Mittwoch, 6. Januar 2010

Brunnenkiez-Krimi Nr. 10


"Du gibst mir zwanzigtausend Euro oder ..."
"Was ‚oder‘?"
"Über das ‚oder‘ solltest du besser erst gar nicht nachdenken. ‚Oder‘ ist die Welt der Schmerzen. Du bist in zwei Stunden an der Bushaltestelle vor dem Gesundbrunnencenter, kapiert?"
Ich drücke die Aus-Taste meines Handys und biege in die Ramlerstraße ein.
Das schöne an Berlin ist ja, dass die meisten Menschen freiwillig hier sind. Auf dem Kaff sind alles Einheimische, Eingeborene, Einödbauern, weeß icke. Da fragen sich die Leute dann – oder wenigstens die Hartnäckigen unter ihnen -, welchen konkreten Sinn eine solche ländliche Existenz auf lange Sicht bietet. Und so entscheidet sich der Mensch, nach Berlin zu ziehen. Man zieht ja heutzutage irgendwo hin wie zu früheren Zeiten die nichtsesshaften Völkerscharen. Und nicht alle Leute, die in die Stadt kommen, tun der alten Tante Berlin gut.
Aber zunächst geht es um etwas anderes: Sein Name ist Georgeos Frostikowski, hier im Kiez aber einfach nur als Panama-Paule bekannt. Wegen seinem Panama-Hut natürlich. Hauptsächlich geht es allerdings um mich. Mein Name ist Gylfi Helgasson und ich bin der einzige Isländer im Brunnenviertel. Freiwillig und das bereits seit sieben Jahren. Aber das ist nicht mein Problem. Mein Problem heißt Panama-Paule und wird heute aus der Haft entlassen.
Hätte ich nicht die Angewohnheit, laute Selbstgespräche zu führen, wäre sicher alles ganz anders gekommen. Und Dr. Wladimir Bluthusten, mein Hausarzt, hätte ja auch später die Straße überqueren können. Aber so kam alles, wie es schließlich auch gekommen ist. Nicht wie es zwangsläufig kommen musste, denn sehr oft sind es unglaubliche Zufälle, die am Anfang einer Geschichte stehen. Während ich also vor mich hinmurmele "Scheiße, Scheiße, Scheiße. Wer kann mir da nur helfen" (glücklicherweise habe ich nicht auf isländisch gemurmelt), kommt der Doc vorbei und ruft mir zu: "Geh doch zu Mardo".
"Wo find ich den?"
"Ruf die Auskunft an. Gibt nur einen in Berlin. Jan Mardo."
"Danke." Und es geht weiter, denke ich.
Nach Hause kann ich jetzt nicht gehen, also rufe ich die Auskunft an und bin wenig später mit Mardo verbunden. Er ist Privatdetektiv und wohnt in der Graunstraße. Der Frost frisst sich in meine Hände und die Ohren tun mir weh.
Der Typ, der mir die Tür öffnet, ist vielleicht einen Meter siebzig groß. Er hat kurze dunkle Haare, eine schmale lange Nase und eine vergleichsweise große Stirn. Er wirkt ein bißchen schmalbrüstig auf mich, der Pullover scheint eine Nummer zu groß zu sein.
"Irgendwie hatte ich mir das Büro eines Privatdetektivs anders vorgestellt." Wenn es sein muss, kann ich ja sehr subtil sein. Wir sitzen in einer original-nullachtfuffzehn-Berliner Küche und ein Kaffee in einer Simpsons-Tasse steht vor mir.
