Montag, 7. März 2016

IS und Irokesen

Was haben der IS und die Irokesen gemeinsam? Und warum ist Abu Bakr al-Baghdadi der Chingachgook des 21. Jahrhunderts?
Chingachgook ist bekanntlich ein Indianer aus James F. Coopers Roman „Der letzte Mohikaner“. Die Handlung spielt im Siebenjährigen Krieg zwischen Briten und Franzosen um die koloniale Vorherrschaft in Nordamerika Mitte des 18. Jahrhunderts. Beide Seiten haben Indianer als Verbündete. Die „guten“ Briten haben die tapferen Mohikaner in ihren Reihen, die „bösen“ Franzosen die fiesen Huronen. Mein Indianer ist gut, deiner ist böse. Nachdem man die Indianer nicht mehr brauchte, warf man sie fort wie ein gebrauchtes Taschentuch.
Dieser Umgang mit Nicht-Weißen bzw. Nicht-Christen gehört zum Gründungsmythos der Vereinigten Staaten. Bei der Unabhängigkeitserklärung von 1776 hatte niemand im Sinn, Indianer oder farbige Sklaven an der Demokratie teilhaben zu lassen. Und dieses Denkmuster hat sich in den Vereinigten Staaten bis heute gehalten.
Szenenwechsel. Wir schreiben das Jahr 1979, das Annus horribilis der USA. Nach dem verlorenen Vietnamkrieg haben die Streitkräfte der westlichen Supermacht nur noch einen einzigen Marinestützpunkt zwischen Neapel und Manila: Diego Garcia. Vermutlich haben Sie den Namen noch nie gehört. Diego Garcia ist nicht der Leadsänger von Grateful Dead – das war Jerry Garcia. Diego Garcia ist eine winzige Tropeninsel im Indischen Ozean, tausende Kilometer vom Festland entfernt. Die Atombomber der USA, die B-52s, können auf dem kurzen Asphaltband des Flughafens nicht starten und landen. Hier dümpeln sieben große Schiffe der amerikanischen Kriegsmarine in der brütenden Hitze. Sie haben genug Waffen, Treibstoff und Nahrungsmittel an Bord, um 12.000 Marineinfanteristen einen vierzehntägigen Kampfeinsatz in der Golfregion zu ermöglichen. Das ist alles.
Die Golfregion ist – damals wie heute – das Herz der Rohstoffversorgung der westlichen Welt. Ohne das Öl der Golfstaaten würden die Industrien und der Verkehr Europas und Japans zusammenbrechen, die USA würden in eine schwere Wirtschaftskrise geraten, die Hegemonie des westlichen Kapitalismus wäre akut gefährdet. Der gesamte Nachschub aus den Golfstaaten muss durch die 34 Kilometer breite Straße von Hormuz – die Meerenge ist so breit wie der Ärmelkanal zwischen Dover und Calais. Und dieser Versorgungsweg – der Schlüssel unseres Wohlstands in der westlichen Welt – ist akut gefährdet. 1971 hat die bis dahin herrschende Militärmacht Großbritannien ihre Truppen abgezogen, 1979 wird der durch einen CIA-Putsch installierte Schah von Persien gestürzt und durch ein islamistisches Regime ersetzt, das Amerika zum Feind erklärt. Die amerikanische Botschaft in Teheran wird besetzt, die Mitarbeiter werden als Geiseln genommen, deren Befreiung durch US-Streitkräfte kläglich scheitert.
Hinzu kommt der konservative Rollback, mit dem die wahabitischen Saudis auf den islamistischen Terroranschlag in Mekka mit 330 Toten reagieren und das Debakel in Afghanistan. Die CIA hatte seit Sommer 1979 die Mudschaheddin gegen die pro-sowjetische Regierung in Kabul unterstützt, die Russen reagieren mit ihrem Einmarsch in Afghanistan ein halbes Jahr später. Die Straße von Hormuz ist in Schlagdistanz der beiden größten Feinde der USA und des Westens: Iran und UdSSR. Das Golföl, die Schlagader des Kapitalismus, ist ungeschützt. Der wichtigste Verbündete Saudi-Arabien ist durch die Unruhen an den heiligen Stätten des Islam instabil geworden und verfügt über keine nennenswerten Streitkräfte. Die Russen haben die arabischen Staaten schon in den Kriegen gegen Israel mit Waffenlieferungen unterstützt und haben großen Einfluss in der Region.
Noch unter Präsident Carter wird daher im März 1980 eine schnelle Eingreiftruppe (Rapid Deployment Joint Task Force) geschaffen, die „Carter-Doktrin“ besagt: “because of its oil fields, the Persian Gulf area was of vital interest to the United States, and that any outside attempt to gain control in the area would be repelled by use of any means necessary, including military force." Zunächst wurde durch den US-Verbündeten Saddam Hussein ab September 1980 ein Stellvertreterkrieg gegen den Iran geführt, der allerdings 1988 verloren wurde.
Nach der Annexion Kuwaits durch den Irak konnten die Amerikaner direkt in der Golfregion einmarschieren und im Windschatten des Untergangs der Sowjetunion und ihrer Verbündeten Militärbasen auf der arabischen Halbinsel installieren. Aus dem guten Araber Saddam Hussein war ein böser Araber geworden. Der Rest ist bekannt: Der Angriff saudi-arabischer Terroristen auf die USA 2001 wird in der Folgezeit zum Vorwand genommen, um Afghanistan und den Irak zu besetzen und die militärische Vorherrschaft in der Region zu stabilisieren. Aus den guten Mudschaheddin wurden die bösen Taliban.
In Syrien hat sich das Spiel wiederholt. Mithilfe des Verbündeten Türkei hat man die „guten Indianer“ vom IS aufgebaut, um das schiitische Regime von Assad in einem Bürgerkrieg zu destabilisieren. Das ist gelungen, die Achse Moskau-Teheran-Damaskus-Beirut ist strategisch durchkreuzt. Jetzt sind die „Freiheitskämpfer“ plötzlich „Terroristen“ und werden von den USA bombardiert. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.
Und darum ist Abu Bakr al-Baghdadi der Chingachgook des 21. Jahrhunderts. Die Mohikaner sind bekanntlich ausgestorben. Und wir im Westen freuen uns über günstiges Öl, das uns die „guten“ Araber, die blutsaufenden Scheichs aus Riad, liefern.
In Death It Ends – Covet. https://www.youtube.com/watch?v=3LYedaZJVcc

