Montag, 24. März 2014

Besuch in Berlin – dritter Tag

Heute esse ich mit einer Kulturredakteurin in einem Berliner Wirtshaus Unter den Linden zu Mittag. Wir sitzen zwei Stunden ganz entspannt bei Bier und Buletten. Sie hat viel Zeit, denn am heutigen Freitag hat sie erst nach Mitternacht Dienstschluss, wenn „aspekte“ (die älteren Leser kennen vielleicht die Sendung, Durchschnittsalter der Zuschauer: 57 Jahre – immerhin drei Jahre unter dem ZDF-Schnitt) gesendet ist. Sie betreut die Musiker, die in der Sendung auftreten. Sie wählt auch die Künstler aus und lädt sie ein. Vor einem Vierteljahrhundert wäre es ein Traumjob gewesen, jetzt ist es einfach nur Arbeit. In unserem Alter kennt man die aktuelle Musikszene nicht mehr und inzwischen sind ein Dutzend Konzertbesuche pro Monat lästige Arbeitstermine, die das Familienleben beeinträchtigen. Da wir uns seit der Schulzeit kennen, überspringen wir das derzeitige Kulturgeschehen in der Hauptstadt und kommen gleich zum wesentlichen: Wie war der Winter in Berlin? Was machen die vier Kreuzberger Gören, der Mann (Medienphilosoph!), der Hund? Wohin geht’s im Sommer?
Anschließend spaziere ich durch das Brandenburger Tor. Wann bin ich zuletzt hier gewesen, wo sich kein Berliner freiwillig blicken lässt? Mit der Schwerfälligkeit des Landmenschen quäle ich mich durch die Menschenmenge (vor allem Schulklassen bilden eine unteilbare Masse) und denke mit Wehmut an meine weltmännische Vergangenheit zurück, als ich mich mit der Geschmeidigkeit eines kalifornischen Surfers durch Tokio oder New York bewegt habe. Der Potsdamer Platz sagt mir immer noch nichts, obwohl ich ihn jahrelang durch ein Bürofenster betrachtet habe. Die Potsdamer Straße ist unverändert, hier ist Berlin ganz bei sich. In der Kurfürstenstraße stehen immer noch dieselben drittklassigen Nutten mit denselben Sprüchen wie zu Mauerzeiten: „Na, Schatzi, kommst du mit?“ Nee, immer noch nicht.
Vom Nollendorfplatz fahre ich mit der U1 bis zum Schlesischen Tor. Mein alter Kiez aus Studentenzeiten. Ich laufe durch die Falckensteinstraße zu meiner ersten Berliner Bleibe: Görlitzer Straße 41, Vorderhaus mit Parkblick. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft spüre ich einen Hauch Sentimentalität, der jedoch bei einem Spaziergang durch den Görlitzer Park schnell verfliegt. Es nieselt und außer einem Hundebesitzer bin ich das einzige Bleichgesicht im Umkreis von fünfhundert Metern. An allen Parkeingängen und vor den Sitzbänken stehen ganze Horden afrikanischer Drogenhändler, von denen ich Fragen zu meiner Erwerbsneigung bezüglich illegaler Rauschmittel gestellt bekomme (Frankfurter Taunusanlage in der Achtzigern nix dagegen!). Soll ich mich angesichts meiner Bekleidung und meines Alters geschmeichelt fühlen? Aber was sagen schon Alter und Aussehen über einen Menschen? Ein Berliner Bekannter, steuerzahlender Anzugträger mit Eigentumswohnung und Cabrio, hat erst im vergangenen Jahr die Reise ins ewige Licht angetreten; Grund war der jahrelange Gebrauch von Kokain, Crystal Meth und Ketamin in bedenklichen Dosen. Was die Jungs hier vertickern, ist nicht der Rede wert.
Auf der Wiener Straße und der Oranienstraße ist wieder alles so wie 1991, als ich hierher gezogen bin. Das kann man positiv sehen: Kreuzberg ist sich selbst treu geblieben. Das kann man aber auch negativ sehen: Kreuzberg fehlt die Kraft zur Veränderung, zur Weiterentwicklung. Den Kotti muss ich wegen einer Demo gegen Bundespräsident Joachim „Looking for Freedom“ Gauck umgehen. Auf dem Kottbusser Damm gehe ich an meinem alten Stammjapaner („Musashi“) vorbei, den es nach dreiundzwanzig Jahren tatsächlich immer noch gibt. Kurz vor dem Hermannplatz pfeife ich mir einen Döner ein, den ersten seit neun Monaten (die rheinland-pfälzischen Produkte gleichen Namens habe ich aufgrund leidvoller Erfahrungen in der Vergangenheit tapfer gemieden). Es folgen die Hasenheide, wo früher mal die Drogenszene war, und der Südstern. Das reicht mir fürs erste. Eine Stunde später sitze ich im Zug nach Hamburg, wo neue Abenteuer auf mich warten.
P.S.: Unerwähnt blieben ein morgendlicher Besuch am Ufer des Hohenzollernkanals, wo der hochgeschätzte Kollege Wolfgang Herrndorf im vergangenen Sommer Selbstmord begangen hat, und ein Abendessen im „Tegernseer Tönnchen“, wo noch die alte West-Berliner Zapfhahn-Ikone „Engelhardt“ zum Schweinebraten gereicht wird und ein älterer Herr für die Trauerfeier nach der Beerdigung seiner Frau „vierzig, na sagen wir fünfzig halbe Brötchen, Kaffee, Bier, aber keine Schnäpse oder Champagner“ vorbestellt und Tische reserviert hat. Bei einem Pils am Tresen sagte er noch: "Der leere Stuhl, das leere Bett – das kann sich keiner vorstellen“.
P.P.S.: Vielleicht liegt es am Frühling oder daran, dass ich mit einem Freund und seiner Tochter gerade noch im Garten Fußball gespielt habe (vergessene Freuden der Jugend – ich habe mich wie ein Spitzbube gefreut, als wir den Ball auf das umzäunte Nachbargrundstück geschossen haben und ihn wiederholen mussten), aber bei der Rückfahrt von Hamburg nach Bingen ist mir aufgefallen, wie viele verblühende und verwelkte Menschen es gibt. Überall erschlaffte Haut, Falten, graue Haare, Tränensäcke und Doppelkinne, hellbraune Jacken und dunkelbraune Schuhe, müde Blicke in dicke Bücher. Deutschland wird alt.

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