Freitag, 20. Januar 2012

20 Jahre Mykonos und das Berliner Fell

Was unterscheidet den echten Berliner eigentlich von anderen Menschen, insbesondere in der vielbeschworenen und oft gescholtenen Provinz? Es ist sein dickes Fell. Den Berliner schockt nichts, er hat alles schon mal gesehen und kann zu jeder erzählten Geschichte eine wahnwitzige Steigerung aus seiner eigenen Biographie besteuern. Als Zugereister habe ich mich natürlich gefragt, wie man dieses dicke Fell bekommt. Die Antwort: Weil in dieser Stadt einfach so viel passiert, dass sich das Leben förmlich mit Anekdoten und Dramen vollsaugt.

Eines meiner Erweckungserlebnisse in dieser Hinsicht war der Terroranschlag auf das Restaurant „Mykonos“, der im Sommer 1992, also vor zwanzig Jahren, in der West-Berliner City verübt wurde. Wie es der Zufall wollte, war ich sechs Wochen zuvor aus Kreuzberg ins gegenüberliegende Haus gezogen. An diesem Abend war ich gerade noch an der Tankstelle gewesen, um Dosenbier und Zigaretten zu holen. In meinem Wohnzimmer lief dröhnend laut Frank Zappa, so dass ich zunächst gar nicht mitbekommen hatte, was passiert ist. Ich erinnere mich, dass ich am Kühlschrank stand, um Nachschub zu holen, als aus dem griechischen Lokal Männer heraus gerannt kamen und in einen schwarzen Mercedes S-Klasse sprangen. Ich blieb am Fenster stehen und wartete mit einem Bier in der Hand. Kurze Zeit später versuchten zwei eintreffende Streifenpolizisten, die Augenzeugen am Weglaufen zu hindern. Dann hörte ich die ersten Sirenen. Es war ein komisches Gefühl, denn normalerweise hört man ja, wie sich das Geräusch nähert und dann wieder verschwindet. Diese Sirenen näherten sich und blieben vor meinem Fenster – Zappa nix dagegen. Bald darauf stand die ganze Straße voller Rettungs- und Polizeifahrzeuge, und nach etwa einer Stunde Sirenengeheul und blechernem Funkgeplapper trugen Sanitäter die ersten Opfer hinaus. Am nächsten Morgen klingelte die Kripo um acht Uhr bei mir, sie verhörte alle Anwohner. Zwei Stunden später stand der Reporter der „Berliner Morgenpost“ vor der Tür, er interviewte und fotografierte mich. Und so landete ich als „Der Augenzeuge“ in der Samstagsausgabe und wurde in meinem Viertel für einige Tage zum Promi. Auf dem Weg zur Post lief zum Beispiel ein Ehepaar an mir vorüber, kaum wähnte man mich außer Hörweite, fragte die Frau: „Ist er das nicht?“ Ihr Mann antwortete: „Doch“. Und im Supermarkt starrte mich eine ältere Frau richtig fassungslos an, als sie mich erkannte.

Am Tag nach dem Blutbad waren etliche Fernsehteams und andere Journalisten unten auf der Straße, das Haus war von den Medien regelrecht belagert. Die gegenüberliegende Straßenseite wurde abgesperrt und militärisch bewacht, vermutlich Bundesgrenzschutz. Ein Überlebender wurde von einer Horde Reporter verfolgt. Er schob sein Fahrrad langsam den Gehweg entlang und redete, die Meute lief wie ein Rudel junger Hunde um ihn herum. Im Laufe des Tages wurden Kränze und schwarz umrandete Bilder gebracht, eine Solidaritätsdemonstration fand statt und über Megaphon verlasen die Kurden, deren Politiker vom iranischen Geheimdienst ermordet worden waren, ihre Texte. Eine Freundin (aus der Provinz) hat mich in der Zeit noch auf den Paranoia-Trip geschickt, der Geheimdienst würde sicher auch noch die Zeugen des Attentats liquidieren und mein Name würde mit Foto und Adresse ja schön fett in der Presse stehen, herzlichen Glückwunsch auch. Was soll ich sagen? Inzwischen bin ich ein echter Berliner geworden. Wenn mir morgen jemand erzählen würde, er käme gerade vom Mars, würde ich nur ungerührt antworten: „Bin ick letzte Woche ooch jewesn, war jané so dolle.“

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