Theodor Bergmann

„There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.” (Warren Buffet in der New York Times, 26. November 2006)
Er wird heute einhundert Jahre alt. Und er hat sich etwas bewahrt, das vielen Linken längst verloren gegangen ist: Zuversicht und eine klare Perspektive. Und ich spreche jetzt nicht von den Parteien, die sich nach der Gesäßgeographie der Parlamente „links“ nennen und in Wirklichkeit Schild und Schwert des Schweinesystems geworden sind.
Noch heute besucht er Schulen und spricht mit den Jugendlichen: „Es muss eine Gesellschaft sein, in der es keinen Krieg gibt, keinen Faschismus, kein Auschwitz. Eine solche Welt, an die ich noch immer glaube, wird der Kapitalismus nicht schaffen. Und dann sage ich ihnen, dass Utopien wichtig sind.“
Sie entgegnen ihm, es gehe uns in Deutschland doch gut. „Manche fragen mich: Lohnt es sich, sich zu organisieren? Ich sage ja, weil das Kapital auch organisiert ist und sich regelmäßig zum Kaffee bei Frau Merkel trifft. Und ich sage weiter, es reicht nicht, einen Tag gegen Rassismus zu demonstrieren, ihr müsst das ganze Jahr zusammenhalten, lasst euch nicht auseinanderdividieren.“
Bergmann kommt am 7. März 1916 als siebter Sohn eines Rabbiners in Berlin zur Welt. Bereits 1927 tritt er dem Jungspartakusbund und dem Sozialistischen Schülerbund bei. Unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung 1933 emigriert er. Seine Stationen sind Palästina, die Tschechoslowakische Republik und Schweden. 1946 kehrt er nach Deutschland zurück und wird Agrarwissenschaftler. 1973 bekommt er eine Professur in Hohenheim (Stuttgart).
Er ist ein kritischer Kommunist geblieben, für den Stalin oder Mao schlicht Fehlentwicklungen sind. Geht er in dieser Woche zur Wahl in Baden-Württemberg?
„Selbstverständlich, auch wenn ich bezweifle, dass wir noch eine parlamentarische Demokratie haben. Wir können dort zumindest noch unsere Stimme erheben. Aber auf der anderen Seiten haben wir 2000 Lobbyisten rund um das Parlament, die mit einer Eintrittskarte für den täglichen Besuch ausgestattet sind. Ich erinnere an Kurt Tucholsky, der gesagt hat: Die Sozialdemokraten glauben, sie sind an der Macht, aber sie sind nur in der Regierung. Das trifft heute noch mehr zu als früher.“
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Herr Bergmann!
http://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/257/kapitalismus-nicht-das-letzte-wort-3478.html
P.S.: Können wir als Wähler von den Parteien überhaupt noch die Umsetzung des Volkswillens erwarten? In meinem Dorf haben nur noch wenige Gemeinderatsmitglieder ein Parteibuch. Die SPD-Mitglieder haben nach der Agenda 2010 geschlossen ihre Parteibücher zurückgegeben – inklusive dem Bürgermeister. Freie Gruppen bestimmen längst die Geschicke im Ort. Die Politik ist pragmatisch, es werden Straßen geteert und Syrer unterstützt.
Murray Head - Say It Ain't So, Joe. https://www.youtube.com/watch?v=-enIN21BWWI

Sonntag, 6. März 2016

Bonetti kommt!

Es ist Dienstag, der 8. März. Sechs Uhr morgens. Plötzlich schlagen die Zeiger der Kontrollinstrumente in der seismologischen Station in Bockenheim, Neufundland, aus. Hunde bellen, Katzen fauchen und die Goldfische im Aquarium wechseln blitzartig die Richtung.
Sandro Haslmeier, stellvertretender Leiter der Station, greift zum Fernglas.
„Oh, mein Gott“, flüstert er fassungslos.
„Es ist ein Bonetti!“
Und dann sehen wir es auch:
Andy Bonetti taucht auf und brüllt mindestens so gruselig wie Godzilla in einem japanischen Film.
Er schüttelt in Zeitlupe das Haupt und kommt an Land.
Alle laufen kreischend davon.
Die Erde zittert.
Bonetti kommt auf Bockenheim zu.
The Undertones - You're Welcome. https://www.youtube.com/watch?v=4VkEtVJa34w

