Montag, 28. Dezember 2015

Berliner Asche, Kapitel 4, Szene 7

Alles Langsame und Wiederkehrende übt eine beruhigende Wirkung auf uns aus. Das Neue und das Schnelle verursachen Stress, den wir gerade an heißen Sommertagen vermeiden möchten. Besonders entspannend sind daher langsame, wiederkehrende Ereignisse an Sommernachmittagen, beispielsweise im „Bierbrunnen“. Hier bediente der vermutlich langsamste Kellner der Milchstraße, ein uralter Mann namens Helmut, der mit einem unerschütterlichen Stoizismus und der Weisheit der Schnecke ausgestattet war. Wenn dieser tapfere Greis ein einziges, sanft leuchtendes Weizenbier an einen Tisch brachte, dachte man unwillkürlich an den Film „Die Zeitmaschine“: Während des langen Weges vom Tresen zu einem der Tische könnte die Sonne unter- und wieder aufgehen, Jahreszeiten könnten vergehen, Weltreiche entstehen und verfallen. Es erfüllte Mardo jedes Mal mit großer Dankbarkeit, wenn er seinen Tisch erreicht und ihm mit unsicherer Hand das Glas entgegen streckte. Seine Arbeit hypnotisierte ihn wie eine Lavalampe, ein Nachmittag, der nie zu Ende gehen würde.
Mardo saß bereits seit einer halben Stunde im „Bierbrunnen“, einer Traditionskneipe gegenüber dem Gesundbrunnen-Center in der Behmstraße, und wartete auf seinen Freund Marek Smrz. Am Ende der Straße war früher die Plumpe gewesen, das alte Stadion von Hertha BSC. Auch heute noch trafen sich hier viele Hertha-Fans und Mitarbeiter des Clubs. „In ist, wer drin ist“, so stand es auf der Fensterscheibe. Während die Menschen ins gegenüber liegende Einkaufszentrum strömten, war im Lokal nur wenig los. Am Tresen saß noch ein alter Mann mit gebügelter Jeansjacke und einem weißen Mini-Pferdeschwänzchen, der tapfer ein kleines Schultheiß hinunter spülte. Es war früher Nachmittag und einfach zu heiß für die ernsthaften Biertrinker. Das ist so ein Tag, da räkelt sich die ganze Stadt wie eine Katze in der Sonne, dachte Mardo, und trank sein Mineralwasser aus. Marek nahm es mit den Verabredungen nie sonderlich genau und an einem solchen Tag würde er sich bestimmt nicht beeilen. Es gehörte zu seinem minimal-invasiven Lebensstil, sich möglichst stressfrei durch die Stadt zu bewegen. Selbst in seiner kleinen Wohnung ging er langsam, da sie ihm dann größer erschien, hatte er einmal erzählt.
Zeitmanagement, dachte Mardo, na klar. Das hatten ihm seine Lehrer in der Schule auch beibringen wollen. Fangen wir doch mal am Morgen an: Acht Stunden Schlaf sind natürlich zu viel. Da reichen auch sieben Stunden, später sechs. In die gewonnene Stunde packe ich zwei Stunden neue Action, um sicher zu gehen, dass keine Langeweile aufkommt. Ganz wichtig! Und: an verschiedenen Orten Aktivitäten entwickeln, nie am gleichen Ort. Ziehharmonikaunterricht in Spandau und finnischer Gruppentanz für Laktosetolerante in Köpenick – da kommt auch gleich ein bisschen Fahrzeit und Fahrspaß zusammen. So ist man immer ein bisschen zu spät, entsprechend gereizt und kann seine ganze Umgebung nerven. „Wie mache ich mich selbst fertig – in zehn Lektionen“. Nein danke, solche Bücher über Zeitmanagement gab es massenhaft und sie führten geradewegs ins Herz des Unglücks: die Unerbittlichkeit der Vernunft. Mardo verließ sich lieber auf seinen Bauch.
Ein feister Kerl betrat den Bierbrunnen und setzte sich neben den Typen mit dem Pferdeschwänzchen. Er bestellte sich eine Molle, wie die Eingeborenen ein Glas Bier nennen, und fing an zu berlinern.
„Dit wa’ne richté jute Idee, Atze. Jefällt ma.“
„War donné so dolle, Keule. Ersma abwartn, wie dit weiterlooft.“
„Nee eschtma. Dit war jut. Erstklassje Russenweiba. Unn billisch.“
„Ehrlé?“
„Na, wenn ick et saache. Unn im Osten bin ick ooch jewesn. Wa no nie vorher in Weißensee jewesn.“
„Quatsch né so ville.“
Das bestellte Bier kam und beide tranken ihr Glas in langen Zügen leer.
„Fehlt aba no so’n rischtja Korn, würg ma saan. Watt fürs Herz, wa Atze?“
„Dit kennwa! Nix druff außer Zahnbelach, aba trotzdem dit jroße Maul uffjerissen.“
„Nu reg da ma nich uff, alter Schrittschwitzer.“
„Glei hau ick dir eene, du Zwergschwulette.“
„Wer biss du denn? Hasde überhaupt een Namen?“
Sie lachten beide und enthüllten umfangreiche Zahnlücken.
Mardo war in dieser Stadt geboren, aber er verstand den hiesigen Dialekt immer noch nicht richtig. Im Zentrum, am Brandenburger Tor oder am Potsdamer Platz traf man schon längst keine echten Berliner mehr. Die Eingeborenen hatten sich tief in den Dschungel zurückgezogen.
Dann betrat Marek den „Bierbrunnen“. Er lächelte über die ganze Breite seines großflächigen Gesichts, als er Mardo sah.
„Hallo, Jan. Wie geht es Dir?“
„Meine Ärzte sagen, ich wäre völlig ungefährlich.“
Marek lachte laut, dann setzte er sich zu Mardo an den Tisch. „Wie hälst du diese Hitze zu Hause aus?“
„Ich lege mich regelmäßig in eine Badewanne mit kaltem Wasser, das spart gegenüber dem ständigen Duschen bares Geld“, antwortete Mardo. „Ich sitze am PC wie ein Tennis-Profi mit Handtuch an der Armlehne. Und gegen den Salzverlust beim Schwitzen trinke ich Kristallweizen.“
„Heute wärst du besser aus dem Haus gegangen. Menschenskind, da hast du was verpasst.“
„Was denn?“
„Riesendemo bei den Nazis. Die Polizei war sogar mit Wasserwerfern da.“
Mardo schaute seinen Freund verwundert an. „Was machst du denn auf einer Demo? Ist doch sonst nicht deine Art, deine Gesinnung stundenlang und bei jedem Wetter durch bloßes Wandern zu vermitteln.“
„Ich war jung - und hab noch nicht mal Geld dafür bekommen. Nein, im Ernst: Im Moment ist doch die Hölle los. Außerdem gibt es im Sommer nichts im Fernsehen und an den Unis ist auch nichts los.“
Mardo grinste. „Seit wann studierst du denn?“
Marek grinste zurück. „Ich studiere die Frauen.“
„Ludmilla, verstehe.“
Marek ging auf dieses schwebende Verfahren nicht näher ein. „Und was macht deine Flamme. Habt ihr Krach, weil wir uns hier treffen und nicht an deinem eigenen Zapfhahn?“
„Ich will Julia nicht im Weg sein. Jetzt ist Yasmin bei ihr und hilft in der Küche mit. Ich habe ja auch offiziell mit einem neuen Auftrag zu tun.“ Wer weiß wie Julia reagiert, wenn ich mit einem Kumpel ein Bier in meiner Kneipe trinke und sie muss währenddessen die Gäste bedienen? Mardo hatte Bedenken, weil Julia genauso nervös war wie er selbst. Das behielt er aber lieber für sich. Marek hob die Augenbrauen. „Was denn für einen Auftrag?“
„Heute Nacht hat der Brandstifter oder irgendein Trittbrettfahrer auch bei uns im Kiez Feuer gelegt. Du weißt doch, dass nur ein paar Häuser weiter von unserem Lokal ein Biomarkt eröffnet hat.“
„Na klar. Der erste Biomarkt im Brunnenviertel. Müssen sich die Spielcasinobetreiber jetzt Sorgen machen?“
Mardo schüttelte den Kopf. „Ganz sicher nicht. Der Wedding bleibt das Las Vegas für Arme. Aber es wurden Prospektstapel angezündet, die vor dem Eingang lagen. Ist nicht viel passiert. Aber Julia macht sich natürlich Sorgen. Zwischen uns und dem Feuer liegt ja nur noch der Chinese.“
„Das Gasthaus ‚Zur winkenden Katze’?“ Jeder im Brunnenviertel nannte den Laden so, weil im Fenster eine goldenfarbene Plastikkatze stand, die permanent grinste und winkte. Den wirklichen Namen des Lokals konnten vermutlich nur die Chinesen aussprechen.
„Ja“, antwortete Mardo. „Im Moment wird einfach alles angezündet. Autos, Kinderwagen, Menschen. Die Gastwirte zahlen mir eine Fangprämie, wenn ich mir den Feuerteufel schnappe. Außerdem hat die Polizei noch eine hohe Belohnung ausgesetzt. Julia und ich machen uns natürlich auch Sorgen, ist doch klar.“ Er schwieg einen kurzen Augenblick. „Julia lässt sich natürlich nichts anmerken, aber sie ist total nervös. Wenn sie den Laden nicht ins Laufen bringt, kriegt sie die Krise.“
Der Kellner unterbrach das Gespräch und sie bestellten beide ein Mineralwasser mit viel Eis.
Marek blickte ernst. „Glaubst du wirklich, dass du eine Chance hast? Die Polizei ist ja praktisch komplett hinter dem Brandstifter her. Und in den Medien ist es ein Riesenthema, die Journalisten schwärmen doch auch gerade aus.“
Mardo winkte nur ab. „Die Presse, die schreiben doch immer das gleiche, vor allem in Westdeutschland. In Berlin herrscht natürlich wieder Chaos. So denken die Leute in der Provinz. Aber es ist immer noch eine deutsche Stadt und nirgendwo ist die Paragraphendichte so hoch wie in Deutschland. Berlin steht nicht kurz vor dem totalen Chaos, sondern kurz vor der totalen Ordnung. Aber so läuft das Spiel: Man macht den Leuten Angst und dann bietet man ihnen gleich die Lösung an. Mehr Polizei, mehr Paragraphen, mehr Verwaltung. Die Panikmacher sind auch gleich die Apotheker, wie praktisch.“
„Und die Politiker hauen natürlich in die gleiche Kerbe“, pflichtete ihm Marek bei.
„So ist die Politik eben: neue Gesichter und alte Argumente. Immer das gleiche.“
„Was sagst du denn als Detektiv zu dem toten Immobileinfritzen? Glaubst du, es ist der gleiche Täter wie bei eurem Biomarkt auf der Brunnenstraße?“
Mardo schüttelte mit ernstem Gesichtsausdruck den Kopf. „Das ist alles zu viel für eine Person. Ich glaube, da beteiligen sich eine Menge Leute an der Sache. Und so mancher wird sein Auto selbst anzünden, um die Versicherung abzuzocken.“
„Die Linke freut sich jedenfalls. Der Staat zeigt sein wahres Gesicht und schickt seine Knüppelgarden, die Nazis liefern ein klares Feindbild, jede Menge Presse und damit Aufmerksamkeit für ihre Pamphlete. Könnte doch gar nicht besser laufen. Die waren heute regelrecht euphorisch. Da denken manche, jetzt brennen bald die Barrikaden und wir machen hier Revolution.“
„Da hast du Recht. Alles deutet auf die Linksradikalen hin. Aber irgendwie ist mir die Sache zu glatt.“
Die Eiswürfel in ihren Gläsern waren inzwischen geschmolzen. Am Tresen stieß man gerade mit Mampe an, einem ungenießbaren Berliner Kräuterschnaps.
„Ja, aber du weißt ja, wie humorlos die Linken gerade in Neukölln sein können. Das sind Miesepeter, Besserwisser und Rechthaber.“
Mardo nickte. Während der Fußballeuropameisterschaft hatten linksautonome Herrenmenschen eine libanesische Familie in der Sonnenallee massiv unter Druck gesetzt, eine deutsche Fahne zu entfernen. Als sie dem Befehl der schwarzen Kapuzenträger nicht nachgegeben haben, wurde die Fahne vernichtet. Aber die Migranten hatten sich dem Terror nicht gebeugt, sondern eine neue Fahne aufgehängt. So lange, bis die Linken aufgegeben hatten. Auch die vielen anderen Araber und Türken in Neukölln, denen die Fahnen vom Auto geklaut wurden, hatten sich nicht einschüchtern lassen. Sie haben es einfach satt, sich in die Rolle des unterdrückten Ausländers pressen zu lassen, dachte Mardo. Und sie haben dabei bewiesen, dass sie mehr über die Geschichte dieses Landes wissen als die hochnäsigen linken Blockwarte. Schwarz-rot-gold ist die Farbe der Republik, nicht die Farbe der Monarchie oder der Diktatur. Die Migranten haben sich längst vom Gesinnungsterror der Linksradikalen emanzipiert, Kreuzberg oder Neukölln gehören nicht westdeutschen Rechtsanwalts- und Zahnarztkindern, die nach Berlin kommen und Revolution spielen wollen. Es mag sicherlich viele Unterschiede zwischen Rechts- und Linksradikalen geben, der IQ, die Methoden und das arrogante Herrenmenschentum gehören sicher nicht dazu. Mit den charakterlichen Qualitäten, die der autonome Block dieser Tage gezeigt hat, hätte man auch mühelos in der SA oder der Waffen-SS Karriere gemacht. Egal ob Links- oder Rechtsradikale: Es waren immer humorlose Pedanten, die einen ganzen Haufen Prinzipien und Regeln mit sich herum trugen. Eine ziemlich deutsche Angelegenheit, dachte Mardo. Kein Wunder, das es kaum Migranten bei den Linksradikalen gab. Bei den Rechtsradikalen stellte sich die Frage ja erst gar nicht.
