Samstag, 22. Dezember 2012

Schweigende Mauern, stumme Erde

Unser Haus hat im Krieg keinen Bombentreffer abbekommen. Das war Glück, denn nach Kriegsende konnte man von diesem Haus einen Kilometer bis zum Ku’damm laufen, ohne an einem einzigen Gebäude vorbeizukommen. Aber was im Garten ist, kann keiner sagen. Niemand würde es wagen, tiefer als einen Meter zu graben. Darunter beginnt die Berliner Geschichte. Und es ist keine nette Geschichte mit griechischen Amphoren und antikem Schmuck. Liegt ein Blindgänger unter der Erde oder sind 1945 ein paar Leichen hier verbuddelt worden? Damals gab es weder Friedhofs- noch andere Ordnungen. Einen Kilometer weiter war ein Zwangsarbeiterlager am heutigen Sozialpalast. An derselben Mauer, gegen die heute die Schulkinder ihre Bälle schießen, wurden russische Kriegsgefangene erschossen. Wer weiß, was auf unserem Grundstück alles geschehen ist? Unter der Oberfläche ist Berlin voller Wahnsinn. Könnte man die Toten sehen und sprechen, wäre diese Stadt die Hölle auf Erden. Aber wer will schon in München oder Zürich leben?

Samstag, 15. Dezember 2012

Namen

Ganz unten gibt es keine Namen. Die Fußballmannschaften, die wir in der Sportschau sehen, haben natürlich alle einen Namen. Ein paar Kinder, die Fußball spielen, haben schon keinen Mannschaftsnamen mehr. Gegenstände haben keinen eigenen Namen. Bäume und wilde Tiere haben keinen Namen. Armengräber haben keinen Namen. Ganz oben gibt es Namenspfaue mit einem Dutzend Vornamen und schwindelerregendem Fürstengeschnörkel direkt dahinter. Merkwürdigerweise mögen die meisten Menschen einfache Namen – ob im Roman oder beim Ausfüllen von Formularen.

Freitag, 30. November 2012

We're only in it for the stulle

Aufgrund der strategischen Lage meiner Wohnung ist es mir möglich, mich quasi von hinten ans KaDeWe anzuschleichen, ohne die apokalyptisch belebte Tauentzienstraße betreten zu müssen. Innerhalb von zehn Minuten habe ich mich dem Seiteneingang in der Passauer Straße von Süden genähert. In weiteren zehn Minuten werde ich mit der Präzision einer Navy Seals-Einheit die Feinschmeckeretage erreichen und sichern, um italienischen Schinken, französisches Brot und eine Rosinenschnecke zu requirieren. Es ist ein Routineeinsatz, jeder Handgriff sitzt. Ich habe sogar das passende Kleingeld. Auf dem Weg nach unten esse ich die Rosinenschnecke und denke an das letzte Hindernis: die Parfümerie. Ich muss durch die verdammte Parfümerie. Ein Alptraum voller schöner Frauen und süßer Düfte. In dreißig Jahren bin ich noch nie von ihnen angesprochen worden. Ich komme die Rolltreppe hinunter, in meiner abgerissenen Jeansjacke und mit Zehn-Tage-Bart, in einer Tüte das rohe Fleisch für meine nächste Mahlzeit, während meine Kiefer nervös das Backwerk zermalmen und Krümelfontänen in schnellem Rhythmus aus meinen Mundwinkeln schießen. Warum fragt ihr mich nicht, ob ich etwas kaufen will? Aber es ist, als wäre ich durch einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum direkt aus dem Altholozän in diese Abteilung gesprungen. Keiner wagt es mich anzuschauen, bis ich mit meiner Beute das Gebäude verlassen habe.

