbanden, für die Gestapo-Ratten des "Verfassungsschutzes". Muslime sind eben potenzielle Täter, keine Opfer. Wo die demokratische Verfassung selbst von ihren Hütern mit Füßen getreten wird, kann es nur eine Konsequenz geben: Widerstand.

Montag, 31. Oktober 2011

Rede des Igels an den Hasen


Als man den Typ, der den Reißverschluss erfunden hat, fragte, wie er auf die Idee gekommen ist, hat er gesagt: Er hatte es satt, immer diese vielen Knöpfe auf und wieder zu zu fummeln. Früher hatten die Hosen in Amerika, wo der Erfinder des Reißverschlusses gewohnt hat, nämlich Knöpfe wie heute an einer Levis. Wahrscheinlich war er gerade besoffen, als er sich über diesen umständlichen Hosenstall geärgert hat, und hat dann einfach einen neuen Hosenstall erfunden. Letztlich war also die Faulheit sein Motiv. Er wollte einen Hosenstall haben, der einfach und schnell zu bedienen ist. Die Faulheit ist ein großer Motivator, sie hat uns nicht nur den Reißverschluss gebracht. Ein Lob auf die ruhmreiche Faulheit! Fortschritt bis zum völligen Stillstand! In der Sekunde, in der wir auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen, haben wir die Ewigkeit jenseits der Bewegung erreicht.

Mittwoch, 12. Oktober 2011

Weißer Wedding


Es ist soweit! Der große Kiezroman des Kiezschreibers ist ab Mitternacht weltweit im Handel, seit Tagen campieren die Fans auf dem Bürgersteig vor Hugendubel und Dussmann. Mit einer einzigen Veröffentlichung wird das Brunnenviertel in Mitte, ehemals Wedding, ins literarische Universum katapultiert. 270 Seiten prall gefüllt mit Berliner Lokalkolorit und der schillernden Vielfalt des hiesigen Milieus, mit Prenzlauer Berg und Mauerpark, arm und reich, jung und alt. Unvergessliche Momente sind dem Leser gewiss! Der Roman ist beim renommierten Regionalkrimiverlag Emons erschienen.

Zur Handlung von "Weißer Wedding":

Was wusste der Journalist Roth, bevor man ihn betäubt und gefesselt auf die Bahngleise legte? Wieso macht sein Tod seine früheren Redaktionskollegen so nervös? Und welche Rolle spielen der Bundesnachrichtendienst und eine terroristische Vereinigung in diesem Zusammenhang? Bald geistern USB-Sticks mit brisanten Informationen durch die Hauptstadt, und alle Fäden laufen im Brunnenviertel zusammen, einem sogenannten sozialen Brennpunkt im Wedding. Jan Mardo, Migrantensohn mit Detektivlizenz, tritt an, um die Ehre seines Kiezes zu retten.

Viel Vergnügen wünscht Ihnen

Der Kiezschreiber vom Brunnenviertel


Mittwoch, 5. Oktober 2011

Neuanfang


Wenn wir uns die Welt für einen Augenblick als großes Monopoly-Spiel vorstellen – und nach der morgendlichen Zeitungslektüre über „die Märkte“, ihre Macht und die gesellschaftliche und historische Bedeutung ihrer nervösen Zuckungen liegt diese Vorstellung nicht fern -, dann sind wir jetzt in einem Stadium angelangt, in dem die Sieger dieses Spiels feststehen. Okay, Mister Gates usw., Ihr habt gewonnen! Herzlichen Glückwunsch! Kinder würden jetzt ein neues Spiel anfangen. Wir Erwachsenen verharren aber in der aktuellen Vermögensverteilung: Alles Geld, alle Grundstücke, Häuser und Hotels haben die Gewinner, die Verlierer haben nur ihre Schuldscheine. Soll das nun das Ende sein? Dann macht dieses Spiel keinen Spaß mehr – und das werden die Gewinner immer stärker zu spüren bekommen. Die Menschen möchten eine neue Runde spielen oder ein anderes Spiel. Da sind sie glücklicherweise wie die Kinder. Aber wie fangen wir eine neue Runde oder ein neues Spiel an? Konrad Adenauer hatte in den 1950er Jahren eine gute Idee. Er fand, dass das Volksvermögen ungleich verteilt war. Die einen hatten im Krieg alles verloren, die anderen waren verschont geblieben. Das hatte nichts mit Leistung, sondern mit Glück im Bombenhagel zu tun. Also hat er den Reichen eine Hälfte ihres Vermögens genommen und es, verteilt über 30 Jahre, den Armen gegeben („Lastenausgleichsgesetz“). Der Mann war CDU-Politiker! Ich möchte nicht wissen, wie hoch die Vermögensabgabe bei einem SPD-Kanzler ausgefallen wäre. Ich denke, jeder der ein Vermögen über 10 Millionen Euro hat, kann mindestens die Hälfte davon abgeben. Er ist dann immer noch reich genug. Und wir können noch einmal von vorne anfangen. Jedes Kind erhält gleich viel Geld und los geht’s. Und falls die aktuellen Gewinner das doof finden, denken wir uns einfach ein ganz neues Spiel aus. Wer nicht mitspielen will, darf in die Schweiz und kann dort seine buntbedruckten Papierbündel und wertlosen Aktienpakete bewachen. 

Freitag, 23. September 2011

Ein Kiez im Jenseits

Friedhof Grunewald-Forst
 
Wer der idyllischen Havelchaussee durch den Grunewald oder am Ufer des Flusses folgt, erreicht bald das Schildhorn. Die Landzunge ragt weit in die Havel hinein und bietet einen wunderbaren Ausblick über die Gewässer westlich der Hauptstadt. Wer jedoch den außergewöhnlichsten Friedhof Berlins besuchen will, der biegt vorher in den Schildhornweg ein. Nach kurzer Zeit steht man vor dem Eingangstor zum Friedhof Grunewald-Forst.

Ein Friedhof mitten im Wald? Kilometer entfernt von den belebten Straßen der Stadt? Die Geschichte des Ortes ist ungewöhnlich und beginnt im Kaiserreich. Damals weigerten sich die Kirchengemeinden, Selbstmörder auf ihren Friedhöfen beerdigen zu lassen. Sie mussten in ungeweihter Erde bestattet werden. Da in der Bucht der Schildhorn-Halbinsel häufig Wasserleichen angetrieben wurden – darunter viele Selbstmörder, die wegen ungewollter Schwangerschaften oder Spielschulden „ins Wasser gingen“ – legte die Forstbehörde in unmittelbarer Nähe den Friedhof an. Bald sprach sich die Lichtung im Grunewald als Bestattungsort herum, Angehörige von Selbstmördern baten um eine Grabstelle, mancher Lebensmüde tötete sich gleich vor Ort, um den Hinterbliebenen die Mühe demütigender Amtsgänge zu ersparen. 

Der seit 1878/79 genutzte Friedhof hat heute eine ordentliche Friedhofsmauer, ein rustikales Eingangsportal und eine Leichenhalle. Beim Spaziergang durch die Reihen fallen viele Grabsteine ins Auge. Da sind die kyrillischen Kreuze einiger russischer Offiziere, die gemeinsam den Freitod wählten, als sie 1918 von der Ermordung des Zaren erfuhren. Bis 1927 wurde der Friedhof ausschließlich für die Beerdigung von Selbstmördern genutzt, danach wurde diese Beschränkung aufgehoben. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden hier zivile Opfer in Einzelgräbern und einem Sammelgrab bestattet. Der Berliner Heimatforscher und Ehrenbürger Willi Wohlberedt wurde hier auf eigenen Wunsch beerdigt. Die Gräber der Kleinkinder sind neueren Datums und berühren den Betrachter, auf einem Grabstein ist ein Teddybär eingemeiselt.

Ganz versteckt in einer Ecke findet sich der heimliche Höhepunkt des Rundgangs. Das Grab von Christa Päffgen wird sehr oft von Fans aus aller Welt besucht. Eine Rotweinflasche mit einer Rose im Hals, Kerzen, Briefe – die letzte Ruhestätte der Sängerin und Schauspielerin erinnert an Jim Morrisons Grab in Paris. Bekannt wurde sie unter dem Namen „Nico“ als Sängerin der Band „The Velvet Underground“ und als Muse von Andy Warhol. Sie drehte mit Federico Fellini „La Dolce Vita“, Bob Dylan produzierte ihre erste Single. Sie kannte alle Größen des damaligen Rockuniversums, ihre Musik beeinflusste Bands wie Joy Division und später die Gothic-Szene. Sie starb, wenige Monate vor ihrem fünfzigstem Geburtstag, 1988 auf Ibiza. Auf dem Friedhof Grunewald-Forst ist sie gemeinsam mit ihrer Mutter beerdigt.
 

Erreichbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln: Bus 218 (ab Messedamm/ZOB/ICC), Haltestellen: Schildhorn (direkt an der Havel) oder Havelweg (näher am Friedhof).


Dienstag, 13. September 2011

Wahlergebnis


Die Medien werden fünf Tage vor der Berliner Wahl auf ein interessantes Phänomen aufmerksam: Focus und Stern berichten von der neuen Kraft, in einer Umfrage der Berliner Mottenpost (Springer!) werden sie mit 27 Prozent stärkste Partei. Wem die Künast-Grünen zu spießig und wem die Linken zu ostig sind, wer seine Stimme nicht ungültig machen oder einer Splitterpartei wie der FDP geben will (wo sie laut Westerwelle im Gulli landet – der Spruch ist allerdings von 2009), der hat als nichtbürgerlicher Demokrat plötzlich eine Alternative: Die Piraten. Kostenloser Nahverkehr, bedingungsloses Grundeinkommen, freie Wahl der Rauschmittel – da opfere ich als Autor auch gerne mein Urheberrecht, denn auf dieser Basis kann ich in meinem Kiez überleben. Da hilft auch nicht das Totschlagargument des Establishments, alle politischen Themen seien doch schon besetzt. Klar! Na und? Das waren sie sicher auch schon vor 200 Jahren, da hätte man die olle Tante SPD erst gar nicht gründen brauchen.

In den Achtzigern und Neunzigern habe ich die Grünen gewählt, in den Nuller Jahren die Linken – genutzt hat es nüscht. Bekommen habe ich Hartz IV und deutsche Kriegsverbrechen, das Ende des sozialen Wohnungsbaus und die massive Verdrängung der Innenstadtbevölkerung durch eine Handvoll renditegeiler Kapitalisten. Über dem Hauptquartier des Kiezschreibers weht jetzt die schwarze Flagge mit dem bleichen Schädel eines Immobilienhais und den gekreuzten Knochen eines Rechtsanwalts und eines Baustadtrats. Ich habe Briefwahl gemacht und die Unterlagen bereits in den Briefkasten geworfen – jetzt warte ich auf den Sonntag. Mögen die neuen Abgeordneten der Piratenpartei eine Reißzwecke im Arsch des gelangweilten Mandarins Wowereit sein!  

Montag, 12. September 2011

Reiseziel Brunnenviertel

Reiseziel Brunnenviertel – das ist das Thema des neuen Kiezmagazins „brunnen ¼", das seit heute überall im Brunnenviertel kostenlos zu haben ist. Als Redakteur des Magazins ist es meine letzte Ausgabe, meine Zeit als Kiezschreiber neigt sich dem Ende zu. Hier noch ein weiterer Tipp für einen Spaziergang im Kiez:
Gartenplatz
Es ist ein kühler Morgen und dennoch haben sich bereits tausende Menschen an diesem Ort versammelt. Männer und Frauen, Angehörige aller Stände warten auf das große Ereignis. Die Straßen sind voll, die Menschen lehnen sich neugierig und erwartungsvoll aus ihren Fenstern. Fliegende Händler verkaufen Branntwein und kleine Leckereien. Soldaten des Königs bahnen sich an diesem 2.März 1837 einen Weg durch die Menge, um die Verurteilte zum Richtplatz zu führen. Die Hinrichtungsstätte der preußischen Hauptstadt besteht aus einem zwei Meter hohen quadratischen Steinkubus, auf den eine Treppe führt. Auf diesem Fundament steht der dreifüßige Galgen, an dem das Urteil vollstreckt werden soll. Im Volksmund wird er »Schindberg« oder »Teufels Lustgarten« genannt.
Der Scharfrichter wartet schon. Er hat es nicht weit, denn er wohnt in der Scharfrichterei, die unmittelbar neben dem Gerichtsplatz liegt. Hier wohnen die Henker und Scharfrichter, zwischen den Hinrichtungen ist die Abdeckerei, die Beseitigung von Tierleichen, ihr alltägliches Geschäft. Endlich wird die Witwe Meyer, die sich durch Gattenmord eigenhändig in den Witwenstand befördert hat, zum Galgen geführt. Die Menge johlt und schreit. Es ist die letzte öffentliche Hinrichtung in Berlin. Was eine abschreckende Wirkung auf Preußens Untertanen haben sollte, ist längst zu einem Volksfest verkommen. Bis in die späte Nacht wird gefeiert, zehn Tage lässt man ihren Leichnam von Schaulustigen begaffen.
Wer heute den Gartenplatz in Berlin-Mitte aufsucht, findet eine friedliche grüne Oase mit Kinderspielplatz und Parkbänken vor. Dort, wo zahllose Menschen gerädert und geköpft, aufgehängt und verbrannt wurden, erhebt sich die katholische Kirche St. Sebastian, 1890 bis 1893 erbaut, majestätisch in den Himmel. Die „alte Scharfrichterei“ musste dem Stettiner Bahnhof, dem heutigen Nordbahnhof, weichen. Nur wenige Schritte vom Gartenplatz entfernt ist übrigens die Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße. Ein bedrückender Ort der Erinnerung, der in keiner Berlin-Tour fehlen sollte. Falls Sie Ihren Besuch um Mitternacht machen, gehen Sie ruhig zur alten Richtstätte auf dem Gartenplatz. Mit ein wenig Glück können Sie durch die Kirchenfenster ein Licht sehen, das unruhig flackert. Es ist die alte Witwe Meyer, die in der Gruft unter der Kirche keine Ruhe findet. Der Ort ihres schaurigen Ablebens hat sich seither so verändert, dass sie mit einer Laterne ihre Grabstätte sucht.
Erreichbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln: S-Bahn: S 1, S 2, S 25 (Haltestelle: Nordbahnhof)), U-Bahn: U 8 ( Haltestelle Voltastraße), Tram: M 10 (Haltestelle: Gedenkstätte Berliner Mauer), Bus 247(Haltestelle: Gartenplatz)

Donnerstag, 25. August 2011

Vor der Wahl

Wenn wir in Berlin oder anderswo eine politische Wahl haben, dann geht es für uns Wähler nicht ins KaDeWE, sondern zu Kik. Wir müssen uns mit dem Sortiment zufrieden geben, das uns angeboten wird. Viel ist es nicht. Was wähle ich denn dieses Mal? Das Herz schlägt links, der Verstand hat längst resigniert. Schließlich warte ich seit 30 Jahren darauf, dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen zerbricht. Die Linken? Waren gerade zwei Legislaturperioden an der Macht, gemerkt habe ich nix. SPD und Grüne gehören politisch zur Mitte, wie ihre Kollegen von der CDU und der FDP. Die „Partei für Soziale Gerechtigkeit“ (PSG)? Immerhin sprechen sie in einem Fernsehwerbespot von Revolution. Hoffentlich nicht wieder nur so ein Wahlkampfversprechen. Auf ihrer Homepage werben sie für das Recht auf Arbeit – finde ich nicht gut. Andererseits setzen sie sich für den anstrengungslosen Wohlstand eines allgemeinen und bedingungslosen Grundeinkommens ein, mit dem ich seit Jahr und Tag liebäugele. Ich habe allerdings keine Ahnung, was die „IV. Internationale“ sein soll. Da habe ich wohl die ersten drei Teile verpasst. Gibt’s bestimmt bald als DVD in der praktischen Geschenkbox, so wie Matrix. Die Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands (APPD)? Hat sich gerade ganz humorlos gespalten –typisch links. Die DKP? Die war schon in meiner Kindheit extrem uncool. Ist „Die Partei“ der Titanic-Redaktion eine echte linke Alternative? Oder wähle ich damit nicht den Zynismus? Die Piratenpartei erscheint auf den ersten Blick sympathisch, will aber meinen Urheberrechten als Autor ans Leder. Wie das endet, kenne ich von den Kollegen aus der Musikbranche. Ich könnte natürlich auch in den Kreis, in dem ein Kreuz platziert werden soll, ein Anarcho-A reinmalen. Oder ich lass den Wahlzettel heimlich in der Hosentasche verschwinden und stecke ein Gedicht in den Umschlag. Wahl ist Qual. Heißt wählen aber umgekehrt nicht auch quälen? Nur mal so ein Gedanke: Wenn wir jetzt einfach alle die „Bürgerrechtsbewegung Solidarität“ wählen? Da wäre echt was los. Die wollen den Kapitalismus abschaffen, aber die D-Mark wieder einführen. „Globale Zusammenbruchskrise außer Kontrolle“, heißt es auf der entsprechenden Homepage. Sie planen schwimmende Atomkraftwerke, mit denen das Meerwasser entsalzt werden soll. Damit verhindert man künftige Kriege um Trinkwasser. Ferner setzt sich diese Partei für einen Tunnel ein, der Sibirien und Alaska miteinander verbinden soll. Solche ungewöhnlichen Beispiele für politische Kreativität suche ich in den Parteiprogrammen des Establishments vergeblich. Und der Klimawandel sei im übrigen ein groß angelegter Schwindel der Ökologiebewegung, um an die Macht zu kommen. Das Wetter ist nämlich gar nicht so schlecht! Ich sage ja: Wir stehen im Kik und sollen uns was aussuchen. Danke für nichts.

Samstag, 20. August 2011

Parerga und Paralipomena


Mein genetischer Auftrag heißt: Leben. Von Arbeit hat keiner was gesagt.

Altern Atome eigentlich? Oder leben die kleinen Biester ewig?

„Sackhaar“ ist kein schöner Nachname

Während Herr S. mir eine Geschichte erzählt, beobachte ich fasziniert, wie ein grünes geflügeltes Insekt seinen Kragen entlang läuft, unbemerkt seine Gesichtsbacke überquert und dann in sein Ohr kriecht – was zu hektischen Zuckungen und Kratzbewegungen seitens des Herrn S. führt.

Die Antworten, die man sich selbst gibt, sind die wertvollsten.

Seit unser Bewusstsein gelernt hat, durch die Zeit zu reisen, springen wir permanent weg aus der Gegenwart.

In dieser Stadt sollte ein Jahr lang alles umgekehrt sein: Die Putzfrau, die nur albanisch und kein Wort deutsch versteht, wird Bürgermeisterin; der alte Bürgermeister hält mit seiner Harke die Parks sauber.

Wir werden gentechnisch veränderte Schmetterlinge entwickeln, die sich von unserem Müll ernähren. Die Zukunft wird schön.

Thema: Hemden. Warum wollen Holzfäller eigentlich immer aussehen wie Grunge-Musiker oder Lesben?

Er stammte aus einem entzückenden kleinen Resistenzstädtchen in der rheinischen Provinz.

Ein graues Haar
Ist wunderbar.
Auch tausend Stück
Sind noch ein Glück.
Dann bist du weiß –
So ein Scheiß!

Mittwoch, 20. Juli 2011

Warum sollen die Schwaben sterben?

In den letzten Wochen haben Graffiti wie „Tötet Schwaben“ und „Yuppies abschlachten“ für Bestürzung gesorgt. Was ist los im Prenzlauer Berg? Schlägt der Zorn bald in Gewalt um? Es gibt m.E. zwei Gründe für die Wut, mit der die Gentrifizierung der ehemaligen Ost-Berliner Innenstadt (Ur-Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain) begleitet wird. Zum einen ist es die Konkurrenz zwischen „Alt-Zugereisten“ und „Neu-Zugereisten“: Der typische „Alt-Zugereiste“ kommt aus den westdeutschen Bundesländern, er hat bewusst die Provinz mit der Großstadt vertauscht und hat bestimmte Erwartungen an das Metropolenleben. Der „Neu-Zugereiste“ aus der (wiederum überwiegend westdeutschen) Provinz bedroht die vom „Alt-Zugereisten“ mühsam erworbene Distinktion zwischen altem Landleben und neuem Stadtleben. Der „Neu-Zugereiste“ schleppt quasi den Dreck aus der Provinz in den edlen Salon der selbsternannten Bohème. Die Provinz, der man entflohen ist, rückt mit jedem neuen Möbelwagen, der seinen Ikea-Plunder auf den Bürgersteig ergießt, wieder näher. Niemand personifiziert diese Angst vor dem Rollback des Provinzlebens mehr als der Schwabe, weil er mit seinen angeblichen Eigenschaften als Prototyp des deutschen Spießers gilt: geizig und ehrgeizig, ordnungsliebend und gesetzestreu. Hier kommen wir zum zweiten Punkt für die antischwäbischen Ressentiments: Viele der „Alt-Zugereisten“ sind Linksalternative, Linksautonome oder Linksradikale. Ein echter Linker braucht aber ein repressives Milieu, einen Gegner, an dem er sich als Opfer von Ausbeutung, Unterdrückung, sozialer Ungerechtigkeit etc. abarbeiten kann. Ein solches repressives Milieu lässt sich leicht schaffen, in dem man nicht nur den Staat und die Wirtschaft zum Feindbild erklärt, sondern auch eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, die sich durch ihren schrecklichen Dialekt und ihre merkwürdigen Essgewohnheiten sehr leicht identifizieren und isolieren lässt. „Der Schwabe“ wird zum Feind um die Ecke, wenn der große Satan mit seinen Wasserwerfern und Luxuslimousinen sich mal wieder nicht im Kiez blicken lässt. Darüber hinaus ist die Debatte für mich ein Zeichen, dass die Dynamik, mit der die Innenstadtbevölkerung ausgetauscht wird, für viele Bewohner die Schmerzgrenze erreicht hat. Knapp 150.000 Menschen sind im vergangenen Jahr nach Berlin gezogen, etwas weniger haben die Stadt wieder verlassen. Dazu die zentrifugalen Verdrängungsprozesse innerhalb der Stadt, in deren Folge die Unterschicht aus dem Zentrum in die Peripherie abgeschoben wird. Der Zorn der Graffiti-Sprayer und ihrer Sympathisanten ist ein Symptom dieser Entwicklung, deren Tempo viele Berliner schlicht überfordert.

Montag, 11. Juli 2011

Sindelfingen ist schlimmer als Vietnam

Eigentlich ist die Gentrifizierung ein Kompliment für Menschen wie mich. Wegen kreativer Köpfe wie mir, so lese ich allenthalben, ziehen irgendwelche Schwaben aus der Provinz nach Berlin und geben eine Mörderkohle für schicke Eigentumswohnungen aus. Sie haben ja auch Recht: Was für eine Stadt! Da gibt es Schriftsteller und Kunstmaler, Musiker und Schauspieler. Alle unter dreißig wollen was mit Medien machen, alle über dreißig haben demnächst eine Vernissage in New York oder machen eine Lesereise für das Goethe-Institut. Total aufregend, wie man nicht müde wird, nach hause zu mailen. Aber dann scheint man irgendwann genug von seinem neuen Berlin-Dasein zu haben, die postmaterielle Metropolenexistenz bekommt erste Risse und spätestens mit den Kindern kommen die erlernten Verhaltensmuster der Vergangenheit – finsterster Schwarzwald mit Kehrwoche und gesetzlich garantierter Nachtruhe – wieder zum Vorschein. Dann müssen im Prenzlauer Berg die angesagten Clubs ihre Türen für immer schließen. Sie waren zu laut. Wer hätte das vor zehn Jahren gedacht? Dann kotzt einen der anstrengungslose Wohlstand des Studentenpärchens in der Nachbarwohnung an oder die spätrömische Dekadenz einer Partygesellschaft, die im Haus gegenüber bis in die frühen Morgenstunden lacht und tanzt. Graffiti sind kein Ausdruck von künstlerischer Freiheit, sondern eine akute Wertminderung der eigenen Immobilieninvestition. Man will die ganzen Typen nicht mehr sehen, die ihren No-Name-Dreck bei Aldi kaufen. Man will auch Aldi nicht mehr, aber alle fünf Meter muss die Grundversorgung des Neubürgers mit Latte macchiato und Sechskornbrötchen durch Neueröffnungen von Geschäften gesichert werden. Schließlich hat man mal so ein Buch von einem dieser sogenannten Schriftsteller gelesen. War gar nicht so doll. Und der Autor hat nach Schnaps gestunken – auch Intellektuelle sollten mal über Hygiene nachdenken. Die Bilder auf der Ausstellung letztes Jahr – jetzt mal im Ernst: Wer kauft so einen Scheiß? Eines Tages sind dann die Zugereisten unter sich. Der Hölle im eigenen Kopf entkommt niemand, Sindelfingen ist schlimmer als Vietnam.

Mittwoch, 29. Juni 2011

Bimbes für Hellas

Fassen wir mal zusammen: Der deutsche Steuerzahler blecht für die griechischen Staatsschulden in der Größenordnung einer schönen allgemeinen Einkommensteuersenkung. Das Geld bekommen aber eigentlich nicht die Griechen, sondern die Leute, bei denen die Griechen Schulden haben. Der durchschnittliche Deutsche hat nix davon und der durchschnittliche Grieche bekommt sogar Gehaltskürzungen plus Steuererhöhungen aufgebrummt. Wo landet also das ganze Geld? Bei den Banken. Die bekanntlich die Ursache der gesamten Wirtschafts- und Finanzkrise seit drei Jahren sind. Nicht bei den Leuten, die das Geld gleich in den nächsten Laden tragen und die guten alten Wertschöpfungsketten so richtig in Schwung bringen, sondern bei den Leuten, die mit dem Geld die Rohstoff- und Lebensmittelpreise spekulativ in die Höhe treiben, landen die mühsam erarbeiteten Milliarden. Also jetzt mal im Ernst: Wie lange schauen wir uns dieses destruktive Spektakel einer durchgedrehten Kaste von Zockern noch an und wann verstaatlichen wir endlich das Finanzsystem?

Informationen zum Berufsbild des Autors, Teil 2

Was sich auf dem Schreibtisch eines Autors typischerweise befindet:

Ein Kochlöffel, der mir als Rückenkratzer dient

Ein Modell des Millenium-Falken aus Star Wars

Ein klobiges schwarzes Riesenhandy mit Schnur

Ein sogenannter Ghetto-Blaster

Ein Ablagekorb, der vor zehn Jahren mal ein System hatte – jetzt schlicht voll

Eine leere Heinz Baked Beans-Dose, in der Bleistifte und Kugelschreiber aus mehreren Epochen und Hotelzimmern zueinander gefunden haben

Ein Notizheft

Zahnstocher

Eine Schere

Ein Locher, obwohl mir das Lochen längst vergangen ist

Noch mehr Stifte, teilweise leer

Ein Flaschenöffner und ein Korkenzieher

Eine kleine flache Vase voller Büroklammern

Ein Notebook

Ephemere Erscheinungen wie Notizzettel, Rechnungen, Ansichtskarten und Korken

P.S.: Mein Schreibtisch hat keine Schubladen. Das diszipliniert unheimlich.

