Samstag, 19. November 2011

Minimal-invasiver Lebensstil: der dritte Weg?

Marek Smrz vertrat in der linken Szene das von ihm entwickelte Theorem des minimal-invasiven Lebensstils. Das hieß: so geringe Eingriffe in die Umwelt wie möglich, Drosselung des persönlichen Verbrauchs und der Aktivitäten. Smrz lehnte beispielsweise Fahrräder ab – über Autos wurde hier schon gar nicht mehr diskutiert -, weil sie ebenfalls industriell aus Metall und Kunststoff hergestellt wurden. Man solle alles zu Fuß erledigen, für unabwendbare Reisen nehme man die öffentlichen Transportmittel. In den strengen Grenzen dieses Konzepts gab es natürlich nur sehr geringe Möglichkeiten für eine Erwerbstätigkeit, beispielsweise in einer selbstverwalteten Werkstatt im eigenen Kiez. Außerdem ließ sich seine Idee wunderbar mit den Boykottlisten verbinden, an denen in linken Kreisen akribisch gearbeitet wurde. Wenn man den Kapitalismus ins Herz treffen wollte, durfte man nicht moralisch argumentieren, sondern musste auf die Brieftasche der Konzerne zielen. Also: keine amerikanischen Produkte, weil man damit den US-Imperialismus und Angriffskriege unterstützt, kein Ikea-Plunder, weil man damit den skandinavischen Faschismus unterstützt, Fairtrade-Zeugs kaufen usw. – wem das alles zu kompliziert wurde, ging einfach nach Kreuzberg in die LPG am Mehringdamm einkaufen, dann war sicher alles im Einkaufskorb allerschwerstens pc.
Smrz setzte sein Theorem des minimal-invasiven Lebensstils, mit dem der expansive Konzernkapitalismus im Übrigen seiner zerstörerischen Dynamik beraubt werden sollte, in erster Linie im heimischen Bett um. „Wenn man es sich recht überlegt, ist doch jede Stunde, die man gefaulenzt hat, auf das Sinnvollste verwendet worden. All die Zeitschätze, die er dem Imperium der Vernunft vorenthalten und freudig verschwendet hatte. Keine Minute mochte er missen, die er auf dem Bett liegend oder aus dem Fenster starrend in den Augen anderer vergeudete. All die Traumfetzen der zahllosen Nickerchen, all die zufriedenen Grunzer der Behaglichkeit nach einem guten Essen, all das gedankenverlorene Dösen vor dem Fernseher, all die gemütlichen Zeiten der Müdigkeit und der Melancholie. Der süße Zauber vollkommener Untätigkeit ...“ zitierte er Rondo Delaforce, den großen Denker des Müßiggangs, aus dessen Frühwerk „Die singende Fleischwurst“.
Mardo kannte das alles, schließlich hatten sie gemeinsam bei einigen Krügen „Gambrinus“ in den „Prager Hopfenstuben“ auf der Karl-Marx-Allee den Grundstein für das philosophische Werk von Marek Smrz gelegt. Die Mischung aus Gelassenheit und Gerissenheit, aus portugiesischem Lebensgenuss und tschechischer Lebensklugheit – dieser Delaforce musste mit Mardo verwandt sein. Vielleicht lebte er sogar in dieser Stadt? Ruhe war sein Schlüssel zum Glück. Mardo glaubte nicht daran, dass die Menschen, die nach Managementratgebern lebten, wirklich ein glückliches und sorgenfreies Leben führten. Es war wie in dem Märchen vom Hasen und vom Igel. Mardo hatte wie Smrz früh beschlossen, sich der Fraktion der Igel anzuschließen. Der echte Berliner hat Zeit und lässt sich nicht von der Hektik der Kleinstadt anstecken.
(Aus den ersten Vorarbeiten zum zweiten Mardo-Krimi)

2 Kommentare:

  1. Schön, was von klarsinnlichen Mitmenschen zu lesen :-), die mitfühlend hier all-ein die synergetische Kraft der Stille ihre heiteren Schritte tragen lassen, hin zur zum kontemplativen Wandel der Gesellschafts-Ordnung.

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