Vergessene Geschichten

„Die alte Schizophrenie des Kapitalismus: als Produzent soll der Mensch von einer Handvoll Reis leben, als Konsument soll er die Taschen voller Geld haben wie ein Bankpräsident.“ (Lupo Laminetti)
In meiner Kindheit war der Orient noch ein magischer Ort und eine unerschöpfliche Quelle von Erzählungen: Sindbad war ein Held, es gab Ali Baba und die vierzig Räuber und wir hörten die Geschichten aus tausendundeiner Nacht. Es scheint alles vergessen, der Orient ist ein Ort der Verwüstung und die Quelle terroristischer Bedrohungen geworden.
Griechenland hat eine eigene Sagen- und Götterwelt. Man denke nur an die Abenteuer des Odysseus. Dieses Land ist die Wiege der europäischen Kultur. Früher wurde Altgriechisch an deutschen Gymnasien gelehrt. Und heute? Die Griechen gelten als Betrüger, die ihre Schulden nicht zurückzahlen wollen.
Der Mittlere und Ferne Osten? Das chinesische Kaiserreich, der Tiger von Eschnapur und die Maharadschas, die Welt der Samurai. Inzwischen sehen wir dort nur noch die Fabriken, in denen arme Menschen den ganzen Plunder herstellen, den wir zu brauchen meinen.
Was bleibt? Die amerikanischen Superhelden wie Batman oder Spiderman und die sogenannten „Hollywood-Stars“, die Götter der Moderne. Und von unserem eigenen kulturellen Erbe will ich gar nicht erst anfangen …
Touré Kunda – Salya. https://www.youtube.com/watch?v=1ISalnv4Xeo

Blogstuff 31

„Die Pferde und die Lokomotiven können die Leinwand nicht verlassen.“ (Warnung zu Beginn der Vorführung des Cinématographe der Gebrüder Lumière)
Ich mache seit vier Wochen Yoga. Die Figur „Kartoffelsack bei Sonnenaufgang“ beherrsche ich schon ganz gut.
Unsere Amerika-Korrespondentin Lemony van Loon wurde auf einer kleinen, beschaulichen Farm in Brooklyn geboren. Sie hatte nur Basteln und Klatschen in der Schule, über ihre weitere Ausbildung wissen wir nicht viel. In einer Band namens “Chicken Wire Network” spielte sie Posaune. Beste Voraussetzungen also für ein Praktikum bei Bonetti Media. Sie wird in unregelmäßigen Abständen über den US-Wahlkampf zwischen „The Donald“ Trump und Hillary „Icecold“ Clinton berichten. „Es hilft ja nix“, wie der Franke sagt. Lemony van Loons Blog wird „Failed Page” heißen.
Hätten Sie’s gewusst? Ob Wein, Bier oder Schnaps – Alkohol ist vegan.
Nicht nur die Großeltern von Donald Trump sind aus Kallstadt an der Weinstraße in Rheinland-Pfalz, sondern auch die Vorfahren der Familie Heinz, die den berühmten Ketchup herstellt. Henry John Heinz produzierte übrigens zuerst Meerrettich, ging aber mit diesem Unternehmen Pleite. Kein Witz.
Antonio Irrsiegler vom Goslar Globe schrieb über Bonetti: „Tizian hätte ihn gemalt, Michelangelo hätte sein Ebenbild aus einem Marmorblock gemeißelt.“ Leider verstarb der hoffnungsvolle Nachwuchsjournalist, als er bei Tempo zweihundert auf der Autobahn die Ergebnisse der usbekischen Volleyballliga auf seinem Smartphone gecheckt hat.
Hätten Sie’s gewusst? Hätte der Ausguck der Titanic nicht den Eisberg gesichtet und den Kapitän alarmiert, wäre das Schiff frontal aufgeprallt und nicht gesunken.
Heinz Pralinski ist seit vier Jahren Kandidat der Literatur. Und seitdem muss er bei Andy Bonetti Tinte in den Füller füllen, Aschenbecher leeren, Bier und Kümmerling am Kiosk holen, mit der Pipette Kakteen am Leben erhalten, Autogrammwünsche erfüllen und jeden Samstagvormittag den Duesenberg Convertible 1935 waschen. Angefangen hat er übrigens als Social Bot in Bonettis Trollfabrik (Wladiwostok).
„Das Brot brechen, das Eis brechen, das Schweigen brechen, das Gesetz brechen, das Licht brechen – und du kotzt einfach aus dem fahrenden Auto.“ (Lupo Laminetti: Die Kunst und das Leben)
Johnny Malta ist ein Exzentriker und Fan der britischen Marke Riley. Im Sommer fährt er einen Riley Sprite, Baujahr 1936, im Winter einen Riley Pathfinder, Baujahr 1956.
Hätten Sie’s gewusst? Es gibt eine Deutsche Gesellschaft für Piercing e.V.
Pulp Paper – billiges, schnell vergilbendes Papier. Philip K. Dick wurde zunächst nur auf diesem Papier gedruckt. Für zwei Cent das Wort. Aber er machte weiter. Dick ist inzwischen Kult. Pulp auch.
„Auch das dümmste Volk kann einen großen Mann hervorbringen.“ (Wahlspruch des Stadtrates von Bad Nauheim)
„Wem die Natur es versagt, den bringt die Entrüstung zum Dichten.“ (Juvenal vor knapp zweitausend Jahren zum Thema Soziale Medien)
In meinem Geburtsjahr 1966 erschien Thomas Pynchons Roman „Die Versteigerung von No. 49“, den ich jedem Liebhaber von Verschwörungstheorien ans Herz legen kann. Es geht um ein alternatives Untergrundkommunikationssystem (gewissermaßen ein analoges Darknet) namens W.A.S.T.E. (We Await Silent Tristero's Empire).
Zu meinem 50. Geburtstag am 14. August erscheint endlich auch die zwanzigbändige MEGA (Matthias Eberling Gesamtausgabe).
„Ein bildungsnaher Mensch.“ (Gerhard Polt)
„The Bonetti Experience“ – jetzt am Kiosk in Ihrer Nähe.
Hätten Sie’s gewusst? Ich arbeite nebenbei noch als XXL-Best-Ager-Model.
Diesen Traum hatte ich tatsächlich: Ein japanischer Milliardär will sein Vermögen vererben. Das Verfahren: Ein Fernsehshow, für die weltweit Kandidaten gecastet werden. Ich bin einer von 25. Die Show findet in Tokio statt. In der ersten Runde geht es um Wissen und Geschicklichkeit, in der zweiten um Teamfähigkeit, in der dritten um Integrationsfähigkeit usw. Die Spieler sind überall in der Stadt unterwegs und kennen sich nicht.
Hilfe! Ich habe gerade im Fernsehen das Wort „Bratwurstpraline“ gehört.
Wertvoller Tipp von Andy Bonetti: Wenn Sie auf der Flucht sind, beispielsweise auf einer belebten Straße wie dem Ku’damm, dann werfen Sie einfach ein Bündel Geldscheine oder Münzen hinter sich. Es kommt zu einem Menschenauflauf und die Verfolger werden aufgehalten.
Hätten Sie’s gewusst? Johnny Malta kann auch zeichnen und Mundharmonika spielen. Man nennt das „multiplen Dilettantismus“.
P.S.: Wir arbeiten wirklich sehr gerne für Mister Bonetti. Und in meinem Alter kann man es sich auch nicht mehr aussuchen. Wir bekommen drei Mahlzeiten am Tag, jeder hat seinen eigenen Kellerverschlag zum Schlafen und für unsere Rente hat man auch vorgesorgt (9mm).
P.P.S.: Unverlangt eingesandte Manuskripte werden bei Bonetti Media rituell verbrannt. Die Asche wird ohne spürbare Anteilnahme in einer Plastikurne an den Absender zurückgeschickt.
Crosby, Stills, Nash & Young – Our House. https://www.youtube.com/watch?v=c7goifK_2qY

Samstag, 5. März 2016

Sinnlose Zwischenbemerkung

„Wenn jeder offen und ehrlich über den ersten Sex sprechen würde, gäbe es keine Fortpflanzung mehr.“ (Lupo Laminetti)
Heute werden junge Menschen ja schon mit eingebauter ironischer Selbstreflexion auf den Markt der Eitelkeit gebracht. Ich finde das sympathisch. In meiner Jugend waren wir viel schlimmer. Adoleszente Testosteron-Cabrios wie ich liefen zum Beispiel mit Schnurrbart und tiefen Hemdausschnitt durch die Gegend. Jeder hatte damals einen Schnurrbart (sogar unsere Sportlehrerin). Und Haare auf der Brust trugen – im Gegensatz zur Waxing-World des 21. Jahrhunderts – zum gesellschaftlichen Prestige in nicht unerheblichen Maße bei. Wer eine Sean Connery-Gedächtnisbehaarung sein eigen nannte (wie z.B. ich), kaufte sich extra beim Altkleiderhändler alte Hemden (Kilo zwei Mark), um sie in der Disco aufknüpfen zu können. Das lässige Kippe-im-Mundwinkel-einklemmen-und-Aphorismen-absondern wie James Dean (bitte nachschlagen!) habe ich stundenlang vor dem Spiegel geübt, bevor ich am Samstagabend in die Kleinstadtkneipe am Bahnhof gegangen bin.
Rolling Stones – Jumping Jack Flash. https://www.youtube.com/watch?v=TIx9YWF02uU
Werbung: Den Motivkalender „Dachpappe 2016“ gibt es ab jetzt mit zwanzig Prozent Rabatt.

Freitag, 4. März 2016

Der Cliffhanger

„Beschäftigte Leser sind selten gute Leser. Bald gefällt ihnen alles, bald nichts; bald verstehen sie uns halb, bald gar nicht, bald (was noch schlimmer ist) unrecht. Wer mit Vergnügen und Nutzen lesen will, muss gerade sonst nichts andres zu tun noch zu denken haben.“ (Christoph Martin Wieland: Geschichte der Abderiten)
Der Cliffhanger wurde nicht 1873 vom englischen Thomas Hardy erfunden, wie man es bei Wikipedia nachlesen kann. Das Prinzip geht auf die chinesischen Geschichtenerzähler zurück, die in den vergangenen Jahrtausenden an den Straßenecken des Kaiserreichs zu finden waren. Es ist eine alte Tradition, dass eine Geschichte an einem spannenden Punkt unterbrochen wird. So kommen die Zuhörer am nächsten Abend gerne wieder vorbei, um die Fortsetzung zu hören. Die Geschichtenerzähler wurden von ihren Zuhörern immer am Ende der abendlichen Erzählung bezahlt. Dann wurde eine Schale herumgereicht, in die jeder Zuhörer eine Kupfermünze legte. Am nächsten Abend kamen sie wieder, um zu hören, wie die Geschichte weiterging. Besonders beliebt waren übrigens Kriminalromane, die seit über tausend Jahren in China existieren – lange bevor sich europäische Leser für dieses Genre interessierten (Robert van Gulik (Hg.): Merkwürdige Kriminalfälle des Richters Di, Diogenes Verlag 1998; Nachwort, S. 335f. + 369).
Sister Sledge - Lost In Music. https://www.youtube.com/watch?v=O6ZNcIJmn5I

