Freitag, 27. Mai 2016

Triest III

„Sisyphos lag auf einer Wiese am Berghang und betrachtete lächelnd die Wolken, die langsam über ihm vorüberzogen.“ (Johnny Malta: Lass es sein – Arbeit 4.0)
Ich bin jetzt seit zwei Wochen in der Stadt und habe immer noch keinen Menschen kennengelernt. Meine letzte Freundin hat mich für unreif gehalten. Das ist richtig, aber es ist noch viel schlimmer. Ich bin unfertig und werde es immer bleiben. Noch sieht alles so aus, als sei etwas im Entstehen, als würde etwas aufgebaut werden. Das stimmt nicht. Was nach Rohbau aussieht, ist in eine Ruine. Es fehlen die tragenden Elemente. Wie sollte ein Schelm zu einer Stütze der Gesellschaft werden? Ein Schelm gründet keine Familie, er baut kein Haus und er pflanzt auch keinen Baum. Ein Schelm führt seinen Narrentanz auf. Mehr kann er nicht und mehr können wir von ihm auch nicht verlangen.
Ich beschloss, mich einem neuen Projekt zu widmen. Ich wollte mich mit den Schriftstellern beschäftigen, die in dieser Stadt gewirkt hatten. Also konzentrierte ich mich auf Joyce, Svevo und Rilke. Ich las ihre Bücher, ich las Biographien und alles andere, was ich zu ihrem Leben finden konnte. Ich suchte die Orte auf, die sie aufgesucht hatten.
Joyce traf ich eines Abends in einem Lokal in der Via Risorta. Ich hatte bereits einige Gläser Absinth getrunken, als ich auf ihn aufmerksam wurde. Er saß allein an einem Tisch im Halbdunkel und las eine Zeitung.
„Mein Name ist Jiminy Pastrama“, log ich in den blauen Dunst des „Da Libero“ hinein und trat zu ihm an den Tisch. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Mit derlei routinierten Provokationen pflege ich mein Leben aufzulockern und die meisten Menschen reagieren zu spät, um das Eindringen in ihre Privatsphäre zu verhindern.
„Gerne“, antwortete James Joyce matt.
„Sind Sie schon lange in dieser Stadt?“
„Ja, schon seit einigen Jahren. Ich arbeite als Englisch-Lehrer.“
„Aber das ist doch furchtbar langweilig“, entfuhr es mir.
Joyce lachte. „Das ist wahr. Aber nicht alle meine Schüler sind so schrecklich, wie Sie jetzt vielleicht vermuten werden. Ich unterrichte ja nicht nur Kinder. Was führt Sie nach Triest?“
„Ich flaniere gerne durch die italienischen Städte und Triest ist die große Unbekannte. Beim Gehen kommen mir die besten Gedanken und in den Kaffeehäusern und Kneipen kann man die Menschen am besten beobachten.“
Joyce schaute mich verblüfft an und schlug dann lachend mit der flachen Hand auf den Tisch. „Mir geht es ganz genauso! Ich schlendere stundenlang durch die Stadt und abends sitze ich dann in den Bars und Kaschemmen, um das Leben in mich einzusaugen. Mir strömen so viele Gedanken durch den Kopf, aber wenn ich abends nach Hause komme und meine Notizen mache, habe ich das meiste vergessen. Ich bin nämlich eigentlich Schriftsteller, müssen Sie wissen.“
„Ich auch und ich habe die Lösung für Ihr Problem“ sagte ich und zog ein Diktaphon aus der Jackentasche. „Mit diesem Diktaphon können Sie Ihre Ideen aufzeichnen und bei Bedarf auch manchen Dialog am Tresen mitschneiden. Zuhause müssen Sie es nur noch abtippen.“
Joyce bedankte sich für dieses Geschenk. In seinem Hauptwerk „Ulysses“ nutzte er den „stream of consciousness“ als Schreibtechnik, um den uferlosen Prozess des menschlichen Denkens, des plötzlichen Assoziierens und fragmentarischen Erinnerns literarisch darstellen zu können. Ohne mein Diktaphon wäre aus diesem Buch kein Meisterwerk geworden.
Ein kleiner schnurrbärtiger Mann in einem dunklen Dreiteiler mit Fliege trat an unseren Tisch.
