Montag, 19. Januar 2015

2006, Teil 3

Auszüge aus dem Notizbuch:
30. Oktober. In seinem Reich geht die Sonne nie auf.
Es wird viel vom „Weg“ gesprochen. Aber wer redet vom Rückweg?
Was macht Musik mit uns, wenn wir nicht wach sind?
3. November. Home is where the toilet is. Buchtitel: „Furz und Bedeutung“.
4. November. Essay „Kunst und Durst“: Während der Durst mit sogenannten geistigen Getränken gelöscht wird, verwandelt er sich in eine künstlerische Ausdrucksform.
5. November. Die Sonne macht kein Geräusch, die Stille am Morgen und im Weltall.
7. November. Wenn ich mit meinem Notebook etwas herunterlade, knistert das elektronische Lagerfeuer richtig in den Dioden, die Kiste vibriert leicht und wird warm – wie meine alte elektrische Schreibmaschine.
11. November. Ich glaube ja, dass sie Dumm-Macher ins Billigbier tun, damit das Proletariat nicht revoltiert.
12. November. Wer sich im Wasser nicht bewegt, geht unter. Wer sich auf dem Land nicht bewegt, wird gefressen. Also bleiben wir alle permanent aktiv, nur wenige finden die Autobahnabfahrt in die selig lächelnde Gelassenheit echter Untätigkeit. Gute Reise!
Seit Jahren hört man in Deutschland praktisch nichts mehr von Bankräubern und Tresorknackern in den Medien. Wo sind die Leute geblieben, die den Reichen ihren Überfluss nehmen? Das Verbrechen fällt als Korrektiv der wachsenden Ungleichheit genauso weg wie die öffentliche Kritik.
13. November. Kommen Sie in mein Museum! Sehen Sie das älteste ungespülte Geschirr der Welt!
14. November. Das Leben ist herrlich, wenn man nichts erwartet. Man freut sich, wenn die Sonne plötzlich hell zum Fenster herein leuchtet, bleibt lächelnd vor einem schönen Haus stehen oder kickt Steinchen über den Bürgersteig.
Ich sehe in die Ferne, einige Birken und Fichten sind im Dunst zu erkennen. Das machen nicht viele. Die anderen haben Fernseher.
25. November. Frauen haben Angst vor Hässlichkeit, Männer vor Schwäche. Das Alter versetzt die Frauen in Panik, die Krankheit die Männer.
26. November. Es gibt nicht nur einen „Arbeitskreis Deutscher Sauerbraten“, sondern sogar eine Sauerbraten-WM. Der menschliche Fortschritt ist praktisch nicht mehr aufzuhalten.
A: Was machst du, wenn du alleine bist? B: Ich versende telepathische Botschaften.
Jetzt, da ich begreife, verlässt mich das Glück. Als Idiot konnte ich mich immer auf glückliche Zufälle verlassen. Wissend oder unwissend sein – was ist besser?
27. November. A: Möchtest du die geheime Liebesformel wissen, willst du den Schlüssel zum vollkommenen Leben?
B: Klar.
A begann, auf einem Bierdeckel zu schreiben, und erklärte: I plus I gleich G. Wie alle großen Formeln der Menschheitsgeschichte ist auch diese Formel sehr einfach.
B: Und was bedeutet sie?
A: Idiot + Idiot = Glück.
28. November. Habe ich so etwas wie „Kultur“? Wenn ich zwischen einem Kasten Bier und einer Eintrittskarte fürs Museum wählen könnte, würde ich immer das Bier nehmen.
Der verbotene Apfel im Paradies der Bibel war vielleicht ein vergorener Apfel, der den ersten Rausch ausgelöst hat. Heute ist der Tabubruch organisiert und industrialisiert – keine Kultur ohne Stimulanz- und Rauschmittel.
Die lachenden Kindergesichter kleiner Japanerinnen in der U-Bahn.
Ich sitze allein im „Engelbecken“ am Lietzensee und lausche den Eitelkeiten der Menschen. Früher gab es wenige große Themen, heute viele viele kleine: I c h.
Ich mag den Gesang der Krähen. Das Gezwitscher der Singvögel hört sich immer an wie Handy-Klingeltöne.
29. November. Warum stehen die Todesanzeigen eigentlich im Feuilleton und nicht im Reiseteil?
Leute, die gar nichts machen, nennt man oft „Lebenskünstler“.
Habe heute Nacht von einer Kneipe geträumt, in der der Wirt kleine Löcher in die Biergläser gebohrt hat, damit die Gäste schneller trinken.
2. Dezember. Ein paar Tage in Wroclaw/Breslau. Einzelne beeindruckende Orte wie das Rathaus und seine unmittelbare Umgebung oder die Dominsel wechseln sich mit Orten unbeschreiblicher Hässlichkeit (sozialistische Nachkriegsarchitektur) ab. In den Vororten das gleiche: der Charme der heruntergekommenen Mietskasernen (Kreuzberg) und Plattenbauelend (Marzahn). So ist die Stadt: Du gehst um eine Ecke und hast plötzlich das Gefühl, etwas bräche ab, als sei die Zivilisation hier zu Ende. Man wundert sich, dass manche Ruine überhaupt bewohnt ist. Dreckige Hinterhöfe, Betrunkene am Vormittag, ziellos wandernd. An manchen Häusern sind noch die stählernen Luftschutzfenster aus dem Zweiten Weltkrieg angebracht. Schön wiederum der alte Hörsaal in der Universität, in dem die Studenten wie in einer Kirche sitzen. Die schmalen Häuser am Rynek, dem Hauptplatz der Altstadt wirken, als wären tatsächlich Märchen in ihnen geschehen. So wie die Geschichte von dem alten Mann, der nie arbeitet, trotzdem immer Geld hat und dessen Lachen überall zu hören ist. Als die Nachbarn ihn fragen, wie er das anstellt, erzählt er ihnen von einem Schatz, den er in seinem Haus versteckt hält. In der folgenden Nacht, der alte Mann trinkt gerade im Ratskeller Bier, wird sein Haus von Einbrechern durchsucht. Aber sie finden nichts. Als der Mann davon erfährt, lacht er lange und laut. Der Schatz, so erklärt er, sei unsichtbar. Nur er könne ihn sehen und etwas Geld zum Leben entnehmen. Das besondere und vielleicht einmalige an der Stadt ist, dass die Bevölkerung nach dem Krieg komplett ausgetauscht wurde. Die Deutschen mussten gehen, die Lemberger Polen übernahmen die leere Stadt. Vertriebene vertrieben andere Vertriebene. Breslau im zwanzigsten Jahrhundert ist ein Spielball totalitärer Politik, Menschen wurden zu Schachfiguren degradiert. Der Größenwahn ehemals kleiner Leute wie Stalin und Hitler.
5. Dezember. Wir entdecken keine Wahrheiten, wir erfinden Meinungen.
9. Dezember, Prag. Einsamkeit, Wandern, Trinken, Beobachten, Schreiben, Scheitern. Vorbilder: Franz Kafka, Robert Walser, Thomas Bernhard und Robert Musil. Am frühen Morgen bin ich auf dem Hradschin und habe das unfassbare Glück, alleine im Goldenen Gässchen zu sein. Ab neun Uhr fallen hier die Touristen wie Heuschreckenschwärme ein und für das Betreten der Gasse wird sogar Eintritt genommen. Kafkas Häuschen mit der Nummer 22 ist inzwischen ein Kafka-Laden, wenig später kommen zwei junge Frauen, die das Geschäft aufschließen. Ich darf eintreten und genieße sogar für kurze Zeit, während die Frauen Waren holen und hereintragen, die Einsamkeit und den Blick in den tiefen Burggraben. Das Haus besteht nur aus einem Raum und einer Kammer in Schrankgröße, es ist kaum höher als ich. In den Achtzigern war das Betreten nicht erlaubt. Dann der Veitsdom, Horden von Japanern umwogen mich. Arbeitet heute jemand in Tokio? Die strahlende Morgensonne dringt durch die farbigen Fenster und lässt selbst die Steinsäulen aufleuchten. Am Strahov-Kloser ein Bettler mit blutigen Beinstümpfen. An der Hungermauer hinab laufe ich auf die Kleinseite mit der liebenswerten Kampa und über die Karlsbrücke, auf der es zugeht wie in der Rüdesheimer Drosselgasse, zum Altstädter Ring. Die Teynkirche gebietet wie bei jeder Reise Ehrfurcht und Schweigen. Die Häuser vor ihr wirken wie ein Schutzriegel vor allem neuen und lauten. Kafkas Denkmal am Geburtshaus wird von lärmenden Reisegruppen belagert, im Inneren des Gebäudes gibt es sogar ein Restaurant, das seinen Namen trägt. Im U Vejvodu: Trinken und Schreiben. Nachmittags: Robert Walser-Ausstellung im Klementinum. „Ich erwarte, verlange ja im Grunde vom Leben nichts“, schreibt er. Eine Stunde lang bin ich der einzige Besucher. Schön ist der Nachbau des winzigen Mansardenzimmers, in dem er gelebt hat. Am nächsten Morgen stehe ich dreißig Minuten ganz allein an Kafkas Grab. Es ist wie eine Meditation. Ich beschließe, meine eigene Verbindung von Sinn und Genuss bis zur Neige auszukosten: Leben und Schreiben, bis auch dieses Menschenleben zu Ende gelebt ist. Später sitze ich in der Altneusynagoge, ein karges Wohnzimmer, das schon viel erlebt haben muss. Menschen sitzen hier und schreiben, also tue ich es ihnen gleich und sitze ein Weilchen mit einer bescheuerten blauen Plastik-Kippa in der Ecke hinter der Tür. Anschließend trinke ich in einer Vorortkneipe, wo sich die Mittagstrinker offenbar alle gegenseitig kennen, köstliches Gambrinus.
11. Dezember. Bernhards „Kalkwerk“: Der zwanghafte Kampf um Ruhe als Ursache der Unruhe. Vollkommene Stille als Voraussetzung der Arbeit. Geräusche eliminieren, indem die Geräuschquellen eliminiert werden.
12. Dezember. Ein Fenster ging ein Haus suchen.
31. Dezember. Natürlich gibt es ein Leben nach dem Tod, aber man sollte die Sache nicht egoistisch betrachten. Es ist das Leben der Anderen.
Queen - Seven Seas of Rhye. https://www.youtube.com/watch?v=P1j-6vRykFs

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