Birding - der neue heiße Scheiß

„Mit Kreationisten über Evolution zu diskutieren, ist wie Schach spielen mit einer Taube: Sie wirft die Spielfiguren um, kackt auf das Spielbrett und fliegt dann zurück zu ihrem Schwarm, um ihren Sieg zu feiern." (Scott D. Weitzenhoffer)
Es ist offenbar modern oder zumindest in Mode, über Kommunikation zu lamentieren. Überall lese ich, es gäbe keine Diskussionskultur mehr, nur noch Hass und Hetze, vor allem in den sozialen Medien, die irgendwie keiner mag und doch alle permanent nutzen. Kultur – das ist immer das, was die anderen nicht haben.
Jetzt habe ich einen großartigen Vorschlag. Halten Sie sich fest! Nein, das wird nicht reichen: Schnallen Sie sich an!! Aktivieren Sie den Airbag an Ihrem Schreibtisch!!! Ich habe die Lösung, die Rettung – und es ist so genial wie einfach:
Halten Sie schlicht und ergreifend mal für zehn Minuten das ungewaschene Maul. Ja, genau Sie, liebe Lesende.
Gehen Sie hinaus. Lassen Sie das Smartphone zu Hause. Auch die Brieftasche. Nehmen Sie nur den Hausschlüssel mit. Ich erspare mir die Ausrufezeichen, obwohl ich Imperative formuliere. Machen Sie es einfach. Und wenn Sie draußen sind, achten Sie mal auf die Kleinigkeiten. Nicht auf Ihre Karriere, Ihre Aktien, Ihre Gesundheit, die nächste Inspektion Ihres Autos oder Ihrer Zähne. Wo ist der nächste Singvogel? Hören und fühlen Sie den Wind? Wo ist die Sonne?
Ich selbst mache es ja viel zu selten. Das liegt an meinen Kernbehinderungen Faulheit, Alter und Übergewicht. Aber ich habe einen Trick: Direkt vor meinem Fenster habe ich Vogelfutter ausgestreut. Egal, ob es schneit oder nicht. Und so betrachte ich am Schreibtisch ganz entspannt die kleinen Racker. Die schüchternen Meisen nehmen immer nur einen Sonnenblumenkern und fliegen damit davon. Die Spatzen kommen in Banden. Die Amsel frisst sich genüsslich voll. Der dicke Dompfaff wirkt mit seinem wichtigtuerischen Gehabe tatsächlich, als wäre er ein Oberschichtvogel. Das elegante Rotkehlchen könnte auch eine Zahnarztgattin sein.
Ich beobachte sie nur wenige Minuten und werde wieder friedlich. Betrachten Sie die netten kleinen Vögel, lesen Sie weniger Nachrichten und beteiligen Sie sich bitte nicht an Online-Debatten. Der treffende Anglizismus ist übrigens „Birding“, Sie können auch „Birdwatching“ sagen.
P.S.: Falls ich Sie tatsächlich begeistert haben sollte, fahren Sie bitte in Ihrem nächsten Urlaub nach Estland. Der Nationalpark Vilsandi wurde – numerus est omen – genau an meinem Geburtstag gegründet, am 14. August (allerdings schon 1910). Dort können Sie birden, bis der Arzt kommt. Glaubwürdige Reiseberichte werden mit einem handsignierten Buchexemplar belohnt. „Komm runter, schau nach oben!“ (alter Birding-Spruch)
http://www.keskkonnaamet.ee/vilsandi-ger
P.P.S.: Für Fortgeschrittene gibt es das Aggressive Birding. Setzen Sie sich in einem Vogelkostüm auf einen Ast und pfeifen Sie unablässig. Es scheint allerdings illegal zu sein.
Almeda Riddle - I Love My Little Rooster. https://www.youtube.com/watch?v=MtbPk5NsEQA

Donnerstag, 3. März 2016

Lob des Lauchs

„Are we living in a land where sex and horror are the new gods?“ (Frankie Goes To Hollywood: Two Tribes)
Während der gewöhnliche Medienkonsument gerade hysterisch dem nächsten “Flüchtlingsgipfel” und einigen belanglosen Landtagswahlen entgegenfiebert, sitzt der Maître de Plaisir extrem entspannt in der Villa Bonetti und blättert durch die neue Ausgabe von „Mein schöner Garten“.
Der Frühling steht vor der Tür, liebe Lesende, und ich möchte heute mit Ihnen über Gemüse sprechen. Über Rosenkohl, Wirsing und Mangold habe ich Sie unlängst informiert, heute möchte ich das Thema Lauch anschneiden, wenn Sie mir diesen kurzen Ausflug in die Welt der Wortspiele erlauben.
Der Lauch besitzt ein eigentümliches Aroma, im Gegensatz zu vielen anderen Gemüsearten hat er einen eigenen Duft. Und je stärker dieser Duft ist, umso mehr Alliin enthält die Pflanze. Beim Schneiden des Lauchs bildet sich aus der Aminosäure Alliin das nützliche Allicin. Es bekämpft die finsteren freien Radikale, die den Alterungsprozess unserer Zellen beschleunigen. Allicin wirkt gegen Bluthochdruck und schützt das Herz. Es stabilisiert die Leber und hilft ihr bei ihrer Entgiftungsarbeit. Es tötet Keime ab und wirkt sogar krebshemmend.
Fangen wir mit unserem kleinen Freund, dem Schnittlauch, an: Er ist ein gutes Mittel gegen Frühjahrsmüdigkeit. Er sollte in keiner Küche fehlen, ebenso wenig wie der leckere Porree und Bärlauch. König der Lauchgewächse ist aber der Knoblauch. Essen Sie regelmäßig Knoblauch und ich verspreche Ihnen, dass Sie hundert Jahre alt werden. Oder Andy Bonetti gibt Ihnen Ihr Geld zurück. 
Savages – Freedom. https://www.youtube.com/watch?v=GKD5f1-wRZk