"Hab das Büro aufgegeben. Als Privatdetektiv hat man ohnehin wenig Laufkundschaft und im Kiez kennt man mich inzwischen." Mardo zögert, dann zuckt seine linke Augenbraue für eine Nanosekunde nach oben und er ergänzt: "Außerdem hat meine Freundin gerade ihren Job im Einkaufszentrum verloren."
"Das kenne ich". Das kenne ich tatsächlich. Die Arbeitsagentur in der Müllerstraße ist schon seit langem mein Joker, wenn sonst nichts mehr läuft. Meine Schnittstelle zum allgemeinen Geldkreislauf, die Dockstation für meinen Bio-Pod.
"Was kann ich für Sie tun?"
Ich erzähle ihm meine Geschichte. Seit über einem Jahr arbeite ich für Panama-Paule. Mardo versichert mir, dass ich offen reden kann. Jetzt wird es nämlich ein bißchen illegal. Panama-Paule ist Kaufmann im weitesten Sinne, er kauft und verkauft Sachen. Die Geschäfte liefen immer gut, er übergab mir regelmäßig einen Teil seiner Einkünfte und ich habe es per "MoneyGram" meinem Bruder in Reykjavik geschickt, der es auf der dortigen Bank bar auf ein Konto mit Panama-Pauls Name einzahlte. Damit wollte sich Panama-Paule später einmal zur Ruhe setzen, aber die Klaufing Megabanki in der Geirsgata am Hafen von Reykjavik ging pleite und alle Einlagen waren weg.
Mardo hört scheinbar gleichgültig zu, sein Gesicht verrät nichts. Aber er stellt immer wieder Zwischenfragen. Ich werde aus dem Typ nicht schlau, aber vielleicht muss man in seiner Branche einen möglichst unbeteiligten Gesichtsausdruck mitbringen.
"Panama-Paule hat drei Monate in Moabit eingesessen. Da hat man zwar nur zwei Stunden Besuchszeit im Monat, aber trotzdem erfährt man alles. Ist für Typen wie Panama-Paule ja eigentlich wie ein Klassentreffen. Der kennt dort jede Menge Leute und bleibt immer auf dem Laufenden."
"Und jetzt will er sein Geld," stellt Mardo ruhig fest.
"Genau. Er ist heute morgen aus der Haft entlassen worden."
"Was ist meine Aufgabe?"
"Ich brauche Sie als Body-Guard."
"Das gehört nicht zu meinen Aufgaben. Dafür gibt es sicher bessere Leute."
Das darf nicht wahr sein! In den nächsten Stunden kreuzt Panama-Paule garantiert im Brunnenviertel auf und er spielt hier die Diva. "Bitte! Ich brauche Ihre Hilfe. Zu den Bullen kann ich nicht gehen."
"Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie geben mir eine Anzahlung und tauchen für zwei Tage bei einem Freund unter, möglichst nicht in dieser Gegend. Ich werde mich an ihren Geschäftsfreund hängen und sehen, was sich machen lässt."
Auf der Fensterbank steht ein Bäumchen, vielleicht einen knappen Meter hoch. Eine winzige Orange hängt an einem der Äste. Das Grün der Blätter überrascht mich. Orangenbäume kennen wohl keinen Herbst und keinen Winter. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann ich zuletzt etwas so Grünes gesehen habe.