Marek sah, dass sein Freund mal wieder in schwermütiges Grübeln versunken war. Aber Melancholie half ihnen nicht weiter. Also beschloss er, das Thema zu wechseln. „Was machst du denn mit der Belohnung? Steckst du alles ins Lokal?“
„Der Laden muss sich selbst tragen. Wir müssen das Geschäft ins Laufen bringen. Ich muss mich erstmal auf die Suche machen. Vielleicht fange ich in Neukölln an. Schließlich sind uns da ja auch die Kugeln um die Ohren geflogen.“ Mardo schaute immer noch ziemlich niedergeschlagen in den Gegend.
Marek versuchte, ihn aufzumuntern. „Wenn es nicht gut läuft, spielst du in der Adventszeit vor dem Gesundbrunnencenter Panflöte und trägst einen Poncho.“
Mardo grinste: „Oder ich verkaufe Halsketten aus Klosteinen auf dem Alex“.
Marek gluckste vor Lachen. „An japanische Touristen.“
Er klopfte Mardo verständnisvoll auf die Schulter. „Es sind schwere Zeiten und man kann froh sein, dass man arm ist, denn dann muss man sich um sein Geld keine Sorgen machen. Du hast Schulden? Du Glücklicher! Stell dir mal vor, du hättest Geld. Sagen wir mal: zehntausend Euro. Was würdest du damit machen? Anlegen? Zu gefährlich. Gar nichts? Dann frisst es die Inflation. Was kaufst du damit? Soviel Bier kannst du nicht lagern und es wird dir zu schnell schlecht. Also habe ich mir überlegt: Whisky. Eine gute Flasche Single Malt bekommst du ab dreißig Euro. Also insgesamt zweihundert bis dreihundert Flaschen. Soviel bekommst du für deine zehntausend Mücken. Die Whiskykisten stellst du dir zu Hause in die Abstellkammer. Soweit die Theorie, die, wie du ja sicher weißt, schon immer grau gewesen ist. Die Praxis ist das entscheidende. Was passiert tatsächlich? Und da haben wir es mit etwas ganz anderem zu tun, denn die Dinge laufen ja immer anders, als wir es geplant haben. In der Praxis hast du eine Menge Whisky zu Hause, das heißt: du säufst jeden Abend und ständig hockt dir eine ganze Schnorrerbande auf dem Sofa rum. Du siehst: Geld macht nicht glücklich. Ständig musst du dir Sorgen um das Geld machen und diese Fürsorge wird nur in den seltensten Fällen erwidert.“
Marek schaute zum wiederholten Mal auf die Wanduhr. Um Punkt vierzehn Uhr dreißig holte er sein Handy raus, wählte eine Nummer und rief dann „Radio Cottbus – die heißeste Musik des Ostens“. Dann grinste er Mardo an und sagte: „Habe gerade zwei Morrisey-Karten gewonnen“.
„Mit wem gehst du hin?“ fragte Mardo.
„Die verkaufe ich gepflegt über Ebay und habe wieder Geld, um für eine Woche Lebensmittel zu kaufen. Wenn man über Geld nicht nachdenkt, hat man immer welches.“
Mardo grübelte dennoch. „Kohle, Zaster, Moneten, Knete, Mäuse, Penunzen, Kies, Schotter, Moos, Groschen, Taler, Bares, Cash, Kröten, Asche, Money, Mammon, Blüten, Peanuts“ hieß es in einem Wörterbuch, man konnte es auch als Euro, Dollar, Yen oder schlicht als Zahlungsmittel bezeichnen. Ich glaube, für Geld haben wir im Deutschen mehr Worte als die Eskimos für Schnee, dachte er.
„Herr Ober, zwei große Bier.“ Mardo hatte seinen Bauch entscheiden lassen. Das half immer.
„Und zwo Buletten.“
Mit gutem Appetit und noch besserem Durst verbrachten sie eine schöne Stunde. Dergestalt mit Zuversicht und Weltvertrauen ausgestattet, genossen sie zufrieden den hellen Nachmittag, glücklich in die Sonne blinzelnd, des guten Ausgangs dieses Tages gewiss.
Everything But The Girl - Missing (Todd Terry Club Mix). https://www.youtube.com/watch?v=UwSrKMKODHg

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