Freitag, 23. November 2012

Es lebe die Unvernunft

Die fünf Gegenreiche der in Mittel-Zweck-Denken und ökonomischen Gewinnhandeln befangenen menschlichen Vernunft: Das Spiel, die Kunst, die Liebe, der Rausch und der Wahnsinn. Wer sich – zumindest zeitweise – nicht in diese Territorien retten kann, dem bleiben nur Zerstörung und Selbstzerstörung. In diesen Gegenwelten verlieren wir uns, wir können die Zeit und unsere Sterblichkeit vergessen, und finden doch den Sinn, den das alltägliche Streben nach Macht, Anerkennung und Optionen – oft in seiner Afterform als banale Geldgier – nicht vermitteln kann. Wer sich in ein Musikstück versenkt, ist unter die Oberfläche individueller Verwertbarkeit abgetaucht. Wer mit Freunden durch den Wald spaziert, ist frei von zweckgebundenem Handeln. Erst diese Zweckfreiheit verleiht den Gegenreichen ihren tieferen Sinn und die Würde der Nutzlosigkeit, die im Zeitalter des destruktiv gewordenen „Vernünftigen“ und angeblich „Richtigen“ allein noch Trost spenden. Jenseits der Kommerzialisierung der Kunst, des Spiels usw. kann nur von hier aus, vom Territorium der Unvernunft, nach dem Abschied von allen revolutionären Subjekten ein neuer Geist des Widerstands entstehen. Es lebe die Unvernunft!

Montag, 29. Oktober 2012

Der deutsche Roboter - im Felde unbesiegt

„Weltmarktführerschaft“, sehr deutsch ausgesprochen, mit gerolltem R und gerollten Augen, etwas zu laut und mit hysterischer Wochenschaustimme vorgetragen – das ist das Ziel der deutschen Industrie. Wir dürfen auch diesmal auf das Ergebnis der teutonischen Bemühungen gespannt sein.
Was genau ist der Unterschied zwischen Derivaten, bezahlter Fellatio und Crystal Meth?
Das leere Kreisen des Kapitals im Orbit der Eliten, der Inzuchtkreislauf des Geldes zwischen Banken und Regierungen. Das Blut dieses Organismus transportiert keine Nährstoffe mehr, Milliarden Euro fließen Woche für Woche zum Schein in den Süden des Kontinents, wo Armut und Verzweiflung wachsen.
Heutzutage muss man das Gemüt eines Pferdemetzgers und die Lautstärke eines Flohmarkthändlers besitzen, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. Aber wenn alle so werden, hat keiner was davon. Am Ende sind wir alle Maulhelden und niemandem geht es besser.
Der Kapitalismus ist sich seiner selbst so sicher, dass er sich in politischen Führungspositionen diverser Ostschrippen, Westkrüppel und sogar vietnamesischer Augenärzte als Wirtschaftsminister bedienen kann.
Dienstleistungsgesellschaft: Wir dachten, wir beraten uns alle gegenseitig und verkaufen uns die Skulpturen, die wir selbst angefertigt haben. In Wirklichkeit schneiden wir uns gegenseitig die Haare und reichen unseren alten Schulkameraden die Leberwurst über die Theke.
Neulich gab es einen Weltrekord von einem Herrn Baumgartner von Red Bull: Noch nie ist ein Mensch so schnell so tief gefallen. Eine Metapher für unsere Zeit?
Nur die Unterschicht ist in diesem Land multikulti, das Job-Center ist der Ort, wo sich 200 Nationen treffen. Die Mittelschicht ist schon fast ausschließlich biodeutsch, die Oberschicht ist selbstverständlich rein arisch. Die wichtigen Dinge haben sich in Deutschland noch nie geändert.
Wenn du im Traum fällst, wachst du auf. In der Realität auch.
An die wirklich wichtigen Leute kommst du mit Geld nicht ran: entweder sie haben genug davon oder sie sind nicht interessiert.
In unserem Körper sind soviele rätselhafte Stoffe, in tausend Jahren werden die nächsten Steinzeitmenschen unsere ausgebuddelten Oberschenkelknochen als Fackel benutzen.

Montag, 8. Oktober 2012

Ackermanns Erbe

Eigentlich wäre die Deutsche Bank ein tragischer Fall: Keine Organisation hat in Deutschland in so kurzer Zeit einen solch rasanten Imageverlust erlitten seit der NSDAP in den frühen vierziger Jahren. Aber warum haben selbst Drogenhändlerringe und Zuhältervereine heute eine bessere Reputation und einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert als die Finanzmafia aus Frankfurt? Weil die Banken mit ihren Verbrechen nun einmal einen wesentlich höheren volkswirtschaftlichen Schaden verursacht haben als jede andere Gruppe in diesem Land seit Ende des Zweiten Weltkriegs. So destruktiv war noch nicht einmal die SED. Seit vielen Jahren ist die Deutsche Bank regelmäßig mit ihren Straftaten auf Seite 1 der Zeitungen. Alle paar Wochen ein neuer Skandal: manipulierte Zinsen, geprellte Kunden, Betrug als System. Wäre die Deutsche Bank keine Organisation, sondern ein Mensch, würde man diesen Menschen als notorischen Verbrecher bezeichnen. Mehrfach vorbestraft, immer wieder im Gefängnis – und wenn es keine Verurteilung gab, dann einen teuren Vergleich, der wie ein Schuldeingeständnis wirkt. Niemand möchte in der Nähe eines solchen Ganoven leben, man würde die Kinder von seinem Haus fernhalten wollen. Vor zehn Jahren war diese Bank der Inbegriff der Seriosität, der Mercedes unter den Banken. Jetzt sehen wir einen kriminellen Monolithen vor uns und angeblich machtlose Politiker. Italien hat die Mafia – wir haben die Deutsche Bank.

Samstag, 6. Oktober 2012

Herbststurm

4:44 morgens. Finde noch ein halbes Bier auf dem Schreibtisch. Im Kühlschrank steht eine angebrochene Flasche Cola. Spontan kippe ich beides zusammen und probiere es. Schmeckt nicht schlecht. Gerade eben habe ich das Colabier erfunden. Kein übler Anfang für den Tag. Aber so ist das eben, wenn man das letzte Universalgenie der Menschheit ist.
Es lockert auf, heißt es in der Wettervorhersage. Wäre insgesamt auch nicht schlecht.
Die Generation des Wirtschaftswunders ist auch die Generation der Kriegsverlierer. Auf dem Feld der Politik war für sie nicht viel zu gewinnen, diese ökonomische Selbstdefinition ist der heutigen Bundesrepublik immer noch anzumerken. Es geht uns gut, aber wir wissen nicht wozu.
Der Umweltschutz ist aus deutscher Perspektive eigentlich ein Teilaspekt der beiden Generalobsessionen Ordnung und Sauberkeit. Die Flüsse sind tot, die Luft stinkt, die Wälder ersticken am Dreck. Unsere Aufgabe: Aufräumen, das Land reinigen, alles Gift entfernen, Häutung, Erneuerung, immer und immer wieder. Wir gewinnen regelrecht Lust aus der Umweltverschmutzung. Alles soll wieder neu sein, sauber sein und gut riechen. Gebt uns mehr Seife! Wisch und weg. Das wäre auch ohne Auschwitz sicherlich ein sehr deutsches Thema geworden.
Nichts ist kostbarer als das Leben. Es hat keinen Preis. Und dennoch geben wir es hin und tauschen den Tod dafür ein. Denn das kostbarste Gut, unser Leben, ist der Preis, den der Tod verlangt. Wäre dann nicht der Tod das kostbarste im Leben? Wenn der Tod ein Ort wäre, würden sich hier die Reichtümer aller Zeitalter finden. Oder hilft uns die feinsinnige Logik, die wir uns angezüchtet haben wie unseren Hunden die albernen Visagen, an diesem Punkt nicht mehr weiter?
Alles Neue wird von der Obrigkeit zugleich auf seine Nützlichkeit und auf seinen moralischen Gehalt überprüft. Daher der doppelte Blick des misstrauischen Buchhalters und des weltfremden Dorfpriesters. Man stelle sich die beiden Herren beim Anblick einer Montgolfiere oder eines Smartphone vor: Was ist das? Was soll das? Wohin wird das führen? Und natürlich: Was habe ich persönlich davon?
Ein echter Gott ist voller Liebe und Zorn. Der lauwarme Christengott, passiv und voll inhaltsleerem Verständnis, ist ein ferner Verwandter, ein Langweiler auf Durchreise, Karottenkuchenfraktion inklusive Zeit-Abo. Kein Wunder, dass er in der Götterliga derzeit eher gegen den Abstieg spielt.
Früher hat man die eigenen Namen im Schmutztitel eines Buches notiert, denn nach der eigenen Lektüre nahm es gewöhnlich seinen Weg durch den Freundeskreis. So manches Exemplar war von seiner Reise gezeichnet wie ein alter Mann, als ich es wieder sah. So war der Name eher eine Ortsangabe als eine Besitzanzeige.
Warum sollten sich die Bürger Europas streiten? Weil sich ihre Politiker streiten? Das wäre doch albern. Wir geraten ja auch nicht gleich auf der Straße miteinander in Streit, nur weil sich unsere Hunde anbellen.

Mittwoch, 3. Oktober 2012

Tag der deutschen Einheit – europäisches Deutschland oder deutsches Europa?

Merkel und Ratzinger, der Papst und die Kanzlerin, die preußische Pastorentochter und der bayrische Ultra-Katholik, gemeinsam sind sie die moralische Geißel des Nordens für die Sünden des Südens, für die Jahre des Überflusses und der Euphorie. Die Zeit der Strafe und der Züchtigung, des Verzichts und der Buße ist voller Zorn - gegen sich selbst und gegen die Zuchtmeister. Hier bahnt sich ein Drama epochalen Ausmaßes an, von dem ich hoffe, dass es sich mir von meiner Berliner Sternwarte aus nur als Schauspiel, als Wetterleuchten am Horizont darbieten wird.
P.S.: Heute bei meinem Stammgriechen gewesen, O-Ton von einer Dame am Nachbartisch: „Ick find den Kapitalismus so zum Kotzen! Ick bin ja aus’m Osten, aber so schwarz hammse uns den Kapitalismus in der Schule nich jemalt.“ In der DDR lebten die Musterschüler des Kommunismus, in der BRD leben die Musterschüler des Kapitalismus.
P.P.S.: Ich bin übrigens auf der Basis folgender Überlegung vorsichtig optimistisch hinsichtlich der langfristigen Entwicklung: Würden Sie auf der sinkenden Titanic Silberlöffel klauen? Das wäre sinnlos. Gegenwärtig sehen wir, dass die Bereicherungsorgie der „Elite“ munter fortgesetzt wird. Sie bauen noch keine Festungen und stellen keine Privatarmeen zum Schutz ihres Eigentums auf. Das sollte uns hoffnungsfroh stimmen.

Montag, 1. Oktober 2012

1. Oktober 1982

Heute vor dreißig Jahren hat Helmut Kohl mithilfe finsterer FDP-Komplizen die Macht ergriffen. Seine Karriere ist schnell erzählt: Mithilfe des faschistischen Unternehmers und Kriegsgewinnlers Fritz Ries geht es in der neugegründeten CDU des Wirtschaftswunderlandes rasch voran, schon seine Dissertation kann Kohl von einem Ghostwriter schreiben lassen. „Ein Plakat der SDAJ hatte behauptet, Ries habe über Helmut Kohl gesagt: ‚Auch wenn ich ihn nachts um drei anrufe, muss er springen.’ Nach Aussage von Ries’ Schwiegersohn Herbert Krall, der samt seiner Ehefrau, Ries’ Tochter Monika, bereit war, gegen Ries in den Zeugenstand zu treten, hatte Ries den CDU-Chef noch ganz anders bewertet: als 'Hauspolitiker' der eigenen Firma, als ‚Proleten, den man freilich nötig hat’.“ (wikipedia-Artikel über Ries). In den siebziger Jahren übernahm der Großindustrielle Friedrich Karl Flick die Leitung der "Aktion Kohl", mit dem die deutsche Wirtschaft einen ihrer Männer an der politischen Spitze installieren wollte. Der Rest ist bekannt, bis über seine Dienstzeit als Kanzler hinaus ließ sich Helmut Kohl von Industrie und Medienkonzernen willfährig schmieren und hat dabei sein Ehrenwort als Grußaugust des Kapitals über das Grundgesetz gestellt, auf das er so oft geschworen hat – so wahr ihm Gott helfe. Mit Kohl begann der Abstieg der Politik. Er hat viel Vertrauen in die politischen Institutionen dieser Republik verspielt, Typen wie Roland Koch, Christian Wulff oder Freiherr von Guttenberg haben uns den Rest gegeben. Erneuerung ist nicht in Sicht, Resignation und Neobiedermeier prägen die Gegenwart. Sollte es Gott wirklich geben, wird der Oggersheimer Scheinriese bis zum jüngsten Tag in der Hölle brennen. Die letzten Jahre im Diesseits geben ihm bereits einen Vorgeschmack: die Frau in den Selbstmord getrieben, den Kontakt zu den eigenen Kindern abgebrochen, in seinem Bonzenbunker isoliert und verbittert.

Donnerstag, 27. September 2012

Vier Jahre nach Lehman

Was ist 2008 passiert? Bis zur Lehman-Pleite dachte man, ein transparenter Markt sei per se rational. Börsenkurse, Immobilienpreise usw. entstehen durch Angebot und Nachfrage zwischen aufgeklärten, freien und vernünftigen Handelspartnern. Im ermittelten Preis steckt quasi die höhere Vernunft der Beteiligten. Seitdem die Märkte irrational geworden sind, ist diese neoklassische Lehre mit einem großen Fragezeichen belastet. Ich schätze, es wiegt fünfeinhalb Tonnen, ist aus grauem Beton und hört auf den Namen Keynes. Jetzt soll es Vati Staat wieder richten, der doch in seiner pekuniären Abhängigkeit von den Banken und anderen Großinvestoren längst selbst ein symbiotischer Bestandteil des Wirtschaftssystems geworden ist. Dabei können wir eine ganz andere Lehre aus dem Desaster der letzten Jahre ziehen: Der Mensch ist nicht das unabhängige und weltkluge Individuum, als das er sich selbst sieht und als das er sich in den Medien selbst darstellt. Nüchtern betrachtet ist er nur Teil eines Heringsschwarms aus hoffnungslos narzisstischen Maulhelden. In der Masse wagen wir uns hinaus ins Neue. Wenn Millionen zu Telekom-Aktionären werden, kann es doch nicht so schlimm sein, oder? Im warmen Kreis der Herde geht es aufs Börsenglatteis hinaus, geführt von erfahrenen Leitwölfen wie Manfred Krug. Können sich denn alle geirrt haben? Sie können. In Deutschland allemal. Und so hat man in den letzten zwanzig Jahren um der schönen Vierteljahresberichte und schnellen Profite willen ganze Generationen von Finanzmarktnovizen an der Kapitalfront verheizt. Der Schwarm ist nicht permanent rational, er ist nur permanent in Bewegung. Und seit uns 2008 die Gewissheiten ausgegangen sind, kreist der Schwarm richtungslos um sich selbst. Ein paar neue Telefonapparate, Limonadensorten oder Modekollektionen werden ihn auf Dauer nicht beruhigen können.

Montag, 24. September 2012

Was wir von Hosen lernen können

Als Levi Strauss Mitte des 19. Jahrhunderts aus seinem fränkischen Dorf nach Amerika auswanderte, war gerade Goldrausch in Kalifornien. Was machte er? Da er keine Ahnung vom Goldschürfen hatte, verkaufte er den Goldsuchern Pfannen und Töpfe, Hüte und stabile Hosen. Die Hosen hießen noch nicht Jeans, sondern Hüftoveralls – sie hatten die Bestellnummer 501, die Strauss auch bei der Patentanmeldung seiner nietenverstärkten Beinkleider verwendete. Mit den Levi’s-Jeans werden heute noch Milliarden verdient, während die Goldsucher längst tot und vergessen sind. Ihre namenlosen Gräber zerbröseln in den Geisterstädten des kalifornischen Goldrauschs, der später in Jack Londons Alaska seine Fortsetzung fand. Das ist der Unterschied zwischen Gier und Geschäftssinn. Strauss fragte sich: Wie werde ich Teil einer Gesellschaft, wie kann ich in einer neuen Umgebung überleben? Wie tue ich gleichzeitig etwas für mich und für andere? Ein bettelarmer und verachteter Dorfjude aus Buttenheim hat dem modernen Wirtschaftsleben eine wertvolle Lehre erteilt: Hilf dir selbst, indem du anderen hilfst. Wer nur nach Gold sucht, wird es nicht schaffen.

Samstag, 15. September 2012

Wir sehen uns im Mauerpark

Die Causa Mauerpark verdeutlicht wie in einem Brennglas, wie hohl und morsch die politischen Verhältnisse in dieser Gesellschaft geworden sind. Die Exekutive, im Falle Berlins also die Oberhäupter des Senats und der Bezirke, hat offensichtlich weder Interesse an der inhaltlichen Auseinandersetzung in einer konkreten Sachfrage noch an Kommunikation generell. Die Inszenierungen in der BVV Mitte und bei diversen Kleinst-Events für die Presse sind nichts anderes als die historisch konstant gebliebene Hochnäsigkeit der preußischen Obrigkeit, mit der sie nicht nur die stadtpolitisch engagierten Bürger, sondern auch gleich die Legislative, also deren gewählte Vertreter, gezielt demütigt. Der Vertrag mit der CA Immo ist nicht nur ein Dokument politischen Versagens in städtebaulicher, sondern vor allem in demokratischer Hinsicht. Er ist und bleibt in Hinterzimmern geschlossen, er ist und bleibt unakzeptabel für die Bevölkerung. Wie geht es weiter? In den nächsten zwei Jahren wird der Mauerpark südlich der Gleimstraße fertig gestellt. Das ist gut. Im Sommer 2014, wenn Fluchhafen-Wowis Betongeschwader die Baugenehmigung für das Gelände nördlich der Gleimstraße erteilt haben und die Axt an den ersten Baum gelegt wird, ist Zeit für das Endspiel. Mit etwas Glück für die DFB-Auswahl bei der Fußball-WM in Brasilien, mit Sicherheit für die echten Freunde des Mauerparks - und für seine Feinde.

Freitag, 7. September 2012

Leserzuschriften zur spätrumänischen Lyrik

Woher kommt denn Osmodeo? / Fragt Günter Sack aus Gütersloh / Am Stadtrand ist er aufgewachsen / In einem Ort in Niedersachsen
Wie hieß der Branntwein, Seher, sprich! / Was trank denn der Osmoderich? / Es war ein Whisky, edle Zecher / Grad’ jetzt steht er in meinem Becher
Hat er im Zweikampf Recht gebrochen? / Und übel aus dem Mund gerochen? / Hat er wie wir von Alters her / Mit seinen Eltern Schriftverkehr?
Kennt er die Sitten und Gebräuche? / Das Maß für Schuhe und für Schläuche? / Das fragt zu Recht aus Dortmund-West / Familie Schulz und Doktor Best
Und schließlich, das will jeder wissen / Osmodeo, du süßes Kissen / Wer bist du und was sagt dein Namen / "Ich bin der Zorn – Jetzt’ leck mich – Amen!"
In Borneo, vermutet weise, / ein Krimikenner still und leise / begann es krass / was folgt ist Hass / Er macht sich auf die Reise

Spätrumänische Lyrik unplugged

Denk’ ich nur an Osmodeo / Werd’ ich des Lebens nicht mehr froh / Heut’ Nacht holt er mich sowieso / Mein alter Feind aus Borneo
Gebor’n als Fürst von blauem Blut / Packt ihn schon früh der Übermut / Im Zweikampf teilt er voller Wut / Des Gegners Kopf mitsamt dem Hut
Nach einer Flucht von sieben Tagen / Hör ich das Volk beim Bäcker sagen / Betritt er einen Branntweinladen / Es folgt ein Rausch nebst Leberschaden
Der Untergang ist nicht mehr weit / Für mich und meine Sonnenmaid / Osmodeo, gib mir Geleit / Durch Raum und Zeit und Ewigkeit

