Sonntag, 25. Januar 2015

2007, Teil 2

Auszüge aus dem Notizbuch:
12. bis 29. Mai, China. Auf Reisen finde ich Fernsehen und Supermärkte immer ebenso aufschlussreich wie Kirchen und Paläste. Etwa fünfzig einheimische Kanäle werden aufgeboten, viele historische Serien und bunte Shows, westliche Klamotten und Frisuren, Omo- und L’Oreal-Werbung, chinesische Hiphopper mit blond gefärbten Haaren, dazu US-Sender wie CNN und HBO. Es überraschen die vielen lateinischen Buchstaben und arabischen Zahlen, obwohl ich natürlich den ganzen Abend kein Wort verstehe. Verbotene Stadt und die chinesische Mauer – ein Muss für jeden Berliner. Eine Rikschafahrt durch die Altstadt, die Existenz und die Aufdringlichkeit der Bettler und Straßenhändler erstaunen mich. Den Sozialismus habe ich nur in Form von Folklore (etwa der morgendliche Fahnenappell vor der Provinzverwaltung in Xian) und Fassade (rote Fahnen und Mao-Mausoleum am Platz des Himmlischen Friedens in Peking) wahrnehmen können. In den Metropolen finden wir Kaufhäuser, die den Kathedralen des Kapitalismus in Europa, etwa dem KaDeWe in Berlin, in nichts nachstehen. Die großen Kaufhäuser sind jedoch fast menschenleer, da die Kaufkraft des Durchschnittsbürgers zu gering ist. Beispiel: Ein Paar deutsche Markensportschuhe kosten einen chinesischen Arbeiter drei Wochenlöhne.
Zudem fällt der verschwenderische Umgang mit Arbeitskräften auf: Im Lokal warnt ein Mensch permanent alle eintretenden Gäste vor den Gefahren einer bestimmten Stufe, in einem anderen Lokal reicht ein Mensch auf der Toilette Papierhandtücher aus einer Selbstbedienungsbox an die Besucher weiter. Was mir noch auffiel: Als „Langnase“ stellt man häufig eine kleine Sensation dar, etwa als wir gemeinsam in einem Kleinstadtladen einkaufen waren. Kinder staunen mich offen an und gaffen ungeniert – ich gaffe grinsend zurück. In einem Bahnhof versammelt sich das Restaurantpersonal, um mich beim Essen der bestellten Suppe mit Stäbchen zu beobachten, ist dann aber enttäuscht, weil ich die Technik beherrsche. Die Menschen sind hier im Schnitt unglaublich jung, man sieht fast keine alten Menschen. Nur ein Kioskverkäufer, bei dem ich Tsingtao-Bier erwerben möchte, ist älter als ich, doch sein Enkel steht schon neben ihm. Ich verlange drei Dosen, er packt mir sieben in die Tüte, wir einigen uns schließlich auf vier.
Die scheinbar regellose Naturwüchsigkeit des Straßenverkehrs, die es in Europa allenfalls noch in Süditalien zu beobachten gibt. Der Busfahrer schert noch zum Überholen aus, wenn man schon das Weiße im Auge des entgegenkommenden Lkw-Fahrers sehen kann. Zwischen den glitzernden Metropolen mit fußballfeldgroßen Leuchtreklamen wie in Shanghai und dem staubigem Land mit seinen holprigen Buckelpisten gibt es keinen Übergang, plötzlich ist die Zivilisation wie abgerissen. Und die Chinesen sind irgendwo dazwischen. Eines Morgens sehe ich sie beim Frühstück im Hotel, wie sie das Toastbrot mit Stäbchen essen. Den Europäern bietet man zur Sicherheit schon um diese Uhrzeit Pizza und Pommes frites an (die ich dankbar annehme). Auf mancher Toilette in der Provinz entleert man sich rittlings über Löcher, Zwischenwände gibt es nicht. Im Hotel in Shanghai (wo es aus Rücksicht auf westliche und östliche Zahlenmagie weder einen 13. noch einen 14. Stock gibt) ist in der Badezimmerwand ein Flaschenöffner so angeschraubt, dass man – auf dem Klo sitzend – den Kronkorken von der Bierflasche bekommt.