Panama-Paule steigt am Bahnhof Gesundbrunnen aus. Mit seinem Hut, dem Kaschmirschal und dem schwarzen Mantel sieht er aus wie ein drittklassiger Schriftsteller aus gutbetuchtem Haus. Damit schlägt er meinen Klienten, einen Isländer, optisch aber um Längen. Die zotteligen blonden Filzlocken im Rasta-Stil, der fleckige Parka, darunter ein T-Shirt mit dem Aufdruck "25 Jahre harte Drogen". Dazu hat er offenbar seine besten Jogginghosen angezogen, die weißen mit den silbernen Streifen. Life aus Prollywood. Er zerkaute die Silben wie ein texanischer Cowboy, während er mir sein Problem erklärte. Nachdem er sich bei mir eingeschleimt hat, wollte ich eigentlich sagen: "Wenn ich einen Ring hätte, dürftest du ihn jetzt küssen." Hat mir dann hundert Euro in Zehner- und Zwanziger-Scheinen gegeben. Derzeit verdient er sein Geld, indem er die Drohbriefe für Inkasso-Iwan in der Badstraße schreibt. Auf dem Bahnhofsvorplatz stehen zwei Afro-Berliner und unterhalten sich auf Französisch. Der Größere hat Augenringe wie Fahrradschläuche, der Kleinere kaut Kaugummi, ein Muskel zuckt rhythmisch an seiner Schläfe. Ich stehe an der Bushaltestelle und sehe nur gelegentlich zu Panama-Paule rüber. Trotz der Minustemperaturen scheint er seine Zigarette zu geniessen. Schließlich tippt er eine Nummer in sein Handy und lauscht eine Weile schweigend. Dann geht er die Brunnenstraße hinunter. Er verschwindet in einer kleinen Döner-Bude, ich laufe weiter. Nach einigen Schritten gehe ich zurück und schaue durch die Schaufensterscheibe. Panama-Paule sitzt am hinteren der beiden Tische und spricht mit zwei Männern. Ich warte eine halbe Stunde auf der anderen Straßenseite. Vermummte Gestalten mit roten Nasen gehen steif vorüber.
Zwei Rentner schlendern vorbei. "Wir brauchen hier keine Bäume. Erstens machen Bäume Dreck und zweitens gehören sie in den Wald. Waren Sie schon mal im Wald? Ich kann Ihnen sagen: Alles voller Bäume! Daran herrscht doch wohl kein Mangel. So ein Hubschrauberlandeplatz wäre gar nicht so übel. Zum Beispiel am Vinetaplatz, da ist doch sowieso nie jemand." Der alte Mann hat sich in Rage geredet, in seinen Mundwinkeln bildet sich weißer Schaum. Sein Zuhörer nickt heftig. Es geht offenbar um die Gerüchte, der Bundesnachrichtendienst plane einen Hubschrauberlandeplatz im Mauerpark. Für mich wäre das ein Alptraum, denn auf meinem Balkon habe ich den Park direkt vor mir.
Als Panama-Paule die Döner-Bude verlässt, spüre ich kaum noch meine Ohren. Er überquert die Brunnenstraße und biegt in die Demminer Straße ein. Vor einem Haus in der Ruppiner Straße bleibt er stehen. Hier wohnt Gylfi Helgasson, ich kann mir denken, was er vorhat. Aber er klingelt nur ein paar Mal und geht dann weiter. Eigentlich sollte er jetzt zum Arkonaplatz gehen, denn dort ist er gemeldet. Tatsächlich schlägt er die Richtung ein, läuft aber an seinem Haus vorbei in Richtung Zionskirchplatz. Er biegt in einen Hauseingang ein. Ich warte eine Weile, dann gehe ich am Eingang vorbei. Ein Durchgang zum Hinterhof, ich zögere. Soll ich hier warten, bis er wiederkommt? Es ist verdammt kalt und ich beginne, meinen Job zu hassen. Aber gerade jetzt, wo Mary einen neuen Job sucht, kann ich mir keine Prinzessin-auf-der-Erbse-Nummer leisten. Wir müssen von irgendwas leben und 2009 habe ich gerade mal zwanzigtausend Euro verdient. Ich beschließe, mich ein wenig im Hinterhof umzuschauen. In den ersten Fenstern brennt schon Licht. Dann spüre ich plötzlich etwas Hartes in meinem Rücken.
"Dreh dich nicht um!"

