Dienstag, 16. September 2014

Herne bei Nacht

Es musste schon weit nach Mitternacht sein, als Bonetti durch den strömenden Regen auf das Taxi zusteuerte. Schwarz und schwer lag der westfälische Himmel über Herne, als er die Wagentür öffnete und sich ächzend auf die Rückbank quetschte.
Der Fahrer machte das Radio leiser und betrachtete Bonetti im Rückspiegel. „Ahmt. Wo soll’s denn hingehen?“
„Ahmt. Pension Schöller, bitte.“
Der Fahrer tippte auf seinem Navi herum. „Jacobystraße 18?“
„Ja“, antwortete Bonetti und ließ sich in den Sitz zurücksinken. Er schloss für einen Moment die Augen. Es war nicht die Lesung, die ihn so erschöpft hatte. Es war das anschließende Gespräch mit den Vertretern der hiesigen „Intelligenz“, mit der lokalen Kulturmischpoke, das ihn Kraft gekostet hatte. Da gab es Jakob Kieselmund, den adipösen und ständig schwitzenden Leiter der Volkshochschule, der ihn eingeladen hatte und ihm in den nächsten Tagen sein Honorar überweisen würde. Dann die beiden älteren Studienrätinnen vom Flottmann-Gymnasium, Monika Bueckmann und Tatjana Glomp, die ihre Deutsch-Leistungskursschüler demnächst mit Bonettis Novellen traktieren wollten, sowie Lothar Rüsselkäfer vom Herne-Kurier, der unter dem Pseudonym Rüdiger Ramone für das „Feuilleton“, wie er die Kulturseite großspurig nannte, regelmäßig Texte fabrizierte.
„Das ist ein Wetterchen, was?“ sagte der Fahrer im jovialen Plaudertonfall aller berufsmäßigen Chauffeure, als sie an einer roten Ampel warteten. „War denn bei Luigi überhaupt noch was los?“
„Luigi?“ fragte Bonetti müde zurück.
„Sie kommen doch gerade vom Italiener. Ich habe sie doch über die Straße rennen sehen. Trattoria Fungo Velenoso. Wir in Herne nennen das Restaurant einfach Luigi. So heißt der Wirt.“
„Ja, ich war nach der Lesung noch auf einen Dämmerschoppen und Antipasti eingeladen.“ Der dicke Kieselmund hatte sich noch richtig den Wanst vollgeschlagen. Carpaccio, Linguine mit Muscheln und Tiramisu - dazu eine ganze Flasche Brunello di Montalcino. Der alte Spesenritter konnte schließlich alles über seine Volkshochschule abrechnen. Die beiden Lehrerinnen hatten nur Frascati getrunken und ihm die ganze Zeit erklärt, es gäbe keine gute Literatur mehr in Deutschland. Brunetti kannte die Diskussion zur Genüge. Es war immer besser, in diese Litanei einzustimmen, anstatt seinen Zuhörern die wahren Ursachen zu erklären. Dass man mit Literatur kein Geld verdienen könne, dass es praktisch keine professionellen Dichter in Deutschland gäbe und man sich von dem Geschreibsel der Amateure nicht allzu viel erhoffen dürfe. Die Musiker können das Internet-Zeitalter mit Konzerten überleben, aber wer zahlt schon fünfzig Euro Eintritt für eine Lesung? Und welcher Schriftsteller schafft es, ein paar tausend Fans in einer Halle zu versammeln? Bonetti hatte routiniert die Helden der Vergangenheit beschworen. Der Mann vom Herne-Kurier hatte drei Weizenbier getrunken und sich Notizen gemacht. Über Bonetti selbst stand genug im Internet. Und über seine Texte hatte sich das schnurrbärtige Frettchen sicher schon eine Meinung gebildet, die Bonetti nicht interessierte. Er würde den deprimierenden Text erst gar nicht lesen.
„Ach, Sie waren das heute mit der Lesung? Volkshochschule, oder? Im Radio haben sie zehn Freikarten verlost“, erzählte der Fahrer.