Blogstuff 30

„Man könnte in diesen Tagen direkt aus der Zeitung eine Dystopie abschreiben.“ (Andrea Hünniger)
Dieser permanente Wechsel von Schluchzen und melodramatischem Einatmen machte ihn aggressiv. Ihre Schminke war dick aufgetragen wie Spachtelmasse und überdeckte nicht die Verwüstungen, die der Alkohol in ihrem Gesicht angerichtet hatte. Dazu dieser vulgär zur Schau gestellte Luxus ihrer dicken Goldringe, die in die rotgeschwollenen Finger eingewachsen waren.
Hanami (jap. „Blüten betrachten“) ist eine japanische Tradition. Am Rhein blühen bereits im Februar die Mandelbäume.
Du lernst einen Menschen kennen. Vielleicht ist es ein Paradiesgarten voller Glück und Leichtigkeit – oder ein Brunnenschacht voller Schuld und Schmerz.
Hätten Sie’s gewusst? Alle elf Sekunden verliebt sich ein Single in Andy Bonetti.
Bis neulich konnte ich mit den alten Mannschaftskameraden noch sonntags auf dem Sportplatz unseren Nachwuchs anfeuern. Stubbi und Kippe, Halbzeit: Bratwurst. Die alte Geschichte. Dann kam die Fusion mit dem Nachbardorf zur "Spielgemeinschaft Steyerbachtal" (benannt nach einem Bach zwischen unseren Dörfern, über den ein Kind springen kann, so schmal ist der). Am Ende hat noch ein einziger Schweppenhäuser in der ersten Mannschaft gespielt, der Sohn von meinem Kumpel Steve. Und dieser Junge ist letzten Herbst morgens um fünf im Vollsuff die Treppe runtergefallen und seitdem querschnittsgelähmt. Für uns alte Fußballer ist die Welt einfach nur beschissen.
Werbung: Machen Sie Ihren BoB (Bachelor of Bonettism) in vier Semestern an der Bernd-Hölzenbein-Fachhochschule in Bad Nauheim.
Welchen Teil des David von Michelangelo finden Sie besonders schön? Welchen Quadratzentimeter? Denken Sie in Ruhe nach. Merken Sie was? Und welcher Teil von Andy Bonettis Oeuvre sollte den Literaturnobelpreis bekommen? Siehste! Sie werden mir zustimmen: Andy Bonetti sollte für sein Lebenswerk einen Ehrennobelpreis bekommen. Alles andere ist Quatsch.
„Ich kette mich an irgendeine Scheiße, damit irgendwas nicht passiert.“ (Extrem-Aktivist Rudi Kowalski bei seiner Festnahme)
Und dann gibt es noch den Kölner Hipster, der für dreißig Euro einen veganen Fleischwurst-Surrogat-Ring kauft, der von indonesischen Delphinversteherinnen aus handgepressten Blütenblättern der Wurstblume geflochten wurde.
Die amerikanische Ausgabe von Andy Bonettis „Scheiß doch die Wand an!“ mit dem Titel „Walking in doubt and danger“ ist leider vergriffen.
1966 hat ein amerikanischer B-52-Bomber vier Atombomben in Spanien verloren. Und jetzt endlich erklären sich die Vereinigten Staaten dazu bereit, sich um die Folgen zu kümmern (http://www.theguardian.com/world/2015/oct/19/us-to-clean-up-spanish-radioactive-site-49-years-after-palomares-plane-crash). Übrigens habe ich zehn Jahre später als Kind genau dort Urlaub gemacht. Danke, liebe Freunde! Peace und so, gelle?!
Dieser Andy Bonetti ist schon ein Teufelskerl, oder? Als Zivildienstleistender läutet er die Glocken zum Gottesdienst, dann wird er Drogenhändler. Bald darauf steigt er zum sogenannten „Experten“ auf, der in Talkshows sitzt, dann wird er Hartz IV-Empfänger. Seien Sie ehrlich: Sie wollen doch auch, dass dieses Leben verfilmt wird.
Zu den Russen sind wir inzwischen ziemlich frech. Das sind eben auch die Einzigen, die ihre Besatzungstruppen abgezogen haben. Die Amerikaner, Franzosen und Engländer sind immer noch hier, selbst die Belgier.
Der Platz in der Wirtschaft bestimmt unseren Platz in der Gesellschaft. Vor einigen Generationen war das noch umgekehrt.
Ich habe, rein statistisch betrachtet, noch eine Lebenserwartung von dreißig Jahren. Bei einer durchschnittlichen Produktion von 500 Blogposts im Jahr dürfen Sie also noch 15.000 Texte von mir erwarten. Jetzt haben Sie plötzlich Angst.
Ich habe vor zehn Jahren mal für einen Content-Provider gearbeitet, der mir gesagt hat: Bringen sie folgende fünf Catchwords im Text unter. Für zwei Cent pro Wort habe ich getextet. Aber auch nur einen Tag. Davon kannst du noch nicht mal als Hartz IV-Empfänger leben. 11,11 Euro habe ich an diesem Tag verdient - dafür bekommen Sie keinen pakistanischen Tellerwäscher. Weil es eine Schnapszahl ist, habe ich mir die Lohnsumme bis heute gemerkt.
Eine Minute ist sehr kurz. Wenn ich bis sechzig zähle, kommt sie mir verdammt lang vor. Warum?
Herzlichen Glückwunsch zum 70. Geburtstag, Andrea Nahles.
Menschen, die einer Ideologie oder einer Religion anhängen, sind offenbar grundsätzlich humorlos. Die Neonazis haben keinen einzigen guten Kabarettisten - und auch aus der NS-Zeit ist mir kein Komiker in Erinnerung. Pegida, Antifa, IS, Al-Qaida ... - feste Überzeugungen kommen offenbar völlig ohne Pointen aus.
Frankie Goes To Hollywood – Is Anybody Out There? https://www.youtube.com/watch?v=p2m-lcus51E