„Darf ich vorstellen?“ fragte Joyce. „Das ist Ettore Schmitz, einer meiner Schüler. Er ist auch Schriftsteller.“
„Sehr erfreut“, sagte ich, erhob mich und gab ihm brav die Hand.
Als wir die nächste Runde bestellt hatten, zog ich ein Manuskript aus meiner Jackentasche und sagte: „Ich habe vor einigen Tagen einen kurzen Text geschrieben, den ich Ihnen gerne zu Gehör bringen möchte. Mich interessiert Ihre Meinung als Fachkollegen.“
Die beiden Literaten lehnten sich in ihre Sessel zurück und hörten mir aufmerksam zu, während sie ihre Zigaretten rauchten. Meine kleine Erzählung trug den Titel „Triest“.
„Wie amüsant“, sagte Svevo. „Endlich schreibt mal jemand etwas über meine Heimatstadt.“
„Aber ich bin doch nur ein flüchtiger Gast. Warum schreiben Sie nicht selbst einen Roman über diese Stadt?“
Svevo schaute mich ganz verblüfft an. „Ja. Warum eigentlich nicht?“
Er lächelte verschmitzt und nahm eine weitere Zigarette aus seinem silbernen Etui. „La ultima sigaretta.“
So entstand „La coscienza di Zeno”, ein Roman über einen Lebenskünstler, der es nicht schafft, seine letzte Zigarette zu rauchen. Er lebt vom Geld seines Vaters, der ihm auf dem Sterbebett eine Ohrfeige gibt. Schmitz veröffentlichte ihn unter seinem Künstlernamen Italo Svevo. Was die wenigsten wissen: Schmitz alias Svevo wurde als Leopold Bloom im „Ulysses” verewigt.
Rilke habe ich gleich erkannt. Dieser stechende Blick aus irren Augen. Der dicke Schnurrbart, der sich um die Mundwinkel herum bog. Die hohe Stirn, das zurückweichende Haar. Er stand vor mir an der Supermarktkasse. Ich hatte „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ gelesen und erlaubte mir einen Scherz.
Ich tippte ihm auf die Schulter und fragte: „Malte? Malte Laurids Brigge?“
Er sah mich entgeistert an.
„Ich bin es, dein alter Kumpel aus Prag.“
Wenig später saßen wir in einem Kaffeehaus und ich spendierte eine Runde Rüdesheimer Kaffee nach der anderen. Der Weinbrand machte ihn gesprächig und so konnte ich in zu einem Ausflug am nächsten Tag überreden.
Den ganzen Vormittag hatte es geregnet, aber als es um die Mittageszeit aufklarte, machten wir uns auf den Weg zu Schloss Duino. Ich hatte mich ihm gegenüber als Librettologe ausgegeben, der auf der Suche nach Gedichten sei, die man im Rahmen einer Oper oder einer Operette vertonen könne. Er nickte mir zu und schien nachzudenken.
Wir erreichten das Schloss, dessen weiße Zinnen an der Westseite mit Efeu bewachsen waren. Die Ostseite wirkt hingegen wie ein ortsüblicher Palazzo. Die Begrüßung durch den Hausherrn, den ich einmal in Verona kennengelernt hatte, war sehr freundlich und er zeigte uns das weitläufige Anwesen. Besonders gut gefiel Rilke ein großes Zimmer, von dem aus er über das weite Meer blicken konnte.
„Hier müsste man schreiben“, seufzte er, als er das zweifache Blau des Panoramas betrachtete.
„Warum bleiben Sie nicht eine Weile?“ fragte der Graf. „Das Schloss ist groß genug und die Küche ist ausgezeichnet.“
So entstanden die Duineser Elegien. Leider konnte ich die Arbeit nicht mehr kuratieren, da ich einige Tage später die Stadt verließ - offiziell mit unbekanntem Ziel. In Wirklichkeit bin ich längst auf dem Weg nach Irkutsk. Sie erkennen mich an meinem hermelinbesetzten Brokatumhang.
Yazoo – Situation. https://www.youtube.com/watch?v=QdV-5ivltkc

1 Kommentar:

  1. Mann, die Anmerkungen für diesen Text für die kommentierte Werkausgabe vorzubereiten, wird wieder Wochen dauern.

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