Ich bin kein großer Erzähler. In meinem Job ist es besser, wenn man nicht so viel erzählt. Zum Beispiel von den Sachen, die mir die Leute bringen. Keine Ahnung, wo die das Zeug her haben. Wieso hat einer zehn DVD-Player in Originalverpackung? Ich weiß es nicht und ich will es auch nicht wissen. Ich kaufe und verkaufe Sachen. So einfach ist das. Geld kommt, Geld geht. Und wenn man es wie eine Schlampe behandelt, kommt es immer wieder. Ich habe da ein gutes Versteck, einen alten DDR-Fluchttunnel, der nirgendwo verzeichnet ist. Ist am Bahndamm, aber mehr sage ich nicht.
Dass mir jemand folgt, merke ich, als ich bei meinem Kumpel Ali aus dem Lokal komme. Aber den Typ habe ich mir geschnappt. Und was soll ich sagen: Es ist Mardo. Der Privatdetektiv aus dem Brunnenviertel. Hat noch nicht mal eine Waffe dabei, macht aber auch keinen Stress. Ich will auch keinen Ärger, die Bullen haben mich auf dem Kieker. Und Mardo hat mir früher mal geholfen. Eigentlich eine peinliche Sache, eher eine Jugendsünde. Würde ich heute nicht mehr machen. Hab da mal so’ner Oma die Handtasche abgenommen. Mardo hat die Sache für mich geklärt. Ohne Bullen, verstehst du? Hat die Sache mit der Oma geklärt, ich habe alles korrekt zurückgegeben. Die Bullen hätten das nie rausgekriegt, die haben andere Sachen zu tun. Aber die Olle ist zu Mardo und der hatte irgendwie Wind von der Geschichte bekommen. Ich hab mich beim Vertickern der Tasche einfach blöd angestellt. Heute würde mir das nicht mehr passieren. Da würde ich in nullkommanix Geld und Handy aus der Tasche nehmen und den Rest in die nächstbeste Tonne kloppen.
Ich hab mich mit Mardo in die nächstbeste Kneipe gesetzt und wir haben geredet. Der Typ ist gar nicht so verkehrt. Die Sache mit dem Geld, das in Island festsitzt, ist noch nicht vorbei. Die Isländer rücken die Kohle vielleicht bald wieder raus. Da soll jetzt der Staat einspringen und irgendein internationaler Währungsfond. Gylfi hat jedenfalls nicht soviel Kohle. Und in Sachen Bewährung muss ich sowieso die Füße still halten. Mein Bewährungshelfer will, dass ich mir einen richtigen Job suche. Mardo hat da schon eine Idee. Sein Bruder Max hat in der Motzstraße einen kleinen Plattenladen. Da könnte ich arbeiten. Ich muss auch nicht jeden Tag kommen und nicht vor zwölf. Das klingt gut. Erstmal in Ruhe abwarten und langsam wieder ins Geschäft kommen. War ein gutes Gespräch. Ich hätte Mardo gerne einen DVD-Player oder so geschenkt, aber er wollte nicht. Schade. Ist echt ein Spitzengerät.

Sonntag, 3. Januar 2010

Silvester 2009


Und ist die Wirtschaft auch im Tal
Heut gibt’s statt Wasser Bier Royal
Dazu ein schönes Steak zum Trost
Silberbesteck und Golden Toast

Wenn ich dann nicht mehr weiter weiss
Geh ich hinaus auf’s Wannseeeis
Von unten lockt ein warmes Licht
Bis endlich alles um mich bricht

Rückblick


Die schönste Geschichte des abgelaufenen Jahres stammt aus einer bekannten Kulturredaktion in der Hauptstadt. Die Redaktion besteht aus zwei Räumen: einem Zimmer für den Chefredakteur und einem Zimmer für die vier Redakteure, die Sekretärin und die Kaffeeküche. Durch den angeblichen Lärm der beiden weiblichen Redakteure und der Sekretärin fühlten sich die beiden männlichen Redakteure bei der Arbeit gestört. Also haben sie beantragt, dass durch die Redaktion eine Mauer gezogen wird. Und tatsächlich kamen dann die Maurer und taten ihre Arbeit. Immerhin hat die Wand eine Tür, es gibt also eine Verbindung zwischen den beiden Räumen. Kultur in Berlin im Jahre 2009 – zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ...