Freitag, 26. September 2014

Meine Mitmenschen

Gestern war ich in Ingelheim, um die Familie meiner Schwester zu besuchen und um in der Buchhandlung den lange erwarteten dritten Band der hervorragenden Kafka-Biographie von Reiner Stach abzuholen. Der Weg in die Innenstadt führte meinen Vater und mich am Asylantenheim vorbei, das in den Obstfeldern neben der Autobahn liegt. Wir sahen die Familien, die dort untergebracht sind und in der Umgebung spazieren gehen. Man sieht diese Menschen nie alleine, es sind Ehepaare mit Kinderwagen und kleinen Kindern an der Hand. Sie haben ernste Gesichter und tragen bereits die bunten Uniformen unserer Konsumgesellschaft, die gar nicht zu ihnen passen wollen. Traumatisierte Kinder aus den Kriegsgebieten des Orients in diesen lächerlichen Hip-Hop-Klamotten mit den peinlichen Beschriftungen, die überhaupt keinen Sinn ergeben. Schweigend und mit gesenktem Kopf schlurfen sie neben ihren Eltern her. Es sind keine Einwanderer, es sind Flüchtlinge. Sie sind nicht freiwillig hier und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass sie in diesem Augenblick lieber zu Hause wären. Aber sie haben ihre Heimat im Krieg verloren und sind jetzt in der Fremde. Morgen beginnt das Rotweinfest, bei dem sich die ganze Stadt in Weinzelten und an den Jahrmarktsbuden trifft. Sie werden nicht mitfeiern. Aber ich werde vermutlich „Mitbürger“ treffen, die einander erzählen, das Boot sei voll und wir könnten diese ganzen Flüchtlinge nicht bei uns aufnehmen, während sie eine Bratwurst in sich hineinstopfen und ihr gebügeltes weißes Hemd mit Senf bekleckern. Das Boot ist nicht voll, wir leben auf einem Schiff, das noch jede Menge Platz bietet. Und sollte es tatsächlich etwas eng werden, empfehle ich diesen „Experten“ ein Jahr in Syrien oder im Irak. Diese Erfahrung wird sie nachdenklich machen.

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