Sonntag, 2. Juli 2017

Herzdame mit Streuselkuchen

Manchmal frage ich mich, warum so viele völlig unbedeutende und unbekannte Leute mit ihrer Biographie bei Wikipedia landen. Es gibt andererseits Menschen, deren Biographie im diesem krebsartig wuchernden Lexikon fehlen. Nehmen wir Wilhelmine „Minna“ Eberling als Beispiel.
Als sie geboren wurde, herrschte noch ein Kaiser über das Reich, wie im Märchen. Ein Kaiser, den man nur vom Hörensagen kannte, denn Zeitungen las man in ihrer Familie nicht, Fernsehen und Radio waren noch nicht erfunden. Selbst von den großen Tragödien wie dem Untergang der Titanic erfuhr man damals erst nach Wochen etwas am Gartenzaun oder im Gasthaus.
Ihr Vater arbeitete bei der Reichsbahn und starb an Blinddarmentzündung, als sie vier Jahre alt war. Ihre Mutter starb an der Spanischen Grippe, als sie vierzehn war. Damals war der Weltkrieg gerade vorüber und sie musste sich als Waise Arbeit auf einem der umliegenden Bauernhöfe suchen.
Als sie siebzehn war, stieß ihr eine Kuh das linke Auge aus. Sie musste in eine Augenklinik, wo sie nach ihrer Genesung als Hilfskrankenschwester blieb. Sie heiratete in der Weltwirtschaftskrise einen Arbeiter, der sein Geld im Steinbruch verdiente. Sie war eine Fremde im Dorf ihres Mannes.
Ihr erster Sohn kam 1934 auf die Welt. Ein zweiter Sohn folgte einige Jahre später, doch sie musste ihn noch vor seinem dritten Geburtstag begraben. Wieder Blinddarmentzündung.
Dann kam der nächste Weltkrieg. Ihr Mann wurde 1945 noch zum „Volkssturm“ einberufen und musste fünfzehn Monate in französischer Kriegsgefangenschaft verbringen. Sie verbrachte diese Zeit mit ihrem Kind in einem Zimmer bei den Schwiegereltern und durfte nicht am Familienessen teilnehmen.
Im Wirtschaftswunder baute die Familie mit bloßen Händen ein Haus. 3000 DM Kredit von der Sparkasse und gelegentlich zwei Gehilfen für die Arbeit. Ein Stockwerk wurde an eine alleinstehende Lehrerin vermietet, eines bewohnte man selbst. Der Garten war komplett für Kartoffeln und Gemüse bestimmt, einige Hühner lieferten die Eier. Fleisch gab es nur sonntags.
Es gab kein Auto und sie ist niemals in ihrem Leben verreist. Sie hat den ganzen Tag Wasser aus der Leitung getrunken und war niemals im Ausland. Im Winter wurde nur die Küche geheizt und alle gingen vor acht Uhr abends ins Bett.
Sie wurde taub und hörte Volksmusik in ohrenbetäubender Lautstärke. Ihr Mann wurde ein schweigsamer, mürrischer Trinker. Beide bekamen etwa fünfhundert DM Rente.
Ich erinnere mich an das gute Essen. Pellkartoffeln mit Quark. Rohe Erbsen. Selbstgebackener Streuselkuchen. Einmal habe ich nur die Streusel gegessen, nicht den Boden. Mein Opa wurde fuchsteufelswild und erzählte wieder die Geschichten über die klägliche Ernährung in der Kriegsgefangenschaft. Meine Oma lächelte und ließ es mir durchgehen.
Den Tod ihres Mannes hat sie nicht verstanden. Ab diesem Tag war mein Vater ihr Mann. Obwohl sie erst 1991 starb, hat sie nie etwas von der deutschen Einheit erfahren. Als sie – wahnsinnig geworden – in einer geschlossenen Anstalt starb, war niemand von uns bei ihr.
Heartless Bastards - Only For You. https://www.youtube.com/watch?v=F8wqmh3KybI

1 Kommentar:

  1. Sie war die Beste, Ferien in K. waren erholsam, alles war erlaubt, herrlich!!!

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