Mittwoch, 2. März 2016

Das höllische System

„Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“. (Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung)
In den Carlsbad Caverns in New Mexico, ein System riesiger Tropfsteinhöhlen, das ich selbst als junger Mann besichtigt habe, ist ein gigantisches Elektronengehirn aus Röhren, Schaltern, Relais und einer Million Kilometer Kupferdraht. Von hier aus wird die gesamte Industrieproduktion der USA gesteuert, hier werden die Bedürfnisse der Bevölkerung vorausberechnet. Sämtliche Industrieanlagen des Landes sind vollautomatisiert, es genügen wenige Ingenieure, um die menschenleeren Hallen zu kontrollieren. Maschinen haben den Menschen nicht nur die Arbeit abgenommen, sie beherrschen auch die Polizei, die Justiz, die Medizin und das Personalwesen. Der US-Präsident hat nur noch repräsentative Zwecke.
Amerika ist eine Zwei-Klassen-Gesellschaft geworden, die in streng voneinander getrennten Vierteln wohnt. Die Manager und Ingenieure leben in märchenhaftem Reichtum, ihre Gated Communities werden von Wachmannschaften beschützt. Nur sie sind – sieht man vom Sicherheitspersonal ab – berechtigt, Waffen zu tragen und unbegrenzt alle Transportmittel zu benutzen. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist durch die Maschinen arbeitslos geworden und vertreibt sich die Zeit mit Fernsehen und einer Art Beschäftigungstherapie in Reparaturtrupps und der Armee, die nach dem letzten großen Krieg jedoch ohne Einsatzmöglichkeiten ist, da Maschinen die Beherrschung der Welt außerhalb der USA übernommen haben.
Die Maschinen teilen den Menschen ein Mindesteinkommen zu, das jedoch, bis auf ein Taschengeld von dreißig Dollar, sofort für die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Bekleidung, Möbeln und Haushaltsgeräten einbehalten wird. Nach einer festgelegten Dauer werden sämtliche Gebrauchsgüter durch neue Produkte ersetzt. Diesen Menschen fehlt es an Selbstachtung und Selbstwertgefühl, da sie nicht mehr gebraucht werden. Alkoholismus, Gewalt und Selbstmord sind an der Tagesordnung. Nur wenige von ihnen werden als Wach- und Dienstpersonal für die Manager und Ingenieure beschäftigt. Sie arbeiten als Koch, Kellner, Wachmann oder Friseur. Aber auch diese Berufe werden von Automatisierung bedroht – wie auch die Berufe der Akademiker.
Ärzte verabreichen nach den Diagnosen, die von Maschinen erstellt werden, nur noch mechanisch die notwendigen Medikamente. Rechtsanwälte werden durch Lügendetektoren und Großrechner ersetzt. Auch die Zahl der Manager und Ingenieure sinkt ständig, die Maschinen entscheiden über ihre Entlassung, wenn ihr Wissen in den automatisierten Fabriken nicht mehr benötigt wird. Sie verlieren ihre Privilegien und müssen das Viertel der Oberschicht für immer verlassen.
Über die Welt außerhalb der USA erfahren wir nicht viel. Es gibt keinen Kommunismus mehr, aber auch kein freies Unternehmertum. Über den ganzen Globus sind Stützpunkte der Amerikaner verteilt, Armut und Sklaverei sind das Schicksal der Nicht-Amerikaner. Im Vergleich dazu leben die US-Bürger sehr gut. Ihr Daseinszweck ist der Konsum, denn die Maschinen brauchen sie, weil sie der Grund für ihre Produktivität sind.
Klingt alles ein wenig nach 2016, oder?
1952 schreibt Kurt Vonnegut „Player Piano“ (deutscher Titel: „Das höllische System“). Diese Dystopie ist sein erster Roman. Leider wird er in Deutschland nicht mehr aufgelegt, ich habe mir ein vergilbtes Exemplar aus den sechziger Jahren über das Versandantiquariat „Kunsthaus Stuttgart“ besorgt. Diese Zukunftsvision einer automatisierten Welt steht anderen Dystopien wie „1984“ oder „Brave New World“ in nichts nach. Ich denke, die wirklichen Probleme liegen noch vor uns. Vonnegut hat sie bereits vor über sechzig Jahren beschrieben: Der Fortschritt frisst seine Kinder.
P.S.: Natürlich gibt es in dieser finsteren Vision auch die romantischen Maschinenstürmer. Was wäre eine gute Dystopie ohne Widerstand. Sie ahnen schon, wer am Ende gewinnt. Richtig.
P.P.S.: Ich wäre in diesem System übrigens ein „W-440: Schriftsteller, Romane, Fortgeschrittener.“ Aufgrund systemkritischer Texte, deren Veröffentlichung natürlich verboten ist, verliert man aber ganz schnell seine Nummer – und damit auch sein Einkommen. Keine Nummer, kein Geld.
P.P.P.S.: Wie perfide das US-System schon vor über fünfzig Jahren war, zeigt dieser Text über die Operation Northwoods: http://www.heise.de/tp/artikel/15/15933/1.html
OutKast - Ms. Jackson. https://www.youtube.com/watch?v=MYxAiK6VnXw

