Sonntag, 18. Januar 2015

2006, Teil 2

Auszüge aus dem Notizbuch:
20. Juni. Fußballweltmeisterschaft, am Brandenburger Tor geht es zu wie in Woodstock. Selbst in Kreuzberg hängen schwarz-rot-goldene Fahnen, wo sonst nur Revolutionsflaggen zu sehen sind. Die Stimmung war nur beim Fall der Mauer 1989 besser. Trotzdem bleibt der Berliner ruhig. Als ein arabischer Jugendlicher aufmunternd „Ihr seid Deutschland“ in die Menge ruft, kommt als Antwort: „Ick bin arbeitslos.“
25. Juni. Phußball und Filosophie: Der Ball ist unstet, er springt mal hierhin, mal dorthin. Und alle Leute laufen ihm besinnungslos hinterher. Die Weltmeisterschaft ist wie eine Betäubungsspritze: real, irreal, scheißegal.
9. Juli. Was einfach ausgedrückt wird, bleibt erhalten, denn das Einfache kann nicht vernichtet werden, weil es eben jeder versteht. Alles Komplizierte kann dagegen sehr leicht zerstört werden.
22. Juli. Die besten Texte der Menschheit sind bereits geschrieben, sie sind da draußen, aber sie sind noch nicht geborgen. Niemand kümmert sich um sie, die Medien sind blind für diese Texte. Nicht jeder Autor ist ein guter Selbstvermarkter oder hat Fürsprecher.
24. Juli. Ich bin so arm, selbst die Fliegen haben mich gestern verlassen. Viel Glück!
25. Juli. Flussgeschichten: Herr L. erwachte in einem kleinen Boot. Zunächst fand er die beiden Ruderhölzer und begann zu rudern. Bald hörte er den Wasserfall, auf den er zu trieb. Da erkannte er, dass rudern sinnlos war. Daraufhin begann er, den Wasserfall und alles Wasser zu verteufeln und sich die Zustände an beiden Ufern paradiesisch vorzustellen. Schließlich wurde er tief religiös und erkannte die Ursünde als Ursache für das Unvermeidliche. Herr M. erwachte ebenfalls in einem Boot, blinzelte träge in die Sonne und blieb einfach liegen. Die Reise war die gleiche.
29. Juli. Meine Handschrift ist in Hollywood zu sehen, wenn es z.B. um Abschiedsbriefe geht. Ich bin ein Stunt-Schreiber.
8. August. Niemand will arm sein. Warum eigentlich nicht?
Es gibt zwei Typen von Menschen: Selbstmörder und Amokläufer.
Derzeit lese ich Robert Walser, ein Träumer wie Kafka, der seinen Traum vom Scheitern Wirklichkeit werden ließ. Ein naiver Nichtsnutz – was wäre uns nicht alles erspart geblieben, wenn es mehr von seiner Sorte gegeben hätte.
Mutig und ängstlich zugleich sein: Die Angst steigert die Empfindungsfähigkeit, der Mut die Ausdrucksfähigkeit.
14. August. Mein vierzigster Geburtstag, jetzt kommt das Wochenende meines Lebens. Ich hatte nie einen Plan für die Zeit danach, denn ich hatte nie erwartet, so alt zu werden. Andere reden von ihren nächsten Projekten, ich habe mit allem abgeschlossen wie ein Sterbenskranker.
15. August. Fußballer sehen in Fernsehzeitlupen oft bescheuert aus, vor allem beim Kopfball. Wie wir wohl manches Mal in Zeitlupe aussehen würden? Beim Essen, beim Lachen usw.?
Die Fische hatten mit der Sintflut kein Problem.
16. August. Die kleinen Augenblicke des Glücks sind in die Zeit eingestreut wie funkelnde Diamantsplitter. Diesen Aphorismus widme ich Gisela Neumond-Barschhacke.
21. August. Wenn ich jetzt auch noch zu faul zum Atmen wäre, gäbe es ein Unglück.
22. August. Das selbstbewusste Dehnen und Strecken in einem frisch bezogenen Bett, wohlig vom Duft der Sauberkeit betäubt. Oder sich zusammenrollen in einer finsteren, feuchten und kalten Ecke. Schon im Augenblick des Einschlafens gibt es gewaltige Unterschiede zwischen den Menschen.
23. August. Was mir alles in den wenigen Sekunden einfällt, während ich den Wohnungsschlüssel aus der Hosentasche ziehe: meine von einem Platzregen tropfnassen Haare mit einem Handtuch trockenrubbeln, die eingekauften Lebensmittel im Kühlschrank deponieren, nach dem umfangreichen Mittagessen ein kleines Nickerchen machen, später dann eine Flasche Wein öffnen usw. – und dann ist mir tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben der Schlüssel im Türschloss abgebrochen. Zwei Stunden habe ich auf den Schlüsselnotdienst gewartet. Hätte ich doch wenigstens die Weinflasche öffnen können!
