Mittwoch, 6. Januar 2016

Eine wahre Geschichte

„Der klobige Sechzigerjahreblock gegenüber färbte sich im Regen schwarz, um langsam fleckig zu ergrauen. Ich schaute einfach nur zu. Regen, Nieselregen, heftiger Regen, Hagel, Stille, Totenstille, wieder Regen, Glucksen, Knistern, Rascheln, Plätschern, Nieseln, Regen, Regen, tropfendes Wasser von den Regenrinnen.“ (Tanja Dückers: Hausers Zimmer)
Weihnachten in Kelsterbach. Aufmerksame Leser kennen diesen Ort im Dunstkreis von Frankfurt aus der Erzählung „Last Exit Kelsterbach“. Ein Mann bringt seine Frau um. Nicht außergewöhnlich, wenn man die allgemeine Belastung deutscher Familien beim Fest der Liebe berücksichtigt. Das ganze Jahr ist man sich aus dem Weg gegangen – jetzt sitzt man sich vor dem Weihnachtsbaum gegenüber. Die Weihnachtsschallplatte dudelt vor sich hin. Seit dreißig Jahren hassen Sie diese Platte. Voller Aggressionen warten Sie auf den Knacks bei „Stille Nacht“, grimmig lächelnd nehmen Sie ihn auch in diesem Jahr wieder zur Kenntnis.
Ihre Gattin erzählt natürlich dieselbe alte Geschichte. Seit dreißig Jahren. Es hätte Sie nicht gewundert, wenn man im Hintergrund ihrer Stimme das Knistern und Knacken einer Schallplatte gehört hätte. Das Weihnachtsgeschenk war sicher gut gemeint. Aber es ist verhängnisvoll: ein Messerblock. Solides Eichenholz. Dazu die japanischen Steakmesser, deren Klingen aus gehärtetem V-10-Gold-Stahl angefertigt wurden. Sie sind extrem scharf und gleiten wunderbar leicht auch durch schwieriges Schnittgut. Als kleines Extra das Waidbesteck für den passionierten Jäger. Danke, Gisela!
Einige Tage später fährt er nach Österreich in den Urlaub. Er und seine Frau. Wie jedes Jahr. Es ist schön in Gmunden. Sie verbringen gemeinsam die nächsten Tage in dem Hotel, in dem sie schon immer den Jahreswechsel begehen. Seine Frau ist schon lange in ihre Einzelteile zerlegt. Den Kopf hat er in Beton gegossen. Er soll auf jeden Fall untergehen. Er kann das Gesicht nicht mehr sehen. Er fährt auf den See hinaus und versenkt seine Frau. Dann tötet er sich selbst. Mit Kabelbindern hat er seine Hände an Taschen gefesselt, in denen Granitsteine sind. Er springt ins Wasser. Weihnachten in Deutschland.
VNV Nation – Arclight. https://www.youtube.com/watch?v=NzxpvRni-74

6 Kommentare:

  1. erst dachte ich: "wow, krasse geschichte, super geschrieben.". dann ging meine tägliche internetschau weiter, und ich stieß darauf, dass die geschichte auf wahren begebenheiten beruht, wie man so schön sagt. auweia.

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    1. Ein paar Details habe ich aber frei dazu erfunden. Ich bin Schriftsteller. Ich darf das ;o)))

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  2. Wie ich sehe hat VNV hier schon Einzug gehalten. Passt aber gut zum Text.

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  3. Die Frau war eine Kundin von Peter. Auch das Mädchen, das 2014 im Holiday Park verunglückte, kannte er. Kelsterbach :-(.

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    1. Ich kenne einen Peter in Ingelheim, einen in Heidesheim und einen in Berlin. Welcher Peter ist gemeint?

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