Dienstag, 1. März 2016

Gestrichene Szene aus „Der Hobbit“

„Wenn der Frosch Flügel hätte, würde er sich nicht den Arsch beim Springen aufreißen.“ (Coen-Brüder: Arizona Junior)
Gollum grinste tückisch und sagte: „Ich habe noch ein Rätsel für dich.“
„Nur zu“, ermunterte in der arglose Bilbo. „Lass hören.“
„Du kannst von mir alles wissen, aber ich spreche nicht.
Ich spiele mit dir, aber ich will nicht gewinnen.
Du kannst bei mir kaufen, was du willst, aber ich verlange kein Geld.
Ich gehe jedem auf die Nerven, nur meinem Besitzer nicht.
Wer bin ich?“
„Mein Handy“, antwortete Bilbo wie aus Pistole geschossen.
Wütend schlug Gollum mit der Faust auf den Boden.
„Richtig“, raunte er dem Hobbit sotto voce zu.
Roxy Music – Avalon. https://www.youtube.com/watch?v=jU2qGgYDf2Q

Planet Ende

„Jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt.“ (Andy Bonetti: Das Tao des Klugscheißens)
Aber was ist mit dem letzten Schritt? Du betrittst die Herberge und die Küche hat gerade geschlossen. Du kommst zu spät zum Zug und ausgerechnet heute ist er pünktlich abgefahren. Du bist endlich da, aber dein Ziel ist eine einzige Enttäuschung. Du willst woanders hin, weißt aber nicht, wo das ist.
Du kommst in der Abenddämmerung in einem Hotel mitten im afrikanischen Dschungel an und es ist komplett ausgebucht, weil ein Haufen französischer Dokumentarfilmer alle Zimmer genommen haben. Es ist jene ferne Zeit, da es noch keinen Mobilfunk gab. Deine Reisegefährtin ist genauso müde und voller Staub wie du. Ein Mitarbeiter schlägt auf dem Rasen vor dem Hotel ein Zweimannzelt auf, in dem ihr die Nacht verbringen werdet. Beim abendlichen Barbecue mit Antilopenfleisch erklären dir die Scheißfranzosen ihr Filmprojekt, und in der Nacht lässt dich der aufregende Sound des Dschungels auf der anderen Seite der Zeltplane nicht eine Sekunde schlafen.
Auch das ist ein Ankommen. Auch das ist Reisen.
The Cure - The Walk. https://www.youtube.com/watch?v=gkCYh1x44G8

Europa – ohne Politikergeschwafel

Seit meinen Kindertagen war ich am Mittelmeer unterwegs: Spanien, Italien, Frankreich, Portugal, Griechenland. Hat uns die EU (vormals EG, vormals EWG) näher zusammengebracht? Nein. Die Menschen am Mittelmeer waren schon immer nett und ich habe mich schon immer gut mit ihnen verstanden. Eine Erfahrung, die ich übrigens bei meinen Reisen nach Großbritannien, Belgien, Holland, Polen, Ungarn, Russland, Österreich usw. auch gemacht habe. Wenn du nett zu anderen bist, sind andere nett zu dir. Das ist banal - und nicht das Ergebnis eines Elitenprojekts namens „Europa“.
Bistro oder Beisl, Taverne oder Trattoria, Pub oder Bodega – man sitzt einfach zusammen und unterhält sich. Die Europäer verstehen sich problemlos. Und die Politiker behaupten, es wäre ihr Verdienst. Was für ein Schwachsinn! Aber die EU-Propagandisten erzählen uns jeden Tag, es hätte etwas mit ihrer kommerziellen Vereinigung zum Zwecke der Gewinnmaximierung zu tun. Es ist schlicht gelogen. Politik und Wirtschaft haben in den letzten Jahrzehnten überhaupt nichts zum Verständnis der Völker beigetragen – ganz im Gegenteil.
Suzanne Vega – Luka. https://www.youtube.com/watch?v=VZt7J0iaUD0

Flapper – die Perle für Ihren nächsten Smalltalk

„Flapper“ sind Riot Girls avant la lettre. Sie waren ein Phänomen der 1920er Jahre. Kennzeichen: relativ kurze Röcke (das Knie blieb bedeckt), kurze Haare, Rauchen & Trinken, frech, selbstbewusst, emanzipiert. Sie besuchten nachts Jazzclubs und fuhren sogar Auto! Sie tanzten wild, so dass gelegentlich ihre Knie sichtbar wurden, die daher mit Puder oder Rouge geschminkt waren. Flapper suchten sich die Männer aus, mit denen sie tanzten (Charleston, Black Bottom und andere provokative Tanzstile) und die sie verführten. Ihre Lebenslust und ihre Freiheit wurden Opfer der Weltwirtschaftskrise, die Ende 1929 begann. Aber die Flapper sind, neben den Suffragetten, der Prototyp der modernen Frau. Zusammen bilden sie das Bindeglied zwischen dem vormodernen „Weibchen“ und der emanzipierten Frau der Gegenwart.
The Human League – The Mirror Man. https://www.youtube.com/watch?v=MMu1T_Tg5Fw