So konnte sich Bonetti schon mal ein Viertel seiner Zuhörer erklären. „Ja, ich war das“, antwortete er und sah aus dem Fenster.
„Ich habe sogar mal was von Ihnen gelesen“, sagte der Fahrer. Es lag Stolz in seiner Stimme, während er an einer Kreuzung abbog. „Meine Frau hat mir ein Hörbuch geschenkt. Wenn ich mich mal langweile, verstehen Sie? ‚Tod in Bochum‘ oder so hieß das.“
„Borkum oder Tod“, korrigierte Bonetti. Es war vor zwei Jahren erschienen und hatte den Untertitel „Eine intellektuelle Zwischenmahlzeit für gestandene Germanisten“. Eigentlich war es eine Parodie auf Texte, die von Amateuren bei Literaturpreisen in der Provinz eingereicht werden. Es handelte von einer Schriftstellerin, die sich von Stipendiat zu Stipendiat hangelt, mal ein Jahr in Bottrop als Stadtschreiberin ist und dann wieder ein halbes Jahr auf Borkum, wo man gerade eine Inselschreiberin sucht. Die trost- und seelenlose Welt der Stipendien und Preisgelder, die an ehemalige Geliebte von Professoren oder narzisstische Studenten mit zwanghaftem Mitteilungsbedürfnis verteilt wurden.
„Genau“, pflichtete der Fahrer treuherzig bei und blickte Bonetti im Rückspiegel an. „Da ging es doch um eine junge Frau, die an einem Roman über das Leben einer Schriftstellerin schreibt. Aber sie findet nie die Ruhe und dann kommt sie auf diese Insel und lernt einen Pfarrer kennen.“
„Einen Deutschlehrer.“
„Ja, ich kann mich erinnern“, sagte der Fahrer und bog in die Jacobystraße ein. „Aber wissen Sie was? Sie müssten mal ein Buch über Taxifahrer schreiben. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen. Da könnte man glatt drei Bücher draus machen.“
Bonetti sah die Lichter der Pension und war erleichtert.
„Ich habe zum Beispiel mal einen Fahrgast gehabt, der war hier in Herne auf einer Beerdigung. Und wollte dann tatsächlich, dass ich ihn mit dem Taxi nach Köln fahre. Er hat mir erzählt, er hätte geerbt. Ich habe dann erstmal mit der Zentrale geredet, ob das überhaupt geht.“ Das Taxi hielt an und der Fahrer drehte sich zu Bonetti um. „Und was man hier in der Gegend mit Fußballfans erlebt, brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen. Dann, passen sie auf, das ist eine ganz tolle Geschichte, dann ist mal ein Mann in meine Taxe gesprungen und ich soll ihn nach Gelsenkirchen fahren. Der hat seine Frau am Bahnhof verpasst und will jetzt in Gelsenkirchen in den Zug, in dem seine Frau sitzt. Also muss ich Vollgas geben und bin nach Gelsenkirchen.“ Seine Stimme wurde immer lauter. „Ich weiß allerdings nicht, ob er den Zug noch erwischt hat. Manchmal hat man ja eine Fuhre nach der anderen.“
Bonetti hielt seine Brieftasche schon in der Hand.
„Was sich in meiner Taxe schon Leute gezofft haben, Pärchen nach der Disco, das glauben Sie nicht.“
„Würden Sie mir bitte eine Quittung geben?“ fragte Bonetti leise und hielt dem Fahrer einen Zwanzig-Euro-Schein unter die Nase. Die Leute können mich ruhig für ein arrogantes Arschloch halten, dachte er.
Dieser Fahrer hatte mehr an Bonetti verdient, als Bonetti jemals an ihm verdienen würde. Das ist die nüchterne Wahrheit des Kulturbetriebs.
The Walker Brothers – The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore. http://www.youtube.com/watch?v=Q11ium_-Lv8

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