Freitag, 26. Juni 2015

Rheinkind, Kapitel 8

Es war kühl und der Morgen dämmerte grau, als er wieder einmal mit dem Fahrrad zur Schule fuhr. Er war jetzt in der neunten Klasse und Michael, Julian und die anderen waren immer noch seine Klassenkameraden. Aber es gab drei Sitzenbleiber, die neu in der Klasse waren: Udo Saalwächter, der hochgewachsene Sprössling eines angesehenen Notars, und seine beiden Freunde, Stefan Appel aus Heidesheim, unscheinbar und blass, und Frank Wolf, ein übergewichtiger Schlägertyp aus Schwabenheim. Sie setzten sich mit ausdruckslosen Minen in die letzte Reihe.
Der Junge hatte als alter Schulprofi alles richtig gemacht und mit Julian und Michael beim ersten Betreten des neuen Klassenzimmers im vierten Stock des Neubaus eine Dreierecke belegt. Er saß mit Julian mit dem Rücken zum Fenster an der Heizung, Wärme und Frischluft waren damit garantiert. Außerdem saßen sie ganz vorne. An diesem Platz saß man fast im toten Winkel der Lehreraugen und wurde eher in Ruhe gelassen als die Schüler im Zentrum des Raums. Am Ende der Stunde war man blitzschnell an der Zimmertür und im Pausenhof. Direkt vor dem Jungen saß Michael in der ersten Reihe. Er hatte sich am Beginn des Schuljahrs freiwillig für die „Computer AG“ gemeldet. Im Sommer hatte das Gymnasium den ersten Computer angeschafft und Michael klang sehr begeistert, wenn er davon erzählte. Der Computer war kleiner als ein Fernseher und grau. Er stand in einem separaten Raum im ersten Stock neben dem Lehrerzimmer: das Tabernakel der Zukunftstechnologie. Das Zeitalter der Taschenrechner sei vorbei, da war sich Michael ganz sicher. Während Michael seinen Träumen nachhing, malte Julian mit einem schwarzen Edding gedankenverloren Comcifiguren auf den holzfarbenen Kunststofftisch. Herr Klumb, der Geschichtslehrer, erklärte ihnen gerade die Geschichte ihrer Heimatstadt. Sein kleiner Kopf, der nur noch auf Ohrenhöhe von einem dünnen Kranz Haare bedeckt wurde, war rot angeschwollen und er gestikulierte heftig mit den Händen. Ein sicheres Zeichen, dass er Betriebstemperatur erreicht hatte.
Der Junge hatte erst seit dem vergangenen Schuljahr Geschichte und bisher waren sie über die Steinzeit und die Pyramiden erst bis nach Troja gekommen. Aber da die ganze Klasse im Oktober nach Berlin fuhr und deutsche Geschichte Teil ihres dortigen Bildungsprogramms sein würde, hatte er die Geschichte Ingelheims zum Thema gemacht.
„Die Ingelheimer waren schon immer ein stolzes Volk“, verkündete der Lehrer mit erhobenen Augenbrauen. „Karl der Große, der vor zwölfhundert Jahren das Deutsche Reich gründete, hatte hier einen seiner Regierungssitze. Die Ingelheimer hatten die Aufgabe, die Kaiserpfalz zu verteidigen und für das Wohlergehen des Hofstaates zu sorgen. Als Lohn für ihre Treue waren die Ingelheimer freie Menschen und nur dem Kaiser selbst gegenüber verantwortlich – in einer Zeit, in der die Mehrzahl der Deutschen noch über viele Jahrhunderte in Leibeigenschaft leben musste. Dieser Stolz und dieser Freiheitssinn haben bis heute überlebt, obwohl die Pfalz längst zerstört, der letzte Kaiser tot und das Reich untergegangen ist.“
Nur der Gegenstand der Verehrung hatte sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt, dachte der Junge. Er ging von Karl dem Großen allmählich über zahllose Könige und Adlige zu den Fabrikherren aus Schwaben über. Sie hatten vor fast hundert Jahren die Firma gegründet, in die frühmorgens Heerscharen von Erwachsenen strömten. Hier wurden im Laufe der Jahrzehnte viele verschiedene Dinge hergestellt: Milch- und Zitronensäure, Kokain, Morphium, eine eigene Limonadensorte, im Weltkrieg künstliches Koffein und später das Entlaubungsmittel Agent Orange für den Vietnamkrieg. Die Firma war in Ingelheim hoch angesehen, da sie nicht nur tausende von gutbezahlten Arbeitsplätzen bot, sondern in der Stadt auch regelmäßig als Mäzen für Kunstausstellungen und internationale Sportveranstaltungen auftrat.
