Dienstag, 29. Dezember 2015

Berliner Asche, Kapitel 5, Szene 1

Die Vöglein zwitscherten durchs offene Fenster hinein und der Himmel war so richtig himmelblau, anders konnte man es nicht sagen. Es sei denn, man hieß Leber, war Kommissar und betrachtete schlecht gelaunt den Minutenzeiger einer Wanduhr, der sich langsam nach Süden bewegte. Gleich würde es siebzehn Uhr dreißig sein und ein unerfreulicher Arbeitstag wäre endlich beendet. Den ganzen Tag hatte er lustlos in aktuellen Ermittlungsakten geblättert, während sein Assistent Laschka unterwegs war, um Verwandte des toten vietnamesischen Zigarettenhändlers zu vernehmen. Es würde vermutlich alles im Sande verlaufen. Die Vietnamesen trauten den Behörden nicht, sie wollten keinen Ärger mit anderen Banden oder lösten ihre Probleme intern, dazu kam ein wenig buddhistischer Fatalismus. Karma, Herr Kommissar. Vielleicht wird Nguyen Minh Giang ja als Tabakpflanze wiedergeboren, dachte Leber und war im gleichen Augenblick von seinem Zynismus angeekelt. Ich muss hier raus!
Einige Minuten später war er auf der Keithstraße und spazierte in Richtung Gedächtniskirche. Ein bisschen Bewegung würde ihm gut tun, obwohl es heiß war und sein Übergewicht ihm zu schaffen machte. Ich werde nicht nach Hause gehen, mit meiner miesen Laune gibt es nur Krach mit meiner Frau. Und wenn ich meinen Frust an ihr auslasse, wird sie die nächsten Wochen ihre Launen an mir auslassen. Also lieber Überstunden vortäuschen, ein nettes Lokal aufsuchen und ein gepflegtes Pils trinken, dachte Leber. Den ganzen Tag hatte er darauf gewartet, in Sachen Mordfall Altmann von den Kollegen des LKA 5 angesprochen zu werden. Aber niemand machte sich die Mühe, ihn nach seinen Einschätzungen zu fragen. Dabei hielt er es für fahrlässig, nur in eine Richtung zu ermitteln. Aber die Staatsschützer waren One-Trick-Ponys, sie konnten nur politische Extremisten jagen. Und das leider mit sehr bescheidenem Erfolg, was die Kollegen noch verschwiegener und eigenbrödlerischer machte, als sie ohnehin waren.
Aus einem kroatischen Restaurant drang Musik. Die – zwar nicht laute, aber dennoch auf heimtückische Weise ohrenbetäubende – Polka prügelte jeden komplexen Gedankengang augenblicklich aus seinem Kurzzeitgedächtnis ins Nirwana seiner Synapsen. Leber war es gewohnt. Er war ein gebürtiger Berliner, eigentlich gebürtiger West-Berliner. Das war nicht selbstverständlich in einer Stadt, die seit seiner Geburt Millionen Menschen aus Deutschland und der ganzen Welt aufgenommen hatte und von Millionen verlassen wurde. Etwas an dieser Stadt zog die Menschen an, anderes stieß sie ab. Jeder fand etwas in Berlin: Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Aufregung und Stumpfsinn, Aufstieg und Fall.
Ein alter Mann kam vorüber. Sein Gesicht sah aus wie ein zerknülltes Blatt Papier, Tommy Lee Jones nix dagegen, kein Quadratzentimeter unzerknittert. Die Leberflecken auf seinem kahlen Schädel sahen aus wie eine Sternenkarte. Vor ihm ging eine ältere, korpulente Frau. Sie schwenkte beim Gehen ihre breiten Hüften wie ein Krokodil an Land. Berlin war schon immer eine Stadt der einfachen Menschen gewesen. In Hamburg oder München mochte sich mancher im Supermarkt schämen, wenn er arm war. In Berlin waren es die Wohlhabenden, die sich in der Warteschlange an der Kasse unwohl fühlten. Das alte West-Berlin hatte in der sogenannten „freien Welt“ das Image der heldenhaften Frontstadt, eine Art Fort (inklusive US-Kavallerie) im kommunistischen Indianerland. In Wirklichkeit war dieser Teil der Stadt ein Sumpf aus Korruption und Vetternwirtschaft gewesen, am Leben gehalten durch die Subventionen aus Westdeutschland. Heute fragte man sich, warum in arglose Wohnviertel ganze Autobahnkreuze hineinbetoniert wurden und wieso man Hitlers Hauptstadtpläne in Form einer gigantischen Nord-Süd-Achse fortführte, obwohl doch rundherum immer gleich die Mauer kam? War es wirklich nur die Baumafia, mit deren Hilfe sich die Subventionsmilliarden aus der BRD problemlos in die eigene Tasche umleiten ließen? Oder waren es Laufräder für die eingesperrten Westberliner, in denen man wenigstens mal kurz den fünften Gang benutzen und Vollgas geben konnte? Sicherlich war an beiden Versionen etwas dran.
