Freitag, 28. März 2014

Wie Naumann eines Abends Veganer wurde

Es war bereits spät, als Naumann nach Hause kam. Er parkte seinen Wagen in der Garage und ging auf den Steinplatten, die durch den Vorgarten führten, zur Tür seines Hauses. Als er die Tür aufschloss, bemerkte er, dass Licht aus seinem Wohnzimmer drang.
'Merkwürdig', dachte er. 'Habe ich gestern Abend das Licht brennen lassen?'
Er zog die Schuhe und den Mantel aus, stellte die Aktentasche neben die Garderobe und ging durch den Flur ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa saß ein weißes Huhn. Es besaß die Größe eines Menschen, trug einen roten Kamm auf dem Kopf und hatte lässig ein Bein über das andere geschlagen. Naumann klappte der Unterkiefer herunter und er blieb im Türrahmen stehen.
„Guten Abend, Herr Naumann.“
„Wer sind Sie?“ fragte Naumann fassungslos. „Und was machen Sie in meinem Haus?“
„Man nennt mich Huhn. Ich hoffe, mein unerwarteter Besuch ist Ihnen nicht unangenehm. Möchten Sie auch etwas trinken?“ Das Huhn deutete mit seinem linken Flügel einladend auf ein Whiskyglas, das mit Eiswürfeln gefüllt auf dem Wohnzimmertisch stand.
Naumann antwortete nicht. „Sind Sie ein Einbrecher? Warum haben Sie sich als Huhn verkleidet?“
„Ich bin weder ein Einbrecher noch bin ich verkleidet. Aber setzen Sie sich doch bitte.“
Naumann kam zögernd näher. Er setzte sich auf die gepolsterte Lehne des Sessels, der dem Sofa gegenüber stand. Schweigend musterte er das Huhn von oben bis unten.
„Na, nicht doch einen Drink, Herr Naumann?“
Naumann schüttelte schwach den Kopf. „Danke, jetzt nicht.“ Er konnte den Blick nicht von dem riesigen Huhn in seinem Wohnzimmer lassen.
„Sie fragen sich bestimmt, was ich hier bei Ihnen mache, oder?“
„Ja.“ Naumann schwieg einen Augenblick. „Hat Sie meine Ex-Frau engagiert? Sie will mich fertig machen. Wegen dem Haus.“
„Ich versichere Ihnen, es hat nichts mit Ihrer Ex-Frau oder Ihrem Haus zu tun.“ Das Huhn nahm das Glas und trank einen kleinen Schluck Whisky.
„Um was geht es dann?“
„Es ist Ihr Verhalten, Herr Naumann. Ich möchte mit Ihnen über Ihr Verhalten reden. Ihr Verhalten Hühnern gegenüber.“
„Wieso? Was habe ich denn falsch gemacht?“
Das Huhn lachte und dabei wackelte sein roter Kamm hin und her. „Sie essen regelmäßig Hühnerfleisch. Und sie essen Eier. Wussten Sie, dass aus den Eiern Küken schlüpfen?“
Herr Naumann schwieg und kratzte sich unschlüssig am Kopf.
„Ich kann mir das Leben auch angenehmer vorstellen. Den ganzen Tag in einem engen Käfig sitzen ist alles andere als angenehm. Es gibt wesentlich schönere Dinge im Leben. Ich höre zum Beispiel gerne Jazz und interessiere mich für moderne Malerei.“
„Ach, wirklich?“ fragte Naumann. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirnglatze.
„Wir sind alle recht interessiert an Kultur. Ich wette, das haben Sie nicht gewusst.“
„Wen meinen Sie mit ‚wir‘?“
Das Huhn nickte mit dem Kopf in Richtung der Wohnzimmertür. „Drehen Sie sich doch einfach mal um!“
Naumann drehte den Kopf. Im Türrahmen gelehnt stand eine Kuh auf ihren Hinterhufen. Die Vorderhufe hatte sie über dem Euter gekreuzt.
„Wir möchten Sie bitten, in Zukunft Ihr Verhalten zu ändern, Herr Naumann. Kein Fleisch, keine Eier, keine Milch. Haben Sie mich verstanden?“
„Ja“, flüsterte Naumann heiser und nickte.
„Wir müssen sonst noch einmal bei Ihnen vorbeikommen. Und das wäre uns doch allen unangenehm, oder?“ Das Huhn trank seinen Whisky aus und erhob sich vom Sofa.
(musikalische Begleitung des Textes: Erroll Garner – The Original Misty)

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