Donnerstag, 21. Januar 2016

Duisburg 2099, Teil 1

„Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke.“ (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung)
Warum bin ich hergekommen? Was will ich hier? Ich blätterte in meinem kleinen Notizbuch und fand den Eintrag wieder: „Aus der tiefsten Verzweiflung werde ich mich herausreißen, die letzten Reste meiner teutonischen Sucht nach Selbstversklavung beseitigen, in deren Spinnweben sich so viele Menschen auf verhängnisvolle Weise verfangen haben. Ich werde die Gelassenheit lernen, die Zeitferne als Abwesenheit von Ordnung, von trügerischer Sicherheit durch Teilung und Planung des Lebens. Das pure, das tierhafte Leben, das gemächliche Treibenlassen auf den trägen Wellen der eigenen Gelüste.“ Ich verstand gar nichts. Ich verstand meine eigenen Worte nicht. Hohle Phrasen, Geschwätz, abstrakte Begriffe. Es hätte nur noch die Sehnsucht gefehlt und ich hätte das Buch einfach weggeschmissen. Ich blätterte weiter. Der letzte Eintrag lag vier Wochen zurück.
Duisburg. Es ist heiß. Es müssen an die vierzig Grad in meinem Hotelzimmer sein. Die Mücken bewegen sich nicht mehr. Sie fallen tot von den Wänden. Ich habe keine Kraft mehr, sie zu erschlagen. Als ich vor einigen Monaten hier ankam, war ich noch ein Festmahl für die Moskitos. Ich liege auf dem Bett, auf dem klebrigen nassen Laken. Ich lasse das Notizbuch sinken. Mir fehlt die Kraft zum Lesen. Koran und Bibel liegen friedlich und ungelesen nebeneinander in der Nachttischschublade.
Duisburg. Der Charme des lautlosen Verfalls. Die Würde der abgeblätterten Farbe, die Patina, das Alter. Und es erstaunt mich immer wieder aufs Neue, wenn sich plötzlich am Abend ein Fenster öffnet. Ein altes Gesicht zeigt sich wie in einem Traum. Oder die spielenden Kinder in einem Hinterhof, bunte Farbklekse voller Virilität. Ich stelle mir für einen Augenblick vor, der Rhein sei das Meer und hier ginge Europa, hier ginge die Welt zu Ende.
Wenn es geregnet hat, blüht und wächst die Natur aus jedem Riss im Asphalt. Der Göttin des Wassers ist im Zentrum der Stadt ein Denkmal errichtet worden. Die Statue hat ein zartes Gesicht, wie die Jungfrau Maria, sie ist in bunte Farben getaucht, der Sockel, aus dem Wasser in ein flaches Becken fließt, ist in Gold und Weiß gehalten. Bei einem nächtlichen Spaziergang treffe ich auf eine Prozession zu ihren Ehren. Die Gassen füllen sich mit Menschen. An der Spitze marschieren Priester in wallenden Gewändern, es folgt ein Lautsprecherwagen, aus dem Gesänge dröhnen, dann kommen junge Mönche, die prächtig mit Blumen geschmückte Tierfiguren tragen. Die Menschen schließen sich dem Zug an, sobald er an ihnen vorübergezogen ist. Ich erwerbe von einem fliegenden Händler ein Heiligenbildchen und ein glücksbringendes Stoffbändchen.
Am frühen Morgen bade ich im Rhein. Es sind hunderte am schmalen Sandstrand, hunderte stehen träge bis zum Bauch im lauwarmen Wasser, ein Stück Seife in der Hand. Niemand bewegt sich, kein Kind baut eine Strandburg, niemand verändert irgendetwas. Mein Kopf ist ganz leer und es gelingt mir tatsächlich minutenlang, nichts zu denken. Habe ich in dieser Stadt überhaupt schon mal ein Buch gesehen? Mein zielloses Leben betäubt mich wie Morphium. Wasser und Licht sind die Gefährten, die meinem augenblicklichen Geisteszustand entsprechen.
Ich höre Menschen sprechen, aber ich verstehe ihre Worte nicht. Ihre ungeschriebenen Gesetze bleiben mir verborgen. Aber sie sind sanftmütig, ich erkenne es an ihrem nachsichtigen Lächeln, wenn sie mich im Restaurant bedienen oder mir in einem kleinen Laden etwas verkaufen. Die Folge meiner Unwissenheit ist nicht Unsicherheit, sondern heitere Sorglosigkeit. Solange ich noch Geld habe, ist alles gut. Das Geld macht alles leicht. Es reicht, wenn ich mit dem Finger auf eine Flasche Bier zeige, wenn ich dabei nicke und lächle. Insgeheim nennen sie Touristen wie mich „Shrimps“, wegen der geröteten Haut. In meinem alten Leben bin ich nicht oft in der Sonne gewesen.
Die Bettler, die an den Rändern der großen Plätze und Straßen sitzen, erinnern mich an Filme über das Mittelalter. Ein Krüppel hat als letzte Extremität seinen rechten Arm. Menschen ohne Beine, die Stümpfe sind mit Lederbandagen geschützt, schleppen sich zu dir und bitten dich um ein paar Münzen. Einer von ihnen, es scheint der König der Bettler zu sein, fährt auf einem Brett mit Rollen und hat eine Kapitänsmütze auf. Er grüßt mich wie ein vornehmer Herr, als er vorüberfährt. Herrenlose Hunde streunen über den Platz und in den Hauseingängen dösen und träumen zur Mittagszeit die alten Frauen. Niemand ist auf dem Weg nach irgendwo, niemand wartet auf irgendetwas, das Warten ist in dieser Welt noch gar nicht erfunden. Nichtstun ist der natürliche Zustand in dieser Hitze. Es gibt keine Zeit, die verschwendet wird oder die man totschlagen muss, weil es keine Zeit gibt. Es gibt nur diese köstliche Ruhe, die dennoch voller Leben ist.
Gegen Abend bin ich Zuschauer eines Fußballspiels auf einem Bolzplatz, dessen kleines Feld mit hohem Maschendrahtzaun umgeben ist, so dass der Ball immer im Spiel bleibt. Es spielen fünf Jungen gegen fünf Mädchen. Ich beobachte die Partie eine halbe Stunde lang. Es fallen viele Tore, das Spiel ist ausgeglichen. Ich vergesse irgendwann den Zwischenstand. Es ist nicht wichtig, wer gewinnt. Wer hat gewonnen? Das ist die falsche Frage. Weil der Augenblick zählt. Du hast ein Tor geschossen, du bist glücklich. Deine Mannschaft hat ein Tor geschossen, das zählt. Die Mädchen sind ausgelassen, sie drehen sich manchmal wie Tänzerinnen zu einer lautlosen Musik, wenn der Ball weg ist.
Die Vollmondnacht birgt alle Formen des Wachen und Schlafens in sich, die sich in einem bunten Strudel aus Gedanken und Bildern miteinander vermischen. Es ist ein endloses Dösen, in dem sich Traum und Wirklichkeit vermischen. Ich höre mein eigenes Schnarchen, ich höre Klagelaute, Geraschel und Wispern. Die Finsternis ist voller Bilder und Bewegung. Ich beginne zu vergessen. Ich lege mein Wissen ab wie ein Kleidungsstück. Ich bin die Schildkröte.
Yes - Turn of the Century. https://www.youtube.com/watch?v=b3bysb4T5mg

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