Montag, 24. August 2015

Das schwarze Notizbuch 2

Auf dem Breitscheidplatz ist irgendein Volksfest. Buden und Kirmesmusik. Egal. Viele Menschen. Wichtig. Ich drängele mich durch die Massen der Schaulustigen in Richtung Europa-Center. Auf dem breiten Bürgersteig Richtung Wittenbergplatz kann ich endlich wieder Fahrt aufnehmen.
Ich drehe mich um. Nichts von den Amis zu sehen. Aber ich entdecke Lakeside Billy. Sicherheitshalber wechsle ich die Straßenseite. Mist. Das ist Roadside Joey. Das kann kein Zufall sein. Sie arbeiten beide für Big Bird Schmockinsky von der irischen Mafia, der seinen fetten Arsch noch nie aus dem düsteren Hinterzimmer des „Hole in the Wall“, einem altehrwürdigen Dubliner Pub in der Blackhorse Avenue, bewegt hat.
Ich gehe ins KaDeWe. Vor dem Eingang in Berlins bedeutendsten Konsumtempel vereinigen sich die beiden rothaarigen Kleiderschränke mit ihren identischen Tweed-Sakkos. Erst mal zu den Fahrstühlen. Es warten schon eine Menge Leute. Endlich öffnen sich die Türen. Lakeside Billy steigt mit ein. Die alte Masche: einer verfolgt mich, einer überwacht die Ausgänge.
Ich sehe Billy nicht an. Er sieht mich nicht an. Ich fahre bis in die oberste Etage und steige nicht aus. Wir fahren wieder abwärts. Im zweiten Stock steige ich aus und fahre wenig später mit einem anderen Fahrstuhl weiter. So geht es eine Weile, bis wir für einen Augenblick allein sind. Lakeside Billy und ich.
„Ich weiß, dass du es hast“, sagt er mit rauer Stimme. Seine fleischigen Ohren stehen im rechten Winkel von seinem Schädel ab und seine riesigen falschen Zähne glänzen wie Porzellan.
„Du weißt einen Scheiß. Ich hab gar nichts“, lüge ich tapfer und hoffe, dass in der nächsten Etage jemand zusteigt.
„Das kannst du deinem Urologen erzählen“, sagt er grinsend und seine behaarte Pranke greift nach mir.
Die Tür geht auf und ein Schwall Chinesen drängelt sich in den Fahrstuhl und drängt den verdutzten Billy an die Rückwand. Ich schlüpfe an der Seite hinaus und winke ihm noch zu, als sich die Tür schließt.
Ich gehe zu den Rolltreppen und fahre ein Stockwerk höher. An den Seiten sind lange Spiegel angebracht. Wenn Sie mich fragen: Um der Eitelkeit der Kundschaft zu schmeicheln. Ich sehe mich an und setze ein ganz entspanntes Ich-könnte-mal- wieder-ein-Buch-kaufen-Gesicht auf. Mit diesem Gesicht schlendere ich in angemessenem Tempo zu den Rolltreppen im hinteren Teil des Stockwerks und fahre zur Damenabteilung im ersten Stock hinunter.
In der Nähe der Umkleidekabine sehe ich nur eine ältere Dame in einem lavendelfarbenen Kostüm, Typ Zahnarztwitwe. Ich schaue mir einige Blusen an, bis sie verschwunden ist. Dann nehme ich irgendeine Bluse und gehe in eine Umkleidekabine. Um diese Uhrzeit ist im KaDeWe nie etwas los, höchstens in der Feinschmeckeretage, die permanent große Mengen von Touristen anzieht.
Ich warte eine halbe Stunde, dann gehe ich hinaus. Eine Frau um die Vierzig sieht mich erst erschrocken und eine Sekunde später streng an. Ich antworte mit einem anzüglichen Grinsen. Ich bin ein Transvestit und kaufe hier ein. Es funktioniert. Der Hauch eines verständnisvollen Lächelns. Die Geschichte wird sie später ihren Freundinnen erzählen, aber nicht ihrem Mann.
Die Bluse hänge ich zurück und gehe ins Treppenhaus. Wer benutzt schon das alte Treppenhaus, wenn es nicht brennt? Es führt zur Tiefgarage und zur Passauer Straße. Ich sehe mich kurz um. Kein Lakeside Billy und kein Roadside Joey zu sehen. Ich bewege mich von der belebten Tauentzienstraße weg, am russischen Supermarkt vorbei, zur Augsburger Straße.
Dort steige ich die Treppenstufen zur U 3 hinab. In der U-Bahn sitzen viele junge Leute, die zur Uni fahren. In Dahlem-Dorf und am Thielplatz steigen sie aus. Ich fahre bis Onkel Toms Hütte weiter. Es sind nur noch wenige Menschen in der Bahn.
Auf dem Bahnsteig wende ich einen alten Trick an, den ich aus einem Kriminalroman kenne. Ich setze mich auf eine Bank auf der gegenüberliegenden Seite, um herauszubekommen, ob mir noch jemand folgt. Ich warte in aller Ruhe, bis sich der Bahnsteig leert. Eine U-Bahn Richtung Innenstadt fährt ein. Menschen steigen aus, Menschen steigen ein. Die Bahn fährt ab. Ich warte noch eine Bahn ab und steige wieder nicht ein. Jetzt ist es nur noch ein einzelner Mann, der etwa fünfzig Meter von mir entfernt auf die Gleise starrt. Ich beobachte ihn nur aus den Augenwinkeln.
Es ist keiner der beiden Iren. Als ich in die nächste Bahn steige, tut er das gleiche. Spielen wir das Spiel, mein Freund.
Roxy Music - More Than This. https://www.youtube.com/watch?v=MEKXBZWk6B8

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen