Dienstag, 24. Mai 2016

Kalte Tränen, toter Stein

„Man ändert sich nicht, man bessert sich nicht, man wird nur älter.“ (Paul Newman)
„Ist hier noch frei?“
Die gutaussehende Blondine mit der riesigen Sonnenbrille hätte ich eher im Chesa Veglia in Sankt Moritz erwartet und nicht in diesem einfachen Dorfgasthaus.
„Freilich“, sage ich, und „Grüß Gott“. Wir befinden uns gerade in Franken und ich bin ein Sprachchamäleon.
Sie setzt sich mit ihrer Mutter zu mir an den großen Wirtshaustisch. Eine Apfelsaftschorle und eine Tasse Kaffee werden bestellt.
„Kannst du dir das vorstellen? Kannst du dir vorstellen, dass der Sebastian sowas macht?“ Die Blondine ist Ende dreißig.
Ihre Mutter bleibt stumm.
„Meine Wohnung ist nicht weit weg vom Fitnessclub. Das ist immerhin ein Vorteil.“
Die Mutter raucht eine Marlboro Light.
„Was sagst du denn dazu, Mutti? Das ist doch unglaublich, oder? Der Sebastian hat einfach nicht nachgedacht. Jetzt sitzt er allein in der Riesenwohnung.“
Die Mutter schweigt. Dann redet sie doch: „Um halb sechs gibt es Abendessen.“
„Ja, Mutti. Ich bring dich rechtzeitig zurück ins Heim. Willst du denn hier nichts essen? Schau mal: Es gibt Sauerbraten, Schweinsbraten, Gulasch.“
Die Mutter schüttelt den Kopf.
Dann kommt ein Mann an den Tisch.
Bussi, Routinelächeln.
„Ja, Thomas, grüß dich. Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen.“
Es stellt sich heraus, dass sich die beiden seit der Schulzeit kennen. Er spricht von seinen Erfolgen und seiner Familie. Zum Beweis steht alsbald seine etwa zehnjährige Tochter neben ihm. Sie erzählt, sie sei jetzt zurück nach Franken gezogen.
„Schön, dass wir uns mal wieder gesehen haben. Mach’s gut. Wir sehen uns.“
Bussi, Routinelächeln.
Als der Mann verschwunden ist, sagt sie zu ihrer Mutter: „Hier kann man nicht mehr hingehen. Überall trifft man Leute.“
Die gescheiterte Ehe, das neue Leben in der alten Heimat, die demente Mutter, die sie ins Altersheim abgeschoben hat.
Es ist Muttertag und vor mir sitzt eine schöne Frau, deren Leben in Trümmern liegt. Ihr Lebensweg ist in Wirklichkeit eine staubige Straße im Nirgendwo, sie bettelt vergeblich um Verständnis und Mitleid bei ihrer herzlosen Mutter, die besten Jahre liegen hinter ihr. Wenn sie in dieser Stunde, in der ich ihr zuhörte, nicht so oberflächlich, so selbstbezogen, so widerlich gewesen wäre – fast hätte sie mir leidgetan.
The Chameleons – Nostalgia. https://www.youtube.com/watch?v=Hcb7VqrFY6E

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