Montag, 27. August 2012

Mit den Clowns kamen die Tränen

Der 23. August hat vor allem eines gezeigt: Der Dialog zwischen der Bevölkerung und ihrer politischen Vertretung im Bezirk Mitte und im Senat ist gescheitert. Als die BVV an jenem Tag zur öffentlichen Debatte und zur Abstimmung über die Zukunft des Mauerparks einlud, ging es schon lange nicht mehr um Argumente. Zornige Gegner der Parkbebauung hatten Drohbriefe geschrieben, auf die man seitens der sogenannten Volksvertreter mit Angst und Repression reagierte. Der Sitzungssaal wurde auf Sprengstoff untersucht und ein hyperventilierender BVV-Vorsitzender forderte ein massives Polizeiaufgebot an. Es zeigt sich einmal mehr, dass die eiskalte Strategie der Herren Gaebler, Hanke und Spallek nicht aufgeht. Sie haben einseitig den Dialog mit den Bürgerinitiativen, den Anwohnern und selbst mit der von Bezirksseite installierten Bürgerwerkstatt aufgekündigt, um mit putinscher Härte ihre eigenen Interessen und die Verwertungsinteressen eines österreichischen Immobilienspekulanten durchzusetzen. Damit haben diese Männer den Raum für eine gütliche Verständigung mit dem Bürger verlassen. Der alte SPD-Stratege Herbert Wehner hat einmal gesagt: Wer raus geht, muss auch wieder rein kommen. Wenn die Betonfraktion um Gaebler, Hanke und Spallek wieder ins Gespräch mit dem Bürger kommen möchte, sollten sie lernen, sich für die Argumente ihrer Wähler und Steuerzahler zu öffnen. Diese drittklassige Politfarce letzte Woche hat der Mauerpark nicht verdient. Wenn es bei der nächsten BVV-Sitzung wieder so laufen sollte wie bisher, dann haben die Politiker auch den letzten Rest von Respekt verspielt. Und das bedeutet in letzter Konsequenz, dass viele Bürger die Entscheidungen nicht respektieren werden, die in Sachen Mauerpark getroffen werden. Respekt ist keine Einbahnstraße – und Bürgerbeteiligung ist kein Marketingspielzeug für Berliner Politclowns.

Donnerstag, 23. August 2012

Zum Ende der Hundstage

Las Vegas 1993: Tagsüber ist die Stadt staubig und heiß, ohne Farbe, ohne Trost. Nachts träumen wir von einem besseren Leben und erwachen völlig verschwitzt am nächsten Morgen. Berlin im Sommer 2012 ist genauso. Neulich sogar mal wieder der alte Schriftstellertraum: Ich will einen Gedanken aufschreiben, finde aber weder Stift noch Papier. Während ich versuche, die Formulierungen im Gedächtnis zu behalten, suche ich immer ungeduldiger nach einer Möglichkeit der Niederschrift. Dann, als ich endlich zum Schreiben komme, wache ich auf und kann mich an den Text nicht mehr erinnern.

Frankfurt II

Scheiß Globalisierung! In Frankfurt heißt das Spießbratenbrötchen plötzlich nicht mehr Spießbratenbrötchen, sondern Krustenbratenbrötchen. Es ist aber nach wie vor der gleiche Schweinebraten und man wird gefragt, ob man es mit eingelegten Zwiebeln haben möchte oder ohne. Selbst auf meine ausdrückliche Bestellung eines Spießbratenbrötchens gab es keine Diskussion, sondern ein sogenanntes Krustenbratenbrötchen, dass sich geschmacklich und preislich nicht von den früheren Brötchen unterscheiden ließ. Damit hat man eine Spezialität des Rhein-Main-Gebiets (obwohl der Spießbraten ursprünglich in Idar-Oberstein in der Pfalz erfunden wurde, aber das ist eine andere Geschichte) zu einem Mainstream-Produkt herabgewürdigt. Dabei wurde es nicht einmal verenglischt oder eingedeutscht, nein: es wurde eingebayert. Als ob bayrische Küche und Kultur typisch für das ganze Land wären – quasi auf niedrigstem Niveau findet man eine gemeinsame Basis. Laufen jetzt die Frauen im Dirndl durch Sachsenhausen und auf der Kaiserstraße prahlen die Kerle mit ihren riesigen Gamsbärten? Ja, Kruzifix nochamaoi, Herrschaftzeiten, sind des Zuständ, ja mei!

Mordor und Mappus - Mops und Moneten

Wie soeben gemeldet wird, hat Mappus die Festplatte seines Arbeitscomputers im Amtssitz des BaWü-MiPrä zerstören lassen. Es heißt, man hätte den Datenspeicher im Höllenschlund des Schicksalsbergs von Mordor, im Herzen von Saurons Reich, entsorgt.