26. August. Was können wir von erfolgreichen Verbrechern lernen? Stichworte: Projektarbeit, Personalauswahl, Organisation, Vertrauen, Präzision, Erfolgsdruck, Flexibilität, Tarnung, Flucht, Täuschung. Analog: Was können wir von Kindern, Naturvölkern oder Geisteskranken lernen?
1. September. Reichtum stumpft ab, Armut fördert die Aufmerksamkeit. Für einen Reichen, der alles haben kann, ist nichts wirklich wertvoll, für einen Armen ist alles kostbar.
2. September. Seit Wochen der zermürbende Lärm einer Baustelle gegenüber meiner Wohnung, Montag bis Samstag ab sieben Uhr morgens. Hammerschläge, Bohren, das Klappern aufeinander fallender Holzlatten, das Rauschen abgekippten Schutts, das helle Kreischen einer elektrischen Säge und ganz besonders schön der unglaubliche Krach der Presslufthämmer und Dampframmen.
3. September. Er kam sich vor wie eine Ameise, die versucht, den Ku’damm zu überqueren.
4. September. In der Natur wirken unterschiedliche Kräfte, die der Zersetzung und Zerstörung des Bestehenden dienen. Es gibt einzelne Ereignisse ungeheurer Tragweite wie Meteoriteneinschläge oder Flutwellen, es gibt begrenzte Zeiträume negativer Entwicklung wie Dürreperioden oder Eiszeiten – und es gibt die zeitlose schleichende Erosion durch Regen und Wind. Manchmal sind es die weniger auffälligen Phänomene und Veränderungen, auf dich sich unser Blick richten sollte: die unsichtbare Erosion der Gesellschaft. Es sind nicht Terroristen oder Tsunamis, die unsere Zivilisation bedrohen, sondern das alltägliche Vergehen des Gemeinwesens in der schleichenden Spaltung, Verblödung und Vergreisung.
5. September. Die Schleimigkeit und Wurstigkeit des modernen Erwerbsmenschen.
9. September. Gott bringt es auf etwa 55 Millionen Einträge im Internet, ich nur auf tausend. Diese Welt ist einfach ungerecht.
18. September. Google-Suchbegriffe ohne Treffer: Himmelarschsackzement, Rotkrautrülpser, Vorstadtarschloch, Blutwurstvisage. Noch mehr Wissen: Der Begriff „Gammler“ leitet sich vom althochdeutschen „gaman“ (=Lust) ab.
17. Oktober. Dir wurde das Leben geschenkt, du hast nicht danach gefragt. Also frag auch nicht nach dem Tod, genieße das Leben wie Geld, das du auf der Straße gefunden hast. Gestern sah ich in Schöneberg eine bewusstlose Frau auf der Straße liegen, den Kopf in einer riesigen Blutlache. Sanitäter und Schaulustige waren bereits da, Aluminiumfolie war über ihrem Körper ausgebreitet, die in der Sonne glänzte. Alles wirkte so unwirklich, als wären es Filmdreharbeiten, an denen man in Berlin so oft vorbei kommt. Heute lese ich, dass die Frau gestorben ist, direkt an der Friedhofsmauer von St. Matthias in der Monumentenstraße.
19. Oktober. Man rächt sich für das Ferne immer am Naheliegenden.
29. Oktober. Ergebnis eines Selbstgesprächs: Ich bin immer noch interessanter als das Fernsehen. Aber mein Schiff segelt an einer Grenze, links die tiefen schwarzen Gewässer der Müdigkeit, rechts die klaren grauen Gewässer der Nüchternheit.
Osten: Land der aufgehenden Sonne. Westen: Land der untergehenden Träume.
Der süßliche, schwere Geruch des bevorstehenden Todes, der aus dem geöffneten Fenster eines Altersheims strömt.
Das sympathische Nicht-vorwärts-kommen-WOLLEN, der Zauber der Resignation – das zeichnet Wien und Berlin gleichermaßen aus.
Man kann aufsässig sein, weil man Hoffnung auf die Verbesserung seiner Lage hat. Man kann aber auch ohne Hoffnung aufsässig sein. Der sinnlos gewordene Trotz ist der letzte Kampf.
Blur - Song 2. https://www.youtube.com/watch?v=SSbBvKaM6sk

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen