Mittwoch, 5. August 2015

Der Meister und sein Publikum

Größe! Außerordentlichkeit! Welteroberung und Unsterblichkeit des Namens! Was galt alles Glück der ewig Unbekannten gegen dies Ziel? Gekannt sein, - gekannt und geliebt von den Völkern der Erde! Schwatzet von Ichsucht, die ihr nichts wisst von der Süßigkeit dieses Traumes und Dranges! (…) Eine fliegende Röte war in seine hageren Wangen getreten, eine Lohe, emporgeschlagen aus der Glut seines Künstleregoismus, jener Leidenschaft für sein Ich, die unauslöschlich in seiner Tiefe brannte. Er kannte ihn wohl, den heimlichen Rausch dieser Liebe. Zuweilen brauchte er nur seine Hand zu betrachten, um von einer begeisterten Zärtlichkeit für sich selbst erfüllt zu werden, in deren Dienst er alles, was ihm an Waffen des Talentes und der Kunst gegeben war, zu stellen beschloss. Er durfte es, nichts war unedel daran. Denn tiefer noch als diese Ichsucht lebte das Bewusstsein, sich dennoch bei alldem im Dienste vor irgendetwas Hohem, ohne Verdienst freilich, sondern unter einer Notwendigkeit, uneigennützig zu verzehren und aufzuopfern.“ (Thomas Mann: Schwere Stunde)
Es war ein regnerischer Dienstag im Oktober. Ein Tag wie geschaffen, um in Schweinfurt zu lesen. Das Stadttheater war gut gefüllt. Einige Wochen zuvor hatte Andy Bonetti den Konsalik-Preis des deutschen Bahnhofsbuchhandels verliehen bekommen, so dass bei der anschließenden Lesereise durchaus größere Säle gebucht werden konnten.
Bonetti saß in seinem weißen Anzug mit der karmesinroten Krawatte auf der Bühne an einem schlichten Holztisch und wartete, bis sich der Begrüßungsapplaus gelegt hatte. Dann nippte er an seinem Wasserglas – das in Wirklichkeit mit Gin gefüllt war – und begann, aus seinem neuen Werk „Die Schweinesülze am Ende der Straße“ vorzulesen. Die Menschenmenge lauschte stumm, und während er las, fragte Bonetti sich, was die Zuhörer in diesem Augenblick wohl denken mochten.
„Natürlich beginnt er mit einem atmosphärischen Einstieg“, dachte der Amateurdichter. „Er beschreibt das Wetter, den Ort und die Zeit. Na bitte, das hätte ich auch gekonnt. Ich habe Höllenrauch & Schobel, Bonettis Verlag, schon drei Romanmanuskripte geschickt und nur Absagen bekommen. Was der Mann kann, kann ich auch. Ich sag’s ja immer: Beziehungen sind alles. Wenn du dazu gehörst, gehörst du dazu. Dann wirst du gedruckt und dann verdienst du Geld.“
„Also die Aufnahmen in der ‚Landbild der Frau‘ waren sicher mit Photoshop bearbeitet“, dachte die elegante Mittvierzigerin, die sich extra einen Platz in der ersten Reihe reserviert hatte. „Aus der Nähe betrachtet sieht man ihm seine fünfzig Jahre schon an. Wenn das Alter überhaupt stimmt. Diese Medienmenschen schummeln doch immer mit ihrem Alter. Außerdem ist er viel zu dick. Das kann auch der Anzug nicht verdecken. Der Mann hat einen regelrechten Bierbauch. Und die Ringe unter den Augen. Das schüttere Haar. Also für mich wäre der Typ nix, Dichter hin oder her.“
„Ich schätze mal, dass hier zweihundert Leute im Saal sind. Die Karte kostet zwanzig Euro“, dachte der Kaufmann, der die Filiale eines Baumarktes leitete. „Das macht viertausend Euro brutto. Davon muss man die Saalmiete abziehen und das Personal. Bleiben vielleicht zweitausend Euro für diesen Schreiberling. Gut, davon muss er die Reisekosten abziehen und den Rest versteuern. Bleiben locker zwölfhundert Euro. Für zwei Stunden, in denen er aus seinem Buch vorliest. Das ist echt ein Witz! Und hinterher werden seine Bücher noch im Foyer verkauft, da verdient er gleich nochmal. So leicht möchte ich’s auch mal haben. Künstler! Von ehrlicher Arbeit wissen diese Typen natürlich nichts.“
„Was für ein langweiliger Scheiß“, dachte der Politiker. „Noch zwei Stunden? Aber ich kann mich ja schlecht verdrücken. Muss mir der Veranstalter einen Platz in der ersten Reihe geben? Das gehört zu den Nachteilen meines Jobs. Hinterher soll mich der Semmelmayr von der Zeitung mit ihm fotografieren, da habe ich wenigstens eine gute Presse. Schließlich ist in drei Monaten die Wahl zum Stadtrat. Verdammter Mist! Aber ich muss es halt absitzen wie einen Gottesdienst.“
„Ein weißer Anzug. Furchtbar“, dachte der Boutiquebesitzer. „Aber Künstler glauben ja, alles anziehen zu können. Er sieht doch aus, als würde er gerade in Las Vegas auftreten. Mit Siegfried & Roy. Und dann diese weißen Lederschuhe mit den weißen Socken. Weiße Socken passen zu gar nichts. Noch nicht einmal zu einem weißen Anzug. Also ich hätte ihm ja einen anthrazitfarbenen Kaschmirpullover angezogen, dazu eine apricotfarbene Hose und dunkelbraune Wildlederschuhe. Ein weißer Anzug! Er will prätentiös erscheinen und wirkt doch nur ordinär. Und diese Krawatte …“
„Der Konsalik-Preis, das ist bares Geld“, dachte der Verlagsleiter. „Wieviel Prozent wird er in seinem Vertrag stehen haben? Zwanzig, fünfundzwanzig Prozent? Bei seinem ersten Verlag in Saarbrücken hatte er noch fünf Prozent am Umsatz nach Mehrwertsteuer. Als wir mit ihm verhandelt haben, war er bei zehn Prozent. Da hätten wir ihn haben können. Aber der Alte wollte ja keine Krimis. Dieser Kretin! Mit Krimis werden inzwischen die besten Umsätze gemacht. Aber er wollte ja unbedingt seine künstlerischen Ansprüche im Programm verwirklicht haben und hat Bonetti abgesagt. Millionen hätten wir mit diesem Mann verdient. Millionen! Wenn ich nur an die Filmrechte denke.“
„Das ist der blödeste Mist, den ich je gehört habe“, dachte das Kind. „Wieso geht ein Mann mit einem Strauß roter Rosen in ein Kino? Das ist doch total unpraktisch. Dann hat seine Freundin doch die ganze Zeit die Rosen in der Hand. Und wann kommt endlich die Sülze ins Spiel? Nur weil ich ab nächstem Schuljahr Deutsch als Leistungskurs in der Schule habe, schleppt mich meine Mutter hierher. Ich könnte ihr den Hals umdrehen. Und mein Smartphone hat sie natürlich einkassiert. Wie soll ich das nur zwei Stunden aushalten? Inzwischen stapeln sich die Nachrichten und meine Freunde denken, ich wäre tot.“
„Er ist eine lebende Legende. Nein, ist er nicht. Das ist kein guter Einstieg“, dachte der Lokaljournalist. „Er hat den Kriminalroman neu definiert – und zwar in Angriff und Verteidigung. Reiß dich zusammen! Du machst jetzt Feuilleton und nicht mehr Sport. Auf jedem Fall muss rein: Saal bis auf den letzten Platz gefüllt, tosender Applaus, Konsalik-Preisträger. Den weißen Anzug bringe ich auch unter. Und den Buchtitel. Wie hieß die Schwarte noch gleich? Irgendwas mit Sülze. Ich bekomme hinterher sicher ein Belegexemplar. Da schau ich dann bei Amazon nach der Zusammenfassung und den Kommentaren. Dazu ein paar Fotos von Bonetti mit der Lokalprominenz. Das krieg ich schon hin. Dazu muss man nicht Germanistik oder so einen Käse studiert haben.“