Der Kommissar kam am Elefantentor vorbei und dachte an Mungo Jerry. Der Eingang des Zoologischen Gartens war im Stil einer ostasiatischen Pagode gestaltet. Das Dach war aus rotem Holz und mit grünen Ziegeln gedeckt. Vor dem Eingang lagen zwei lebensgroße Elefanten aus Sandstein.
„Entschuldigen Sie vielmals die Störung, aber ich befinde mich leider in der unangenehmen Situation, völlig ohne Bargeld zu sein. Ob Sie mir wohl bitte freundlicherweise mit ein wenig Kleingeld aushelfen wollen?“ Sein Deodorant hieß vermutlich „Kalkutta“ von Calvin Klein.
„Aber selbstverständlich, mein Herr.“ Wer ihn mit solch ausgesuchter Höflichkeit ansprach, dem gab er gerne etwas Geld. Leber kramte ein paar Messingmünzen hervor und gab sie dem Obdachlosen. Wenn alle Menschen in Berlin so freundlich wären wie die Bettler, würden wir im Paradies leben, dachte er, als er in das strahlende Gesicht des Alten blickte. Die lavendelfarbenen Äderchen auf seinen Wangen sahen aus wie ein Flussdelta.
Vor dem Bikinihaus, das gerade aufwändig saniert wurde, roch es nach Frittierfett. Auch der süßliche Gestank faulender Kotze lag in der Luft, das war der Preis touristischer Attraktivität. An der Fußgängerampel gegenüber der Gedächtniskirche stand ein schick ausstaffierter Gimpel, rasselte selbstgefällig mit seinem Schlüsselbund und dröhnte in sein Telefon: „Für jede Minute Gespräch habe ich ihm fünf Euro berechnet.“ Man musste Unternehmensberater und Rechtsanwälte einfach lieb haben. Schöne Menschen sind beliebt, schöne Menschen haben Erfolg, schöne Menschen brauchen keine Philosophie. Sicher wohnte er im Waldorf Astoria, der neuen Nobeladresse der Berliner Hotellerie.
Am Bahnhof Zoo stieg Leber die Stufen zur U-Bahn hinab. Mit der zu dieser Uhrzeit vollbesetzten U 9 fuhr er ein paar Stationen in Richtung Süden. Normalerweise stieg er an der Station Spichernstraße aus, um nach Hause in die Meierottostraße zu gehen. Heute fuhr er jedoch bis zum Bundesplatz. Hier lebte das alte Berlin noch, das „Wirtshaus zum Nussbaum“ war ein gutbürgerliches Lokal und so normal, dass es in keinem Reiseführer vorkam. Die bis auf halbe Höhe mit Holz getäfelten und mit historischen Drucken geschmückten Wände vermittelten die sogenannte Gemütlichkeit des Vor-Ikea-Zeitalters. Der typische Berliner, der hier anzutreffen war, verfügte über einen Seehundschnauzbart und eine Halbglatze plus schlohweißen Haarkranz. Er aß Eisbein mit Erbspüree oder Kalbsleber mit Zwiebeln und trank dazu seine Molle, wie er das Bier zu nennen pflegte. Es gab jedoch auch herrlich altmodische Gerichte wie Rührei, Spinat und Kartoffeln auf der wechselnden Wochenkarte. Gelegentlich konnte man auch am Nachbartisch den Lebenserinnerungen eines Mannequins (so nannte man die Models früher) aus den fünfziger Jahren lauschen. Das Publikum bestand am Wochenende ohnehin fast ausschließlich aus reiferen Herrschaften.
Leber setzte sich an einen der freien Tische und bestellte ein Budweiser vom Fass. Dann ließ er seinen Blick über die Gäste schweifen. Zwei ältere Damen fielen ihm auf. Sie hatten lange, platinblond gefärbte Haare und ihre Gesichter waren durch etliche Schönheitsoperationen regelrecht entstellt. Sie mussten weit über fünfzig Jahre alt sein und wirkten wie Pornostars aus den Siebzigern. Nichts ist schlimmer als ein solches Gesicht, dessen letzte Modellierung Jahre zurück liegt. Die gelbliche Haut war wieder erschlafft und gealtert, aber es sah im Wortsinne unmenschlich aus. Sie wirkten gruselig, wie groteske Masken des Menschlichen. Die Falten und Wülste saßen an unnatürlichen Stellen in ihren grellbunt bemalten Gesichtern, dazu die wurstförmig aufgepumpten Lippen. Leber musste an Zombies denken. Die Beine hatten sie in längst aus der Mode gekommene Karottenjeans gezwängt, an den verwelkten Armen klimperte Talmi und Tinnef in rauen Mengen. Dazu Brüste, die nichts Brustförmiges hatten, sondern wie angeschraubte Lampen wirkten. Leber hatte sie schon öfter hier gesehen. Zwei traurige Gestalten, die den Männern aufreizende Blicke zu warfen, ein beschämendes würdeloses Schauspiel voller Tragik und Altersmelancholie.
Nach dem ersten Schluck Bier, das Glas war halb leer, nahm der Kommissar den Gedankengang wieder auf. Warum verschicken diese Vollidioten keine Bekennerschreiben? Warum haben wir nur Bekennerschreiben von Trittbrettfahrern bekommen? Oder ist das Teil ihrer Strategie? Wieso wollen sie nicht, dass wir ihre Gründe für die Anschläge erfahren? Normalerweise sind Linke in der Begründung ihrer Taten immer sehr geschwätzig. Ich versteh das nicht, dachte er. Oder ist es ein Einzeltäter? Vielleicht hat er auch gar nichts mit den Linksradikalen zu tun? Berlin brennt jede Nacht und wir tappen im Dunkeln.
Ein Handy klingelte und nervte Leber beim Nachdenken. Warum gab es nicht gleich eine Yamba-Toilettenspülung, die immer eine neue Melodie spielte, wenn sie betätigt wurde? Aber diese Frage war wirklich dumm und überflüssig. Es gibt keine dummen Fragen, hörte er im Geiste seine Frau am Abendbrottisch sagen. Wenn ich so einen Scheiß schon höre! Es gibt eine Million dumme Fragen und sie werden meistens von den Leuten gestellt, die behaupten, es gäbe keine. Das ist so eine Sozialpädagogenweisheit und wenn man den Blödsinn tausendmal wiederholt, dann stimmt es eben: Es gibt keine dummen Fragen. Warum eigentlich?
Zornig trank er sein Bier aus und wedelte mit dem leeren Glas in Richtung Kellnerin. Als sie wenige Minuten später mit einem frischen Pils an seinen Tisch kam, bestellte er noch Berliner Bollenfleisch mit Salzkartoffeln. Bollenfleisch war ein traditionelles Schmorgericht aus Lammfleisch und Zwiebeln, das mit Bärlauch und Kümmel gewürzt wurde.
Die Flitzpiepen vom Staatsschutz haben leicht reden, dachte der Kommissar, als er das zweite Bier in der Hand hielt. Die führen einfach jedes Verhör noch mal und am Ende wird sich keiner mehr an deine Arbeit erinnern. Aber die Entführung passte nicht ins Bild. Wenn es um Mord gegangen wäre, hätten es die Linksradikalen nicht so kompliziert gemacht. Wenn Altmann aus der Finanzierung der rechtsradikalen Szene aussteigen wollte, hätten sich die Neonazis erst recht nicht so eine umständliche Geschichte ausgedacht. Oder sie hätten ihn einfach erpresst. Wer konnte noch ein Motiv haben, Altmann zu entführen? Vielleicht hatte es etwas mit seinen Geschäften zu tun? Mit seinen Immobiliengeschäften oder mit anderen Geschäften, von denen Leber nichts wissen konnte?
Irgendwo ertönte die Erkennungsmelodie der Deutschen Telekom. Verdammte Handys, fluchte der Kommissar. Kann man nicht einmal in Ruhe einen Gedankengang zu Ende führen, einmal am Ende eines Gedankens ankommen? Die älteren Damen blickten neugierig zu ihm hinüber. Das war sein Telefon! Er kramte beidhändig in seinen Jackentaschen und zerrte ein altertümliches Mobiltelefon hervor.
„Ja?!“
„Hier Laschka. Ich bin mit den Verhören durch. Keine neuen Erkenntnisse.“
„Sehr gut“, sagte Leber zerstreut. „Aber zurück zum Fall Altmann. Sie haben doch die Unterlagen geprüft. Gab es da im Bereich der Firmenkunden irgendetwas, dass Ihnen aufgefallen ist?“
Falls Laschka von der Frage überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. „Da gab es ein Immobilienprojekt in Pankow, bei dem es wohl Schwierigkeiten gab. Insgesamt waren acht Kunden daran beteiligt.“
„Und? Ist Ihnen da was aufgefallen?“ fragte der Kommissar ungeduldig.
„Sieben Geschäftsleute aus Deutschland, Dänemark und Österreich. Nichts besonderes, keine Schufa-Einträge, keine Vorstrafen. Sie sind mit ihren Unternehmen im Handelsregister eingetragen. Aber ein Investor ist eine Briefkastenfirma in Französisch-Buchholz. Dazu gibt es keine weiteren Informationen.“
„Ausgezeichnet, Laschka. Wie haben Sie das so schnell hingekriegt?“ Leber klang begeistert.
„Eine kurze Datenabfrage, die von der Kollegin Hirsch durchgeführt wurde.“
Französisch-Buchholz, dachte Leber. Was für Firmen könnte es denn in diesem verschlafenen Vorort im Norden Berlins geben?
„Wie heißt denn die Firma?“
„Chez Boris Entertainment GbR“.

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