Dienstag, 28. Juni 2011

Informationen zum Berufsbild des Autors

Oft werde ich gefragt, ob die Arbeit als Autor nicht eine sehr einsame sei. Entsprechende Anfragen aus den Redaktionen des In- und Auslandes beantworte ich gewöhnlich mit einer Liste meiner Mitarbeiter:

Mundschenk (zuständig für geistige Getränke und liquide Erfrischungen aller Art)

Bauknecht (zuständig für stimulierende Inhalate, siehe auch: Alphorn-Rauchen)

Vier hawaiianische Mönche, die in ihrem Kräutergarten die Stimulanzien anbauen

Ein Schallplattenunterhalter, der für die musikalische Untermalung meines Kunstschaffens sorgt

Zwei nubische Prinzessinnen, die mich geißeln, wenn mir 15 Minuten nichts Geniales einfällt

Ein Koch für die Hauptmahlzeiten

Zwei Köche für die Zwischenmahlzeiten

Vier Gravitationsassistenten, die meine Sänfte tragen und ganz grundsätzlich verhindern, dass ich dem Erdmittelpunkt entgegen stürze

Terminverhinderer (je geringer die Anzahl meiner Termine, desto höher ist sein Lohn)

Taoistischer Priester, der die spirituelle Reinheit und Harmonie meiner Arbeitsumgebung sichert

Audio-Editor (der meine mündlichen Ergüsse aufzeichnet)

Botschafter (Kontakt zum Verlag und zur Presse)

Archivar (hütet alle Aufzeichnungen seit den ersten Kinderkritzeleien)

Laudator (lobpreiset meine intellektuellen Ausdünstungen von früh bis spät)

Lordsiegelbewahrer (auch für meinen Hausschlüssel zuständig)

Schatzmeister (Hüter der legendären Smaragdgruft)

Generalorganisator (zuständig fürs Personal und die Sicherheit des Wohnturms, in dem ich an einem großen Roman arbeite, der dem faschistoiden Finanzimperialismus die Maske von der leprösen Fratze reißen wird – in fünf oder zehn Jahren)

Best Boy („Mädchen für alles“, sorgt für ein gepflegtes Wohnambiente und geht für mich einkaufen)

Donnerstag, 16. Juni 2011

Das liebe Geld

„Kohle, Zaster, Moneten, Knete, Mäuse, Penunzen, Kies, Schotter, Moos, Groschen, Taler, Bares, Cash, Kröten, Asche, Money, Mammon, Blüten, Peanuts“ heißt es in einem Wörterbuch, man kann es auch als Euro, Dollar, Yen usw. oder schlicht als Zahlungsmittel bezeichnen. Die Rede ist von Geld. Ich glaube, für Geld haben wir im Deutschen mehr Worte als die Eskimos für Schnee.

Werbewahnwitz

Soll ich es „Fundstück der Woche“ nennen? Oder ist es schlicht ein winziges Puzzlestück des Wahnsinns, in dem wir uns längst behaglich eingerichtet haben? Zu danken habe ich aber zunächst den Initiatoren der Internetseite „Schlaglochpate.de“, die wunderbarerweise den Berliner Finanzsenator Nussbaum im Winter 2010 inspiriert haben, zahlungskräftige Paten für tausende Schlaglöcher in der Hauptstadt zu finden. Warum, so fragen wir uns seitdem alle, können wir nicht einfach eine Patenschaft für ein Schlagloch übernehmen? Der Lohn ist uns gewiss: die tiefempfundene und immerwährende Anerkennung der Verkehrsteilnehmer. Außerdem dürfen wir ein Werbelogo unseres Unternehmens auf dem selbstfinanzierten Asphalt anbringen, mit dem das Loch gestopft wird. Kurz und gut: Es handelt sich bei jedem Schlagloch dieser Republik um eine „perfekte Werbeplattform“, wie man uns auf der oben genannten Internetseite vollmundig verspricht. Zudem entlasten wir auf diese Weise den Staat, der mit unseren Steuergeldern gerade in Athen die gröbsten Löcher stopfen muss. Es erinnert mich ein bisschen an Tom Sawyer, der von einem anderen Kind (namens Ben Rogers) einen Apfel will, damit es auch mal den Zaun anstreichen darf. Für wie blöd hält uns die Reklameindustrie eigentlich? Mein alter Freund und Kupferstecher Dirk Bockius hat neulich folgende Werbung für Rasensprenger entdeckt: "Verbraucht 30 Prozent weniger Wasser!" Denken die Werbefuzzis wirklich, dass ihre Verblödungsstrategie inzwischen aufgegangen ist? Sind wir so bescheuert? Eine Bank wirbt mit zweistelligenTraumrenditen für ihre Fonds, im Kleingedruckten wird als Referenzrahmen der Zeitraum „1975 bis 2000“ angegeben. Auf der Seite von „Schlaglochpate.de“ hat sich übrigens bisher noch kein einziger Pate eingefunden. Es besteht also noch Hoffnung.

Freitag, 10. Juni 2011

Die traurigen Kinder des Mauerparks

Wie man hört, soll die „Bürgerwerkstatt Mauerpark“ die letzte Ölung erhalten haben, weil die SPD im Senat keine neuen Fördermittel beschaffen konnte. Ist das notwendig? Muss sich die Bürgerwerkstatt auflösen? Müssen wirklich erst 200.000 Euro überwiesen werden, damit Bürger sich für den Mauerpark interessieren und engagieren? Warum arbeitet die Bürgerwerkstatt nicht einfach ehrenamtlich und ohne staatliche Alimentierung weiter wie all die anderen Bürgerinitiativen und Gruppen auch? Wieso braucht ein gutes Dutzend interessierter Bürger überhaupt so ein sündhaft teures Moderatorenteam und einen so üppig bezahlten Planungsapparat wie die Grün Berlin GmbH? Die Werkstattmitglieder könnten sich kostenlos in einem öffentlichen Gebäude (z.B. Schule oder Jugendzentrum) oder einem Gasthaus treffen, um zu diskutieren. Die „Kieze im Dialog“ als Bürgerwerkstattfortsetzung hat sich doch schon einmal auf dem Kinderbauernhof im Mauerpark getroffen - ohne Catering auf Steuerzahlers Kosten. Da bringt man sich eben seine Stulle und seine Thermoskanne Kaffee selbst mit, ist doch kein Problem. Papier und Stifte sind auch privat finanzierbar - und schon kann es mit der Planung weitergehen. Die Aktiven der Bürgerwerkstatt sind erfahren genug in diesen Dingen, sie müssen nicht warten, bis Vati Stadt sie an die Hand nimmt wie unmündige Kinder. Die Werkstatt sollte lernen, sich selbst zu organisieren. Die Passivität und die Anspruchsmentalität, mit der man jetzt Subventionen „von oben“ abwartet, ohne die angeblich die weiteren Gespräche eines Häufleins Bürger unmöglich sind, empfinde ich als peinlich und unreif. Macht euren Plan und kämpft dafür! Stattdessen wird die ganze Energie der Werkstatt für Arien des Selbstmitleids verschwendet. Statt rumzujammern wie ein altes Waschweib, würde ich die Energie lieber in die weitere Arbeit für den Park stecken.

Dienstag, 31. Mai 2011

Was mir neulich einmal aufgefallen ist

Warum haben die Kassiererinnen von Aldi eigentlich immer diese perfekt manikürten Fingernägel? Oft sind es ältere Frauen mit zweifelhaften Frisuren, die in den unternehmenstypischen hässlichen dunkelblauen Kitteln an der Kasse sitzen. Die Gesichter sind müde und leer, aber ihre gepflegten Nägel leuchten in ihrer Farbenpracht und Formenvielfalt, als wäre der Billigdiscounter eine Casting-Show. Was treibt diese Frauen an? Ist es ein stiller und verzweifelter Kampf um so etwas wie Würde? Wie Labormäuse müssen sie in Windeseile ihre Arbeit verrichten. Fliegende Hände, die den endlosen Warenwurm an einem Laserstrahl vorbeiziehen; Hände, die von tausend fremden Augen beobachtet werden. Oder ist es der Stolz der Arbeiterin, die mit ihrem prächtigen Nagelschmuck auf die starken Hände verweist, mit denen sie ihr tägliches Industriebrot verdient? So wie Matrosen sich früher den Bizeps tätowieren ließen? Wenn man sie fragen würde, wüssten sie die Antwort nicht.

Freitag, 20. Mai 2011

Freitag auf der Schönhauser

Freitag ab 14 Uhr, wenn die Frauen mit den Zwillingskinderwägen und die Japaner schon wieder weg sind, kommen die Vorstadtboys auf die Schönhauser Allee, in Weiß gekleidet (die Farbe der Kapitulation und der geknechteten Massen), Lehre als Maler oder Gas-Wasser-Scheiße, nach Feierabend schön geduscht und dann mit AXE-Duft die Bürgersteige bevölkern, Sprüche klopfen, Bier saufen, die Flaschen zwischen den parkenden Autos zerschmeissen, Leute mit schwarzen Klamotten als linke Zecke beschimpfen, irgendwann wird es dunkel, sie ziehen durch die Kneipen, testosterongesteuerte Gespräche, in der U-Bahn auf dem Weg nach Hause noch ein paar Touris erschrecken, die letzte Zigarette an der Endstation mit den Jungs.

Montag, 16. Mai 2011

200000

Dieser Tage hat die SPD im Berliner Abgeordnetenhaus ernsthaft zweihunderttausend Euro beantragt, um die Arbeit der „Bürgerwerkstatt Mauerpark-Fertigstellung“ weiterzuführen. Zweihunderttausend Euro? Bei uns im Brunnenviertel werden im Sommer das einzige Gymnasium und die einzige öffentliche Kinder- und Jugendbibliothek geschlossen, das Gebäude wird abgerissen. Und für eine Plauderrunde, der nach Austritt zahlreicher Bürgerinitiativen und Bürger längst die gesellschaftliche Legitimität abhanden gekommen ist, werden in einer Pleite-Kommune wie Berlin sechsstellige Summen durch den Schornstein geblasen? Was soll eigentlich noch Gegenstand der Werkstattgespräche sein, wenn die Grundlagen – jener ominöse Bebauungsplan von Herrn Gothe und das Einverständnis des Grundstückseigentümers – inzwischen weggefallen sind? Die bisherige Arbeit der Werkstatt bezieht sich ja explizit auf den Kompromiss „Baurecht gegen Parkfläche“, der jedoch - spätestens nach Präsentation der prämierten Entwürfe im städtebaulichen Wettbewerb - für die Bürger (in der Werkstatt und im formalen Beteiligungsverfahren) nicht akzeptabel war. Es ist nicht nur ein sinnloser und teurer Vorschlag, der von der SPD gemacht wurde – er ist mir auch von den Zahlen her überhaupt nicht eingängig. Was soll an der Fortführung der Bürgerwerkstatt denn so kostspielig sein? Es sind nur drei weitere Veranstaltungen geplant: zwei Werkstattrunden (17. Mai und 8. Juni 2011) und eine öffentliche Präsentation der Ergebnisse am 27. Juni 2011 (Quelle: Mail von Moderator Seebauer an alle Werkstattmitglieder vom 31. März 2011). Bezahlt werden müssen das Moderationsteam und Professor Lange, dazu ein paar belegte Brötchen und Mineralwasser. Ich habe selbst zehn Jahre Veranstaltungen (wissenschaftliche Tagungen und Workshops) geplant und durchgeführt, daher kenne ich die ungefähren Kosten ganz gut. Wozu braucht man soviel Geld? Wo fließt das hin? Welche Seilschaften werden mit zweihunderttausend Euro alimentiert, wenn die tatsächliche Veranstaltungsreihe nicht mal ein Zehntel kosten dürfte? Es wäre sicher sinnvoller, das Geld erst nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus im September in die Bürgerbeteiligung – ob in Form einer „Werkstatt“ oder wie auch immer – zu investieren. Ich bin jedenfalls am 15. Mai aus der Bürgerwerkstatt ausgetreten. Für derlei absurdes Theater fehlt mir jegliches Verständnis. Und mein Kreuzchen mache ich im September bei einer Partei, die verantwortlich mit meinem Steuergeld umgehen kann.

Montag, 21. März 2011

Des Pudels Kern

Früher bedeutete Arbeit Aufstieg, jetzt ist sie ein Kampf gegen den Abstieg geworden. Seit zwanzig Jahren bewegen wir uns beim Einkommen auf der Stelle. Während in anderen Ländern Wirtschaftswachstum auch zu Wohlstandswachstum führt, begnügen wir uns mit den knochentrockenen Zahlen aus dem Wirtschaftsministerium, die uns jährliches Wachstum vorgaukeln. Vielleicht haben viele deshalb den Spaß an der Arbeit verloren, vielleicht ist das einer der Gründe für die Verbitterung vieler Deutscher? In den ersten vierzig Jahren verbanden sich in der Bundesrepublik Demokratie, Arbeitsleistung und wachsender Wohlstand miteinander. Wohlverhalten in Politik und Wirtschaft wurde also belohnt. Dieser Zusammenhang von Verhalten und Belohnung ist seit zwanzig Jahren zerbrochen. Inzwischen hat es auch der Dümmste gemerkt, dass es nicht mehr Netto vom Brutto gibt. Es geht allenfalls seitwärts, bei kollektiven und individuellen Fehltritten auch sehr schnell abwärts (Insolvenz, Hartz IV). Ist das des Wutbürgers Kern? Und was macht der Wutbürger, wenn dereinst jemand kommt und ihm die lang ersehnte Belohnung verspricht?


Samstag, 19. März 2011

Der Mauerpark als Stummfilm


Manchmal schalte ich beim Fernsehen den Ton aus, denn oft wirkt die Sendung ohne Stimmen, Geräusche und Hintergrundmusik ganz anders. Eine sehr aufschlussreiche Erfahrung, weil unsere Aufmerksamkeit auf Mimik, Gestik oder den Abendhimmel über einer fernen Stadt gelenkt wird. Auch wenn man sich mit Berliner Lokalpolitik befasst, hilft es durchaus, wenn man gelegentlich mal den Ton abstellt und sich darauf konzentriert, was tatsächlich passiert. Schnell wird man feststellen, dass in Berlin sehr viel und vor allem sehr aufgeregt geredet wird. Es geht um das Grundsätzliche, das Große, das Epochale, kurz: es geht um alles - auch wenn es nur um die Schließung eines Postamts geht.


Der Mauerpark ist das beste Beispiel. Gerade haben sich die Stadtindianer, das linksalternativ angehauchte Prärievolk aus dem Prenzlauer Berg, mit der US-Kavallerie unter dem Befehl von General Gothe eine wortreiche und langwierige Redeschlacht in Sachen Bebauung oder nicht geliefert. Nun sind alle Beteiligten erschöpft. Die Vivico hat sich enttäuscht und schmollend in ihr Fort zurückgezogen und beklagt die entstandenen schmerzlichen Verluste (400.000 Ocken, die dem Konzern beim nächsten Jahresgewinn fehlen werden - die Bebauungskritiker sollten sich schämen!). Ein müder und kraftloser Baustadtrat verschiebt die Entscheidung auf das nächste Jahr. Die Bürgerinitiativen, geteilt in verschiedene Stämme mit unterschiedlichen Sitten und Gebräuchen, wirken nach der Auseinandersetzung geradezu konsenssüchtig und wollen sich alle wieder lieb haben. Nach dem Schlachtgetümmel ist überall Ernüchterung eingetreten. Sieger und Verlierer sind nicht auszumachen, nachdem sich der Pulverdampf gelegt hat.


Lassen wir doch den Mauerpark mal als Stummfilm an uns vorüber ziehen. Letztes Jahr um diese Zeit sah er genauso aus wie jetzt. Vorletztes Jahr sah er aus wie letztes Jahr und nächstes Jahr um diese Zeit wird er wieder so aussehen: Flohmarkt und Karaoke, Basketball und Sonnenbad, Mauersegler und Radfahrer. Es ändert sich viel weniger als man denkt. So ist Berlin. Und die Beispiele für diese von lärmender Rhetorik begleitete Lahmarschigkeit sind zahlreich: Bahnhofsviertel in Mitte nicht fertig, Flughafen auch zwanzig Jahre nach der Einheit noch auf Provinzniveau, der Schlossplatz auf der Museumsinsel eine Wiese. Und das ist nur der Bereich Stadtentwicklung. Aber mit seiner großen Schnauze ist der typische Berliner, geblendet vom Glanz seiner angeblichen Wichtigkeit, mindestens auf Weltniveau.


Freitag, 18. März 2011

Berliner Originale

In der Schlange beim Bäcker steht eine Frau hinter mir und klagt mir alsbald ihr Leid. Sie ist Rentnerin und braucht ein künstliches Hüftgelenk. Zuvor müsse sie aber abnehmen, was ihr schwer falle. Der kurze Dialog mündet in ihrem Statement: „Vor 25 Jahren wollte ich vom Balkon springen, jetzt komme ich nicht mehr über die Brüstung.“

Chance verpasst

Guido Westerwelle bezeichnet sich selbst gerne als „Freiheitsstatue dieser Republik“. In der UN-Abstimmung zu Libyen hätte er in dieser Nacht die Chance gehabt, etwas für die Freiheit zu tun. Gerade in dem Land, in dem Hitlers Armee in blutigen Schlachten gegen die Demokratie gekämpft hat, könnten Deutsche nun die Revolutionäre beim Kampf um Freiheit und Menschenrechte unterstützen. Sie tun es nicht. Stattdessen hat sich Deutschland in der Abstimmung feige enthalten, gemeinsam mit Russen und Chinesen. Ein weiteres Armutszeugnis dieser Regierung, das niemand überrascht haben dürfte.