Die altertümliche Stadt Pingyao, ich bummele gemütlich durch die Gassen, Kinder grüßen winkend mit einem „Hello“ und freuen sich über den Gegengruß. Die traumhafte Landschaft am Li: Sanft windet sich der Fluss an teils bewaldeten, teils felsigen Hügeln vorbei, am Ufer Bambus, kleine Wälder, Wasserbüffel und Fischer. Dann wieder: Fahrt mit dem Transrapid von der Blade Runner-Stadt Shanghai zum Flughafen. Ankunft im Dorf Berlin mit seiner Sanatoriumsatmosphäre, die zeitlupenhafte Eleganz seiner Bewohner. Wie dörflich mir der Ku’damm erscheint, in der blinkenden Welt der Nanking Road wird man alle fünf Meter von Zuhältern, Nutten und anderen Waren- und Seelenverkäufern belästigt. Im Kaufhaus „New World“, in dessen Eingangsbereich es sogar Laufbänder wie auf Flughäfen gibt, gibt es auf zwölf Etagen mehr, als ich im KaDeWe je gesehen habe.
30. Mai. Geschwindigkeit und Zeit sind relative Begriffe. Es kommt darauf an, wo man hin will. Wer angekommen ist, kennt keine Eile. Das Ziel ist das Innere der Welt, es ist wie das Auge des Hurrikans. Hier sind Zeit und Geschwindigkeit aufgehoben. Das Tao als ewige Ruhe – zu Lebzeiten. Diese Erkenntnis habe ich chinesischen Philosophen zu verdanken. Die drei Wochen, die ich gerade in China verbracht habe, konnten dazu keinen Beitrag mehr leisten. Ein Land auf dem Weg in die Marktwirtschaft, fröhlich und laut wie eine Schar Kleinkinder, selbst die lamaistischen Mönche tragen Turnschuhe und Baseballkappen, sie fotografieren und plappern in ihre Handys. Einer spricht mich mit den Worten „Hello, money“ an. Aber bei uns ist am „Land der Dichter und Denker“ ja auch längst der Lack ab.
6. Juni. Topographische Denunzierung, erster Versuch: Die Küste ist doch auch nur eine Gegend, die sich nicht zwischen Land und Meer entscheiden kann!
7. Juni. An manchen Tagen ist Schreiben wie Bernsteinsammeln. Kleine Bruchstücke, deren Verwendung höchst ungewiss ist.
19. Juni. Wie Kinder, die ganz in ihrem Spiel versunken sind, wälzen wir unsere kleinen Sorgen, während gewittergleich Tod und Verderben über uns am Himmel trommeln. Vielleicht ist Kleinkariertheit ein Glück?
22. Juni. Das uralte verbrauchte Licht weit entfernter Sterne am Nachthimmel.
27. Juni. Leben an sich ist schon Sucht: Lebens-Lust, Gier nach Leben usw. Das Leben verlangt unaufhörlich etwas, es will weiter, es will mehr. Die Sucht nach Leben erzeugt und stillt die Sucht, ein perfekter Kreislauf, Leben als Urdroge.
28. Juni. Manche Leute rätseln ja, wie man dienstags jemanden anrufen kann, bei dem es schon Mittwoch ist. Für religiöse Fundamentalisten sind die Zeitzonen sicher schon Teufelswerk.
29. Juni. Die Paul- und Schlauenseuche hatte viele prominente Opfer. (Beginn einer längeren Erörterung)
1. Juli. Stille Demütigungen durch Frauen, Teil 19: Männer müssen immer die Sekt- und Weinflaschen entkorken, weil sie dabei ein Gesicht machen wie beim Sex.
2. Juli. Heute und morgen gibt es wegen Reparaturarbeiten an den Wasserleitungen von acht bis fünfzehn Uhr kein Wasser in meiner Wohnung. Natürlich regnet es in Strömen, ich gehe mit dem Regenschirm in den Garten hinter dem Haus, um zu pinkeln. Also unter diesen Bedingungen kann ich nicht arbeitslos sein!
4. Juli. Mein Deodorant? „Kalkutta“ von Calvin Klein.
Immer, wenn ich Pudding mit dem Kochlöffel esse, weiß ich, dass es Zeit zum Geschirrspülen ist.
5. Juli. Ein Künstler muss nichts machen, er kann auch einfach nur Künstler sein. Man sollte sich von dem Zwang lösen, etwas produzieren zu wollen.
6. Juli. So ändert sich die Kindheit: Früher wurde man mit Modellbausätzen auf das Industriezeitalter, auf die Fabrikarbeit vorbereitet, heute mit Computerspielen auf das Informationszeitalter, auf die Arbeit am PC.
7. Juli. Einer der zwölf Schnapszahltage in diesem Jahrhundert.
Der Bettler, der den Millionär beim Diebstahl erwischt: unwahrscheinlich. Der Bettler, der von einem Millionär bestohlen wird: noch unwahrscheinlicher. Aber ganz groß: Bettler bestiehlt Millionär. Die Story kaufen wir.
Zum leeren Namensschild neben der Klingel an meiner Wohnungstür: Wer mich kennt, findet mich, wer mich nicht kennt, soll mich nicht finden.
12. Juli. Über Uruguay: Zwischen Brasilien und Argentinien ist ein kleiner Fleck auf der Landkarte. Man wischt, man reibt, man rubbelt, man fährt mit einem nassen Lappen drüber, aber es ist immer noch da – das ist Uruguay.
13. Juli. Biblische Frage, Teil 321: Bin ich meines Brüters Hut?
14. Juli. Verkaufsgespräch:
X: „Eine Bebauung für Freizeitzwecke ist auf diesem Grundstück erlaubt.“
Y: „Cool! Dann bauen wir eine Erdbong.“
X: „Wo studieren Sie, wenn ich fragen darf?“
Y: „Am Metaphysical Institute of No Return.“
15. Juli. Stille Demütigungen durch Frauen, Teil 88: Wenn dich eine Frau umarmt und sie dabei deinen Rücken reibt, weißt du, dass du nie mit ihr schlafen wirst.
16. Juli. Meeresrauschen: schön. Radiorauschen: nicht so schön.
Ich wiege 111 Kilogramm – das sind 555.000 Karat.
Die Frauenwelt liege Luca Toni zu Füßen, hieß es in der Sportschau. Deswegen ist sie also heute nicht bei mir.
Auch nach fünfzehn Jahren in dieser Wohnung finde ich es immer noch erstaunlich, wer alles in einem Umkreis von wenigen hundert Metern gewohnt hat: Albert Einstein, Robert Musil, Berthold Brecht, Billy Wilder, Kurt Tucholsky und schräg gegenüber Erich Kästner, von dem der Satz stammt: „Toren bereisen in fremden Ländern die Museen, Weise gehen in die Tavernen.“
22. Juli. Beliebtes Spiel für einsame Menschen: Wer hat mich zuletzt lebend gesehen?
23. Juli. Sorgen und Hoffnungen haben oft die gleiche Quelle.
Peter Gabriel – Red Rain. https://www.youtube.com/watch?v=yeK4QM8rnEs

2 Kommentare:

  1. Du hast dem Bierverkäufer wahrscheinlich Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger entgegengestreckt. Das ist aber in der in China üblichen binären Zählweise 7. Daumen und Zeigefinger hätten gelangt.

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    1. Wusste ich gar nicht. Danke! Da habe ich doch wieder was gelernt. Aber wenn man die doppelte Anzahl von Bierdosen bekommt ... es gibt Schlimmeres ;o)

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