Es gab noch einen Neuzugang in der 9a: Karin Reisinger. Sie war im Sommer mit ihrer Familie aus dem Iran nach Ingelheim gezogen. Fünf Jahre hatte sie in Teheran gelebt und war dort auf eine internationale Schule gegangen. Ihr Vater handelte mit chemikalischen Grundstoffen und hatte das Land verlassen, da inzwischen ein religiöser Führer statt des Schahs regiere. Über die Herrscherfamilie im Exil hatte der Junge in den Sommerferien etwas in den Zeitschriften seiner Großmutter gelesen. Der Schah und seine Familie lebten immer noch in prächtigen Villen und wirkten auf den Bildern wie ewige Ferienreisende.
Der Junge sah zu ihr herüber. Sie passte haargenau in die enge Jeans und hatte lange dunkelblonde Haare. Mit ausdruckslosem Gesicht sah sie den Lehrer an. Man konnte nicht sagen, ob sie zuhörte oder mit ihren Gedanken weit weg war. Sie drehte den Kopf nach links und sah den Jungen an. Der Blick aus ihren hellblauen Augen traf ihn wie ein Lichtblitz und er wandte sich schnell ab.
Der Lehrer war inzwischen schon im Hochmittelalter, als die Könige in Ingelheim prächtige Feste feierten, die oft eine ganze Woche dauerten. Er beschrieb den Bau der Burgkirche und der Wehrmauern, die bis zu acht Meter hoch waren. Aber der Stadtteil, aus dem der Junge kam, wurde gar nicht erwähnt. Wie sollte Karin je etwas über ihre neue Heimat erfahren, wenn Herr Klumb immer nur von den uralten Zeiten erzählte, als diese Kleinstadt noch eine Bedeutung hatte. Das erinnerte ihn an die langweiligen Geschichten, die sein Vater und sein Großvater immer von Katzenelnbogen erzählt hatten. Bis ins 15. Jahrhundert war der Ort bedeutend, aber dann waren die Grafen auf der Burg ausgestorben oder ausgerottet worden und seither war nicht mehr viel passiert.
Aber Ingelheim-West hatte eben keinen Kaiser zu bieten. Bis 1963 gab es diesen Stadtteil noch gar nicht. Er wurde für die wachsende Belegschaft der Firma, aber auch für Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten und Mitarbeiter des neugegründeten Fernsehsenders ZDF gebaut, dessen Anstaltsgebäude nur wenige Kilometer entfernt auf dem Lerchenberg lag. Hier gab es zuvor nur die Rheinstraße als Verbindung zwischen Ingelheim und Frei-Weinheim am Flussufer. Die Straße führte durch eine sandige Gegend, sie war von Kiefern und Robinien gesäumt. Die Straße vor seinem Haus führte also ursprünglich durch den Wald. Ein Paradies für Kaninchen, Mäuse und Füchse. Die Rheinstraße traf am „Roten Türmchen“ auf die Straße zwischen Bingen im Westen und Ingelheim im Osten. Hier war früher eine Hinrichtungsstätte auf dem weithin sichtbaren „Galgenbuckel“, nur wenige Hundert Meter von seinem Kinderzimmer entfernt. 1778 wurde hier zuletzt eine Frau hingerichtet, eine 18jährige aus dem Nachbardorf Wackernheim, die ihr Neugeborenes getötet hatte. Sein Vater hatte erzählt, dass man an dieser Stelle siebzig Jahre zuvor bei Vermessungsarbeiten ein Skelett gefunden hatte, an dessen Knochen noch eiserne Ketten gehangen hatten.
1903 wurde auf dem Gebiet des heutigen Ingelheim-West eine Chemische Fabrik gebaut. Gelegentlich gab es Brände, 1906 sogar eine große Explosion. Mitte der fünfziger Jahre schloss die Fabrik, in der Teerdachpappe hergestellt wurde, für immer. Die Villa der Bankrott gegangenen Fabrikbesitzerfamilie, die der Legende nach bereits in den goldenen Zwanzigern ihr Vermögen in Spielcasinos und diversen anderen Etablissements in Paris verschleudert hatte, stand immer noch. Sie war völlig zugewuchert und für die Kinder Gegenstand der wildesten Fantasien. Angeblich war schon einmal ein Junge auf dem Grundstück gewesen, es gäbe ein Loch im Zaun, eine alte Hexe oder wahlweise ein böser Mann wohnten dort, jedenfalls alles höchstgefährlich und verwunschen.
Aber davon sprach kein Lehrer. Dafür hatte der Mathematiklehrer, ein junger Mann, der erst seit zwei Jahren unterrichtete, ihnen erzählt, dass es im nächsten Jahr zum ersten Mal eine „Sommerzeit“ gäbe. Dann würden die Uhren zweimal im Jahr verstellt. Der Junge verstand nicht, wozu das gut sein sollte. Der Lehrer hatte ihnen erklärt, dass die Preise für Benzin und Heizöl immer weiter steigen würden und auf diese Weise könne man Energie sparen, weil es abends länger hell bliebe. Das wäre auch viel besser für die Menschen, weil sie dann den Abend länger genießen könnten. Der Junge verstand immer noch nicht. Wie sollte sich etwas am Leben ändern, wenn man die Uhren verstellte? Aber er wollte den Lehrer auch nicht fragen. Er beschloss, seine Timex mit dem schwarzen Kunstlederarmband, die er als einziger in der Klasse wie ein Amerikaner am rechten Handgelenk trug, nie zu verstellen.
In der großen Pause pilgerten viele Kinder in den nahe gelegenen Supermarkt, um Cola und Chips zu kaufen. Eigentlich durfte man das Schulgelände nicht verlassen, aber es waren höchstens zwanzig Meter auf einer unbelebten Seitenstraße.
Die drei Sitzenbleiber standen für sich in einer Ecke das Schulhofs, der Junge stand mit Julian, Michael und Oliver in einer anderen Ecke. Sie diskutierten über die Graffiti, die seit gestern auf der Fassade des Schulgebäudes prangte: „Atomkraft – nein danke“ und „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Wiederstand zur Pflicht.“ Widerstand war tatsächlich mit i-e geschrieben und man vermutete die Täter allgemein in der benachbarten Realschule.
Herr Sundermann, ein Mathematiklehrer, der Pausenaufsicht hatte, trat zu ihnen. „Sagt mal, könnt ihr mir sagen, was diese Schmierereien sollen?“
Michael antwortete: „Das waren bestimmt Sozialisten. Mein Vater sagt, die Kernkraftgegner seien die fünfte Kolonne Moskaus.“ Oliver Hassemer fing an: „Isch hunn gedenkt …“
„Ich habe gedacht!“ unterbrach ihn der Lehrer barsch. Der rheinhessische Dialekt wurde den Kindern auf dem Gymnasium systematisch ausgetrieben.
Der Junge dachte sich seinen Teil. Für ihn waren die Neuen in der Klasse die Täter. Der dicke Frank mit seiner schwarzen Lederjacke machte sicher alles, was ein bisschen Spaß versprach. Legal, illegal, scheißegal. Der blasse Stefan in seinem Bundeswehrparka war der typische Mitläufer. Und dann Udo mit seinen schulterlangen Haaren, der sich wahlweise als Nihilist oder als Anarchist bezeichnete. Mit beiden Begriffen konnte der Junge nichts anfangen. Aber er ließ sich die Haare jetzt auch länger wachsen. Zuletzt hatte ihm seine Mutter im Mai die Haare geschnitten. Und genauso hatte er hinterher ausgesehen: die bleiche Stirn lag offen wie bei Frankensteins Monster, nachdem sie seine dunklen Locken abgeschnitten hatte. Auch mit den nachtblauen Sweatshirts und den braunen Halbschuhen konnte es nicht ewig so weitergehen.
***
Am Nachmittag traf sich der Junge mit Julian. Er stellte sein Fahrrad vor dessen Haus ab und sie gingen den Neuweg hinunter zum Marktplatz. Endlich war Rotweinfest und tausende Besucher strömten am letzten Wochenende im September in die Stadt. Auf dem Marktplatz war eine große Menschenmenge, von einem Balkon winkte die Rotweinkönigin. Sie hatte tatsächlich ein mittelalterlich wirkendes, weinrotes Kleid an. Ihre riesige getönte Brille wirkte insektenhaft und über einer kurzen blonden Föhnwelle thronte ein goldenes Krönchen. Die Jungs gingen weiter, auf dem Weg vom Marktplatz zur Burg waren die Tore der Weingüter weit geöffnet. Aus Fenstern und Türen drang das Gemisch vieler Stimmen. Er sah rotgesichtige Menschen, die an langen Holztischen beim Wein saßen. Die Luft war rauchgeschwängert, helles Gelächter und Frauenkreischen drang aus einer der hinteren Ecken. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass an Wochentagen ganze Abteilungen der Firma nach der Mittagspause gemeinsam auf das Fest gehen würden. Sie selbst ging jedoch nie hin.