„Stilistisch ist er halt doch eher schlicht“, dachte die ältere Deutschlehrerin. „Früher hatte er teilweise die expressionistische Wucht eines Werfel, die sprachliche Innovationskraft eines Arno Schmidt und die epische Tiefe eines Grass. Aber das ist wirklich äußerst konventionell. Die Hauptfigur trägt überhaupt keinen Konflikt aus. Sie scheint mit sich selbst im Reinen zu sein und lebt auch noch in einer intakten Beziehung. Rote Rosen! Das ist metaphorisch auf Hauptschulniveau. Und wieso spielt die erste Szene in einem Kino. Da müsste man etwas mit neuen Medien machen. Meine Schüler schauen doch alle nur noch Youtube.“
„Hoffentlich kippt er mir da oben nicht um“, dachte der Veranstalter. „Eine ganze Flasche Champagner zur Einstimmung, wie er es nennt. Und dann Gin im Wasserglas. Und welcher Schriftsteller hat es im Vertrag stehen, dass in seiner Garderobe eine Flasche Bushmills, eine Flasche Bombay Sapphire und eine Flasche Zubrowka stehen muss? Und anschließend kommt noch der Smalltalk mit den Honoratioren der Stadt. Da habe ich von Kollegen schon schlimme Dinge gehört. Wir haben hier bald Wahlen, das muss ich ihm nach Abschluss der Lesung nochmal klarmachen. Da kann er nicht wieder mit seinem humanistischen Geschwafel kommen, wo wir hier bald ein neues Flüchtlingslager bekommen.“
„Endlich kann ich ihn mal sehen“, dachte der Fan. „Eine Wahnsinnsstimme. Immer, wenn ich in Zukunft Bonetti lese, werde ich diese Stimme im Ohr haben. Diese beruhigende sonore Bassstimme. Wie gelassen er am Tisch sitzt. Nicht ein Versprecher. Ganz souverän. Der Künstler auf der Höhe seines Schaffens. Niemand bringt die Schwingungen unserer Zeit so auf den Punkt wie er. Eine Szene in einem Kino. Ein roter Blumenstrauß. Das sind Zitate, das ist Ironie, das ist Retro, das ist Postmoderne. Und die Geschichte spielt in Offenbach. Trotz seines weltweiten Erfolgs hat er seine Heimat nie vergessen. Er bleibt Hessen treu. Die Story könnte ja auch in Honolulu oder Katmandu spielen. Er ist auf dem Boden geblieben. Sich selbst und seinen Fans treu geblieben. Nachher werde ich mir ein signiertes Exemplar kaufen, obwohl ich das Buch schon habe.“
„Noch eine Stunde“, dachte Bonetti, als er verstohlen auf seine Armbanduhr schaute. Dann nahm er einen tiefen Schluck aus seinem Glas.
„Nur bei Stümpern und Dilettanten sprudelte es, bei den Schnellzufriedenen und Unwissenden, die nicht unter dem Druck und der Zucht des Talentes lebten. Denn das Talent, meine Herren und Damen dort unten, weithin im Parterre, das Talent ist nichts Leichtes, nichts Tändelndes, es ist nicht ohne weiteres ein Können. In der Wurzel ist es Bedürfnis, ein kritisches Wissen um das Ideal, eine Ungenügsamkeit, die sich ihr Können nicht ohne Qual erst schafft und steigert. Und den Größten, den Ungenügsamsten ist ihr Talent die schärfste Geißel…“ (Thomas Mann: Schwere Stunde)
David Bowie - It's No Game (Part 1). https://www.youtube.com/watch?v=9KdYAVjRiJ4

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