Donnerstag, 17. März 2011

Mut statt Merkelopportunismus

Der erste Schritt ist immer der schwerste. Noch schwerer ist es, den ersten Schritt in einer Gruppe zu machen. Deutschland steht jetzt nicht nur vor der Aufgabe, das atomare Abenteuer zu beenden, sondern als große Industrienation die Möglichkeit eines Lebens nach der Plutoniumsucht zu wagen. Ein mutiger Schritt nach vorne ist gefragt. Und manchmal ist es eben so, dass man sich nicht lange umblicken darf. Natürlich kommen jetzt die Argumente der rückgratlosen Schleimer und Bedenkenträger, der Guttenberg-Facebook-Fangemeinde und der bezahlten Kläffer der Atomindustrie: Die Glühbirnen gehen aus und wir sitzen bei Kerzenschein in der kalten Küche, weil langhaarige Bombenleger uns alle in die kommunistische Steinzeit zurück agitieren und demonstrieren wollen, das alles wird total teuer und wir sind auf diesem Weg ganz alleine. (die Rechten appellieren immer zuerst an die Brieftasche und den drohenden Verlust bürgerlicher Alltagsroutinen, dann an das Herz - schließlich sterben in diesem Augenblick nur irgendwelche Schlitzaugen, Arier erfreuen sich der angeblich sichersten AKW der Welt, drunter haben wir es ja noch nie gemacht)


Erstens mal sind wir nicht alleine, wenn wir den Mut aufbringen, eine technologische Fehlentwicklung zu beenden (so wie in der Vergangenheit politische Fehlentwicklungen wie Sklaverei oder Monarchie beendet wurden). Etliche Nationen sind bereits ausgestiegen. Und zweitens werden uns in Zukunft viele Länder auf diesem Weg folgen - im übrigen, das sei nur zur Beruhigung der hasenherzigen Brieftaschenfraktion gesagt, wird uns genau dieser Schritt als Weltmarktführer im Bereich nachhaltiger Energien ökonomisch voranbringen. Nach Fukushima wird man uns die von den Rechten so oft belächelten und verhöhnten Windräder und Solarzellen aus den Händen reißen.


Die aufgehende Sonne

Wir kennen das Phänomen aus unserem Alltag: Die Leute wissen seit Jahren, das eine bestimmte Straße, eine Kurve sehr gefährlich ist. Sie fordern einen Zebrastreifen oder ein Tempolimit an dieser Stelle, aber nichts passiert. Dann stirbt ein Kind bei einem Unfall an genau dieser Stelle - und plötzlich reagieren die Behörden, der Zebrastreifen wird endlich auf den Asphalt gemalt. Als seien wir immer noch Heiden, müssen wir Opfer bringen. Das Unglück muss offensichtlich erst Wirklichkeit werden, bevor wir unserem Verstand trauen. Das gleiche Phänomen lässt sich jetzt in der Atomkraftdebatte beobachten, nachdem in Japan ein AKW explodiert ist. Immer muss etwas Schreckliches passieren, damit unser Denken die Richtung wechseln kann. Jetzt ist es hoffentlich soweit, die energiepolitische Wende zu schaffen. Weg von der Atomenergie, die - angefangen mit der ersten öffentlichen „Präsentation“ in Hiroshima über Tschernobyl bis zum Endpunkt Fukushima - eine Sackgasse gewesen ist, hin zu den Energiequellen unserer Vorfahren: Wind, Wasser, Sonne. Kombiniert mit modernster Technologie haben wir nicht nur eine gefahrlose Energiequelle (die sich viele Menschen sogar in Form von Solarzellen auf die eigenen Dächer schrauben, während doch selbst die Atomkraftfans nicht in der Nähe der Kraftwerke wohnen wollen), sondern werden im Laufe der Zeit auch unabhängig von russischem Gas und arabischem Öl. Japan wird das Land der aufgehenden Sonne genannt, die rote Morgensonne ist das nationale Symbol. Diese Sonne ist auch das Zeichen einer Wende hin zu den natürlichen Energiequellen. Der Wind gehört niemandem, die Sonne scheint, ohne das wir eine Münze einwerfen müssen. Vielleicht geht uns jetzt ein Licht auf?

Sonntag, 6. März 2011

Zwischen Raufasertapete und Schmirgelpapier

Wenn es um den wichtigsten Unterschied im historischen Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen Ost und West geht, wird vieles ins Feld geführt: Irgendwelche Wirtschafts- und Sozialordnungen, die von unterschiedlichen Bürokratien ausbaldowert wurden, der Stand der Computerspieltechnik, die Zahl siegreicher schnurrbärtiger Speerwerferinnen oder irgendwelche Scheißargumente, die sowieso keiner hören will. Warum der Osten wirklich verloren hat, wurde mir bei meiner ersten Reise hinter den sogenannten „Eisernen Vorhang“ Anfang der Achtziger deutlich. Wir hatten am Grenzübergang Friedrichstraße 25 DM in Ostgeld tauschen müssen und mit dem Spielgeld ging es dann in Kneipen und Restaurants, um es wieder auszugeben. Und irgendwann hast du einfach zu viel gefressen und gesoffen, dann gehst du auf das erste kommunistische Scheißhaus deines Lebens. Was soll ich sagen? Das Klopapier war einfach nicht zum Aushalten, das ging echt gar nicht. Wenn du die Wahl hast zwischen dreilagigen Analzärtlichkeiten im güldenen Westen und dieser Zonenmischung aus Raufasertapete und Schmirgelpapier, dann fällt dir die Entscheidung zwischen zwei Systemen nicht schwer. Und als die Mauer 1989 fiel, war es nur eine Frage der Zeit, bis alle es begriffen hatten. Der Rest ist Geschichte.




Sonntag, 27. Februar 2011

Alles wunderbar in Höhle 65

Dieser unvergessliche Abend gehörte einem Mann allein: Martin Seebauer. Er nennt sich selbst bescheiden Moderator, in Wirklichkeit ist er eine Mischung aus Dompteur und Magier, ein Entertainer der alten Schule, ein Peter Frankenfeld der Stadtentwicklung. Gleich zu Anfang zauberte er zwei Highlights aus dem Hut, die schon zu Beginn für richtig Stimmung im vollbesetzten Saal sorgten. Für die zahlreich angereisten Pressevertreter hatte er den guten alten Maulkorb der preußischen Zensur mitgebracht, das Fotografieren war verboten. Herr Seebauer ließ zu dieser Frage das Publikum abstimmen, eine Mehrheit fand sich für die Pressefreiheit. Das passte dem Moderator aber nicht, also ließ er noch einmal abstimmen. Diesmal nur die Mitglieder der Bürgerwerkstatt, die den Maulkorberlass auch prompt bestätigten. Die Presse knipste dennoch und einige Spaßvögel holten ihre Handys und Fotoapparate heraus, knipsten ebenfalls und riefen lachend “Beweisfoto, Beweisfoto!” Alsdann wandte sich der Moderator mit einem schalkhaften Lächeln den gewählten Volksvertretern zu. Mitglieder der BVV Mitte und der BVV Pankow, andere Politiker - sie alle hatten eine schriftliche Einladung zur öffentlichen Präsentation des abgeschlossenen städtebaulichen Wettbewerbs erhalten. Nun sollte einzeln von der Bürgerwerkstatt darüber abgestimmt werden, ob sie im Saal geduldet wurden. Ein beschämendes, unwürdiges Spektakel, dass die Politik vehement und zu Recht abbrach. Sieht so die Gastfreundschaft der Bürgerwerkstatt aus? Man sollte doch froh sein, dass sich Politik und Presse, dass sich die Öffentlichkeit für den Mauerpark interessiert. Wer auf diese Weise seine Gäste behandelt, wird bald sehr einsam sein. Und diese Umgangsformen zogen sich nahtlos durch die ganze Veranstaltung durch. Zu Wortbeiträgen der Gäste gab es von Seiten der Werkstattmitglieder Kommentare wie “Halt’s Maul!” und “Halt die Fresse!” Offenbar beginnt nun die jakobinische Schlussphase der Werkstattfraktion. Am Ende kam es zu tumultartigen Szenen. Die Beteiligten brüllten sich in einem Tonfall und einer Lautstärke gegenseitig nieder, die selbst für die bisweilen rauen Umgangsformen in der Bürgerwerkstatt einmalig waren. O-Ton eines “Dialogs” zwischen einer etwa fünfzigjährigen Frau und einem gleichaltrigen Mann: “Heul doch!” - “Heul du doch!” Der Verfasser dieser Zeilen hat lange überlegt, wann er zuletzt einer Auseinandersetzung auf diesem argumentativen Niveau und mit diesem Erlebniswert beiwohnen durfte, und erinnerte sich dabei zurück an seine Grundschultage. Es war einfach groß, es hatte die expressionistische Wucht eines frühen Stummfilms. Momente, eines Dostojewski würdig, wenn Menschen schreiend durch den Saal laufen, sich die Haare raufen oder sich mit beiden Händen das Gesicht halten wie auf Edvard Munchs Bild "Der Schrei".

Die gesamte Bürgerwerkstatt war übrigens laut Vorstellung des Verfahrens vom 15.9.2010 auf sieben Veranstaltungen ausgelegt. Die Präsentation des Jury-Entscheids zum städtebaulichen Wettbewerb am 21.2.2011 war die siebte Veranstaltung und damit der Abschluss des Werkstattzyklus. Auf Wunsch einer Mehrheit der Bürgerwerkstatt soll die Arbeit jedoch fortgesetzt werden, Bezirksbaustadtrat Gothe wird vermutlich weitere Gelder zur Verfügung stellen. Das ist nicht selbstverständlich, schließlich muss er das ja nicht. Es zeigt aber, dass Herr Gothe mit der Arbeit der Werkstatt zufrieden ist. Offensichtlich wird hier ganz in seinem Sinne gearbeitet. So spielen die Großen mit den Kleinen.

Wie geht es weiter? Nach den Wahlen zum Abgeordnetenhaus im September wird es eine Entscheidung der BVV Mitte zur Bebauung des Mauerparks geben. Der Senat hat es abgelehnt, über die Änderung des Flächennutzungsplans Einfluss auf das Verfahren zu nehmen und überlässt die Entscheidung dem Bezirk. Herr Gothe hat auf einer BVV-Sitzung gesagt, er rechne in Sachen Baubeginn mit 2012. Was gebaut wird, wissen wir seit der denkwürdigen Sitzung vom 21. Februar. Sämtliche gezeigten Entwürfe, die prämierten und die nicht-prämierten, sehen eine massive Bebauung der westlichen Parkhälfte mit Hochhäusern vor.
P.S.: Sehr aufschlussreich war das Verhalten der Vivico-Gesandten, die in diesem Showprogramm den Grundstückseigentümer aus dem fernen Wien vertraten. Sie schwiegen während der vier Stunden eisern, auf die Bitte zu einem Kommentar ließen sie sich noch nicht einmal zu einem “Nein” herab, sondern schüttelten nur stumm die Köpfe. Erst als der talentierte Mr. Seebauer dem Publikum den Tipp gab, eine konkrete Frage an die Herren von der Zeitsparkasse zu formulieren, gab es einen dürren Hinweis. Man sei Immobilienhändler und könne sich jederzeit auch einen Verkauf des Geländes oder einen Gebietstausch vorstellen. Ein Interesse am Dialog mit den Bürgern sieht anders aus.

Freitag, 25. Februar 2011

+++ breaking news +++

Gaddafi wurde der Doktortitel der Universität Tobruk entzogen, er weigert sich aber immer noch zurückzutreten.

Dienstag, 22. Februar 2011

Nachtrag zum Thema "ehemalige Hoffnungsträger der CSU"

Der Täter ist endlich geständig und erspart uns die würdelose Prozedur des Schuldnachweises in einer eindeutigen Angelegenheit. Nun denken viele, damit sei die Sache ausgestanden. Sie vergessen, dass Guttenbergs Dissertationsversuch auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht. Er hat sich widerrechtlich geistiges Eigentum angeeignet. Er hat die Urheberrechte zahlreicher Autoren verletzt und damit ihr persönliches Recht an ihrem Erzeugnis, in diesem Falle an einem Text. Wo genau ist der Unterschied zum Ladendiebstahl? Für mich als Laie ist klar, das jede Form von Diebstahl Konsequenzen nach sich ziehen muss. Ob ich jetzt im Supermarkt Kartoffeln mitgehen lasse, ein Auto aufbreche, einem Wissenschaftler die Erfindung klaue oder in anderen Ländern billige Plagiate von Originalprodukten herstelle - immer hat die Tat eine strafrechtliche Relevanz und ist eben kein Kavaliersdelikt. Guttenberg hat über hundert Mal geistiges Eigentum gestohlen, er gilt somit als typischer Fall eines Serientäters (immerhin hat er nach eigenen Aussagen sieben Jahre an dieser "Doktorarbeit" geschrieben, er blickt also als Kleinkrimineller durchaus auf eine bewegte Vergangenheit zurück). Interessanterweise sind es an diesem Punkt, wo es doch eigentlich um Privateigentum, um den Schutz des persönlichen Besitzes vor dem Zugriff Fremder geht, gerade die Konservativen, die sich einer kommunistischen Argumentationslinie bedienen: Eigentum ist Diebstahl, alles gehört allen, jeder hat doch schon mal vom anderen einen Text geklaut. Wie groß muss die Not der Rechten sein?! Wer unsere Rechtsordnung und ihren Schutz des Privateigentums ernst nimmt, wird erst nach der Aburteilung des ehemaligen Dr. Guttenberg wirklich zufrieden sein können. Es sind ja schon einige Strafanzeigen gegen ihn gestellt worden - und spätestens mit dem Urteilsspruch endet seine peinliche Zeit als Bundesverteidigungsminister. FJS 1962 lässt grüßen … Eigentlich ist die Causa Guttenberg schon abgehakt, nächster Halt der seit erfreulich langer Zeit andauernden Arschloch-go-home-Tour (Köhler, Koch, Mubarak e tutti quanti): Gaddafi.

Freitag, 18. Februar 2011

Der Lügenbaron

Jetzt ist er endlich in der CSU angekommen: der Liebling der Konservativen, die bajuwarische Wichsvorlage für notgeile Katholiken: “Doktor zu Googleberg” (blick.ch). Machen wir uns nichts vor, die Beweise sind erdrückend, die Promotionsordnung der Universität Bayreuth und die einschlägigen Gerichtsurteile sprechen eine klare Sprache. Der Bundesverteidigungsminister ist mit runtergelassenen Hosen erwischt worden. Er hat gelogen, betrogen und sein Ehrenwort gebrochen. Und alle Welt weiß das. Da helfen auch weitere Ausflüchte und neue Lügengeschichten nicht mehr weiter. Dass “Dr.” Guttenberg überrascht von den Vorwürfen ist, zeigt nur eins: Er wusste wirklich nichts davon, weil er die Dissertation gar nicht selbst geschrieben hat. Was die Sache noch schlimmer macht. Falls es tatsächlich noch Recht und Gesetz in dieser Bananenrepublik geben sollte, werden dem feinen Freiherrn demnächst die akademischen Schulterstücke herunter gerissen. Degradiert hatte er bisher nur seine Mitarbeiter im Verteidigungsministerium - jetzt ist er selbst dran. Aber er passt damit nahtlos in die Parteigeschichte der CSU, die eine Geschichte der Skandale und dreisten Gesetzesbrüche ist. Von der Spiegel-Affäre eines Franz-Josef Strauß bis zur Zerstörung der Bayrischen Landesbank. Er wird ein guter Ministerpräsident von Bayern werden, in die Alpen-Mafia passt er geschmeidig hinein wie ein geklauter Textbaustein. Auf seiner Homepage lobt sich der Lügenbaron selbst ob seiner “Prinzipienfestigkeit und Grundsatztreue”. Wer so das Maul aufreißt und seine hochmoralische Glaubwürdigkeit wie eine Monstranz vor sich her trägt, darf sich dann aber auch nicht erwischen lassen. Aus Berliner Perspektive bleibt zu sagen: Gutti, go home!

Reden und Handeln

Es ist naiver Kinderglaube, wenn man einem wandelnden Betonmischer wie Gothe mit Argumenten kommen möchte. In der Politik geht es nun mal nicht um die besseren Argumente, sondern um Macht, die Macht Dinge verändern zu können. Politische Reden, z.B. im Bundestag oder in Talkshows, sind nur Inszenierungen von Politik. Darum folgt den “Sonntagsreden” ja auch nie eine Tat. Das Reden kann man sich also sparen, das gleiche gilt für Unterschriftensammlungen, Demonstrationszüge und Flugblätter. Das stärkt vielleicht den Zusammenhalt der Gruppe, den politischen Gegner beeindruckt es nicht. Man kann also Gothe nicht ausreden, den Park zu bebauen - man muss es ihm verbieten. Dazu ist die BVV Mitte und das Abgeordnetenhaus Berlin aufgefordert, die Bevölkerung hat dazu eine glasklare Meinung: Keine Bebauung. Und wenn sich der Bürgerwille auf demokratischem und legalem Wege nicht durchsetzen lässt, ist ziviler Ungehorsam die Folge. Dann haben wir im Mauerpark eine Hochsicherheitsbaustelle mit Polizeischutz und Überwachungskameras wie am Stuttgarter Hauptbahnhof.