Innerhalb des Burggeländes, das von einer schlichten Kirche geprägt und von Bruchsteinmauern umschlossen war, gab es nur einige Stände, die sie schnell hinter sich ließen. Als die beiden Jungen durch das östliche Burgtor auf das eigentliche Festgelände kamen, empfing sie Schunkelmusik und eine Lautsprecherstimme lockte zu einem monströsen Stahlkraken, der sich kreischend und blinkend im Kreis drehte. Für so etwas würde der Junge bestimmt kein Geld ausgeben. Die Fahrgeschäfte waren teuer und das Vergnügen war allzu schnell vorbei.
Sie schlenderten in Ruhe über das Festgelände und blieben eine Weile beim Autoscooter stehen. Hier waren viele ältere Jungs und die Musik war viel besser: Rockmusik statt Schlager. Sie beobachteten einen jungen Kerl, der lässig die leeren Autoscooter zu ihrem Platz zurück fuhr, ohne sich hineinzusetzen. Er sah richtig gefährlich aus mit seinen kräftigen Oberarmen und den fehlenden Schneidezähnen.
Dann gingen sie zum Schießstand hinüber. Julian wollte sich einen schwarzen Spielzeugrevolver schießen, aber von fünf Schüssen traf er nur zwei Mal. Sie gingen am Süßigkeitenstand vorbei, dann an der opulenten Losbude mit den riesigen Plüschtieren, dem Kinderkarussell und schließlich dem „Hau den Lukas“. Am Ende des Festplatzes stand ein riesiges weißes Festzelt. Sie schauten nur kurz hinein. Die lebhaften Gespräche an den langen Tischen im vollbesetzten Zelt machten regelrecht Lärm und ein halbes Dutzend Frauen in Trachtenkleidern trugen große Tabletts mit funkelnden Weingläsern durch die Gänge. Im Hintergrund war eine Bretterbühne zu erkennen, auf der gerade eine Kapelle in Bergmannstracht spielte. Sie waren trotz der Mikrophone und Verstärker kaum zu hören. Für den Abend kündigten die Plakate einen Schlagersänger an, der vor einigen Jahren sogar schon einmal in der ZDF-Hitparade aufgetreten war.
Dann schlenderten sie ebenso gemächlich wieder zurück und kauften sich etwas zum Essen. Sie setzten sich auf die Stufen einer Treppe, die vom Festzelt zu einem kleinen Weg hinauf führte, und blickten von dort auf das bunte Gewimmel der Festgäste hinab. Direkt hinter ihnen begannen die Weinberge, die sich um Ober- und Niederingelheim herum in alle Richtungen ausdehnten. Der Junge aß bedächtig kauend sein Popcorn, Julian betrachtete liebevoll seine Zuckerwatte und biss hinein. Eine Weile sagte keiner etwas.
Dann zog Julian ein kleines gelbliches Päckchen aus der Innentasche seiner Jeansjacke. „Sie mal, was ich hier habe.“
Der Junge erkannte die Zigarettenschachtel und kannte alles andere in Julians grinsendem Gesicht lesen. „Wo hast du die her?“ „Die Packung aus dem Mülleimer und die Zigaretten von meinem Alten.“
„Wo wollen wir das machen?“
Julian stand auf und deutete mit dem Kopf in Richtung Weinberge. „Wir müssen uns einen guten Platz suchen.“
Sie gingen einen Feldweg hinauf, links und rechts die monotonen Reihen der Rebstöcke. In der Ferne knatterte ein Traktor. Als man das Rotweinfest nicht mehr sehen konnte, setzten sie sich auf eine kleine Bruchsteinmauer.
Julian zündete ein Streichholz an und hielt es an die Zigarette, die er sich zwischen die Lippen gesteckt hatte.
Der Junge hatte das schon eine Million Mal bei seinen Eltern oder anderen Erwachsenen gesehen, aber diesmal war es ganz anders. Er beobachtete, wie Julian an der Zigarette zog. Die Spitze glimmte kurz auf und im gleichen Augenblick pustete er den Rauch schon wieder aus.
Julian sah ihm in die Augen und gab ihm die Zigarette.
Der Junge nahm sie und saugte der Rauch ein, der wie ein Hammer seine Kehle traf. Er hustete und Julian klopfte ihm lachend auf den Rücken.
„So ging es mir neulich auch, als ich in unserem alten Nachbarhaus gesessen und heimlich geraucht habe. Ganz langsam anfangen, nicht zu heftig ziehen!“
Bei seinem zweiten Zug schmeckte der Junge das würzige und beißende Aroma des Tabaks auf seiner Zunge.

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