Donnerstag, 17. Februar 2011

Volksverarschung á la Gothe


Am Anfang hatte man schon eine dunkle Vorahnung, jetzt weiß man wie der Film ausgehen wird. Das Raubtier macht seine Beute und die Schafe flennen im Chor. Es war ein ausgemachtes Spiel, das im vergangenen Jahr von der vivico und Herrn Gothe begonnen wurde. Der Mauerpark soll endlich verwertet werden (von Flohmärkten, Karaoke-Dilettanten und Frisbee-Spielern haben nämlich weder die Unternehmen noch die Steuereintreiber was), die Kapitalfraktion hat Hunger bekommen und die SPD ist traditionell ganz vorne dabei, wenn es um die Fütterung mit Profiten geht. Dafür ist die Partei in Mitte sogar bereit, in einem Wahljahr wertvolle Stimmen enttäuschter Bürger zu verlieren. Das Bau-Unternehmen und die SPD-Verwaltung gehen Hand in Hand durch den Park - nur der Bürger stört noch ein bisschen. Aber für die lästigen Anwohner, Parknutzer und BI-Aktivisten gibt es Mittel zur Beruhigung und Ablenkung. Es nennt sich Bürgerbeteiligung, früher hätte man es frei nach Schnauze “Volksverarschung” genannt. Den einen bietet man Workshops an, in denen sie Ideen für die Parkgestaltung erarbeiten. Den anderen bietet man an, schriftliche Einwände gegen die Bebauung zu formulieren. Beides sind und waren Beschäftigungstherapien, deren Ergebnisse am Ende kalt lächelnd in den Papierkorb gewandert sind. Den Menschen von der Bürgerwerkstatt hat man das Ergebnis des städtebaulichen Wettbewerbs vor den Latz geknallt, den Menschen beim schriftlichen Verfahren erklärt, sämtliche Argumente tausender Bürger seien für die Planung irrelevant - der Bürgerwille wurde in beiden Fällen komplett ignoriert. Das einzige greifbare Ergebnis der ganzen Aktion ist, dass sich die Gegner der Bebauung nun in den Haaren liegen. Sie haben sich in feindliche Fraktionen aufgespalten, die sich in Veranstaltungen und in hasserfüllten öffentlichen Statements gegenseitig beschimpfen und so wertvolle Energie für den Kampf gegen die Bebauung verschwenden. Vivico und Gothe lachen sich doch ins Fäustchen - immerhin haben sie die Spaltung und Schwächung ihrer Gegner erreicht, konnten durch Ablenkungsmanöver Zeit gewinnen und werden bald mit einem Wolfslächeln zur Grundsteinlegung im Mauerpark schreiten. Die Schafe dürfen später den Beton anblöken.

Samstag, 12. Februar 2011

Ein Mann macht Geschichte

Als David Hasselhoff 1989 mit „Looking for Freedom“ einen Welthit landete, fiel die Berliner Mauer. Im Februar 2011 ist „The Hoff“, wie seine Fans ihn nennen, auf Deutschland-Tournee und in der arabischen Welt können die Diktatoren reihenweise ihre Sachen packen. Wirklich nur Zufall? Und was hat der Star aus „Knight Rider“ und „Baywatch“ als nächstes vor?


Montag, 17. Januar 2011

Publikumsbeschimpfung

„Ihr jungen Leute, Ihr wisst doch gar nichts vom Leben. Ihr wisst gar nicht wie das ist. Ich hab auf‘m Alex Halsketten aus Klosteinen verkauft. An japanische Touristen. So weit unten war ich! Ich kann Panflöte spielen - wenn Ihr wisst, was ich meine. Macht Ihr euch eigentlich eine Vorstellung, wie Menschen wie ich in den siebziger Jahren aufgewachsen sind? Als ich ein Kind war, gab es nur drei Fernsehprogramme. Am Nachmittag begannen die Übertragungen, um Mitternacht war meistens Schluss. Wir hatten zu Hause ein Schwarz-Weiß-Gerät ohne Fernbedienung. Die Familienkutsche war ein Peugeot 404, ohne Airbag, Sicherheitsgurte und Nackenstützen, ohne Elektronik und Navi, eine Nuckelpinne, die im Vergleich zu heutigen Autos eine echte Todesfalle war. Das Urlaubs-Highlight meiner Kindheit war eine Flugreise nach Mallorca und zwei Wochen im Club Neckermann. Es sollte mein einziger Flug bis zum 18. Geburtstag bleiben. Ich habe am Fernseher "Pong" gezockt, das erste Videospiel der Welt. Links und rechts ein weißer Balken, zwischen denen ein weißes Viereck hin und her hüpfte. Das iPhone, Die Grünen und Hartz IV waren noch nicht erfunden. Und dabei bin ich noch nicht mal im Osten aufgewachsen, das ist ja der Witz! Da kommt man sich vor, als wäre man aus Albanien oder Nepal. Für die Kids von heute sind die Alten aus einem anderen Universum. Aber Ihr werdet euch noch wundern. Wenn das letzte Spongbob-Eis in irgendeinem ultracoolen Projektmeeting gelutscht ist, wenn die letzte Dschungelprüfung von Guido Westerwelle absolviert ist, wenn die letzte Rate deines Klopapierhalters von Manufaktum bezahlt ist, werdet Ihr merken, … werdet Ihr merken … Ja, was eigentlich? Werdet Ihr merken, dass meine Generation längst verschwunden ist.“

Dreizehn sein

Wenn du dich vom Fußballverein abgemeldet hast
Und jetzt nur noch am PC oder vor der PS hängst
Das ist 13

Wenn du Zahnklammern trägst
Aber sowieso nicht sprechen willst
Das ist 13

Wenn du nachts aus dem Haus schleichst
Um mit Kumpels auf einer Baustelle Zigaretten zu rauchen
Das ist 13

Wenn du die Hintern der Mädels mit deinen Freunden diskutierst
Und nachmittags immer noch Schiffsmodelle zusammen baust
Das ist 13

Wenn du mit deinem Klapprad unterwegs bist
Und beim Anblick der sonnengebräunten Alphatiere am Baggerseestrand den bohrenden Schmerz mangelnder Coolness für alle Zukunft zu ertragen lernst
Das ist 13

Joseph Roth

Joseph Roth hat seinen „Radetzkymarsch“ in „Mampes Gute Stube“ auf dem Ku‘Damm zwischen Joachimsthaler Straße und Gedächtniskirche geschrieben, gelebt hat er oft in einem Hotel am Bahnhof Zoo. In der Kneipe leben, in der Kneipe schreiben …
Derzeit lese ich seine Biographie und stelle natürlich auch Vergleiche an, selbst wenn es albern erscheint. Aber ich habe genug Jahre auf dem Buckel, um nach Parallelen zu suchen (und mich dabei freilich in viele Parallelen hineinträume). Da ist zunächst mal das Alter, das Roth interessant macht. Er hat seinen 45. Geburtstag nicht mehr erlebt, ich kann im Sommer 45 Jahre alt werden. Er trinkt und schreibt, das tue ich auch. Allerdings trinkt er mehr und schreibt besser. Er ist aus einer weit entfernten Provinzkleinstadt in die große Stadt gegangen, arbeitet zugleich als Journalist und Schriftsteller. Gescheiterte Liebe, keine Kinder. Da kommt einiges zusammen.

Ein Einzelgänger, der einen großen Freundeskreis hat und im Wirtshaus erst richtig auflebt. Der Alkohol wiederum als Droge der Einzelgänger. Der Wechsel aus Aufnehmen (das Material der Stadt: die Geschichten, die Orte, die Sinneseindrücke) und Äußern (Text). Grundsätzliche und innere Einsamkeit - auch im größten Trubel - als Voraussetzung der Entäußerung. Das Schreiben als einzig mögliche Form der Mitteilung ...

Schon klar, mein Freund! Aber ich bin an einem Punkt, an dem ich mich frage, warum ich anderen Menschen überhaupt Geschichten schreiben soll. Wem hätte ich etwas mitzuteilen? Einsamkeit wird mir immer mehr zum Genuss, zum vollendeten Zustand. Allein, frei, geborgen - ein Tag zu Hause ohne Termine und Gespräche. Das Leben eine Kette schöner Tage, ohne die Arbeit an irgendwelchen nutzlosen Texten, ganz nebenbei Roth altersmäßig passierend, auf dem Weg zu neuen Helden. Wie alt wurden eigentlich Schiller und Pessoa?

Freitag, 7. Januar 2011

Mach das Radio lauter!

Liebe Freunde der gepflegten Hörfunkunterhaltung,

es ist mir eine große Freude, Euch eine Radiosendung direkt aus dem Herzen des Brunnenviertels anzukündigen. Der Sender "Alex" (Voltastraße 5) überträgt live, in Farbe und in alle Welt eine Stunde mit flotter Musik und tiefsinnigen Gesprächen. Moderator Rolf Gänsrich, in Berlin bekannt als Journalist, Kleinbühnenagitator und "Nächste Ausfahrt Wedding"-Führer, hat den Kiezschreiber in seine Sendung eingeladen.

Donnerstag, den 13. Januar 2011, 13 - 14 Uhr: "O.K. beat"
Sender: "Alex auf 88vier"

Antenne: 88,4 MHz und 90,7 MHz

Livestream auf www.alex-berlin.de/radio

Völker, hört die Signale!