Die Kri-hise

Ich hätte gerne ein neues Problem. Irgendwas anderes, etwas frisches, das meine Aufmerksamkeit kitzelt. Vielleicht nicht so exotisch wie eine UFO-Landung in Weißensee, aber auch nicht so banal wie Schweinegrippe. Ich kann diese Euro-Scheiße nicht mehr hören. Krise hier, Krise da. Am liebsten würde ich vorspulen und gucken, wie es ausgeht. Was nach dieser Krise kommt, ist garantiert die nächste Krise. Und die ist noch größer als die aktuelle. Es kann nicht die zweitschwerste Krise aller Zeiten vor uns liegen, das entspricht nicht der Dramaturgie. In einem „guten“ Hollywoodfilm ist die letzte Explosion immer die größte, die vorletzte die zweitgrößte usw. Wir steigern uns von Tiefpunkt zu Tiefpunkt. Rudi Völler hat es 2003 in seinem legendären Interview mit „Drei-Weizen-Waldi“ Hartmann ja bereits visionär beschrieben: „Die Geschichte mit dem Tiefpunkt, und nochmal ein Tiefpunkt. Da gibt's nochmal einen niedrigen Tiefpunkt. (…) Aber ich kann diesen Käse nicht mehr hören nach jedem Spiel, in dem wir kein Tor geschossen haben, dann ist noch eine tieferer Tiefpunkt.“

Samstag, 18. August 2012

Franken

Abend auf dem Dorf. Ich gehe aus dem Gasthaus hinaus und durch die leeren stillen Gassen. Die sinnlose Virilität kleiner Jungen, die mit ihren Fahrrädern um die Ecke geschossen kommen und rätselhaften Zielen entgegen eilen, die sie vermutlich selbst nicht kennen. Um die Kirche herum die geduckten, vom Efeu sanft beherrschten Häuser aus Sandstein, jeder gehauene Steinblock ist ein Solitär. Aus den Gebäuden treten gelegentlich stumme Menschen, die mich mit einem Winken grüßen, obwohl sie mich nicht kennen. Ich grüße zurück und tauche in den Frieden dieses Dorfes ein, während die Sonne langsam hinter den Wiesen am Horizont versinkt.
Berufsbezeichnung auf meiner nächsten Visitenkarte: Universalexperte.
Der grün-weiß geringelte Mensch am Stammtisch: „Ich bin zwei Polo-Hemden.“
Man muss in fränkischen Gasthäusern gar kein Entertainment in Form von Radio, Fernsehen usw. anbieten. Hier kommt man zum Trinken her. Da sitzt ein Greis mit einer Zeitung, wir sind an diesem Vormittag die einzigen Gäste und bekommen von ihm unsere geregelte Bierinfusion. Aus der Küche hören wir die Würste in der Pfanne prasseln, der Geruch guter Butter dringt in den Gastraum. Es ist die Tochter, die uns das Essen zubereitet, der Sohn ist Metzger. Nicht nur das Bier, auch Brot und Wurst macht die Familie selbst. Dorfkinder kommen in Gruppen herein gerannt und kaufen Eis am Stiel. Die großen Weltthemen bleiben unangesprochen, kleine Themen wie Durst oder Wetter wandern ins Zentrum der Erörterungen.
„Genusswandern“ nennen es die Marketingstrategen, wenn man von Dorf zu Dorf unterwegs ist, um die vielen lokalen Bier- und Wurstspezialitäten zu verkosten. Konkret sieht das so aus: Um Punkt neun Uhr, nach einem ausgiebigen Frühstück, wartet der Kollege N. bereits vor dem Brauereigasthof in Aufseß. Er ist mit seinen Hochgebirgswanderstiefeln, dem Nordic Walking-Besteck, sowie einer hochpreisigen Wanderhose nebst Multifunktionsweste ausgerüstet, als ginge es auf den Nanga Parbat. Was in seinem Rucksack ist, bleibt sein ewiges Geheimnis. Dann marschieren wir tapfer und ohne auf halber Strecke biwakieren zu müssen die eineinhalb Kilometer zu Kathi-Bräu. In knapp dreißig Minuten überwinden wir – der Kollege hat selbstverständlich einen Höhenmesser dabei – etwa sechzig Höhenmeter. Aber nicht nur der Kampf mit der Steigung, sondern auch das Ringen mit der unmenschlichen Einsamkeit auf unserer Expedition erfordert höchste Konzentration und den bedingungslosen Einsatz aller Kräfte. Dafür belohnen wir uns nach der Zielankunft mit drei großen Bieren und einer Brotzeit. So etwas nenne ich: Sporturlaub in Franken.

Dienstag, 14. August 2012

Frankfurt

Die Bankzentralen in Frankfurt zeigen uns, wo der Zaster liegt. Wie Geldfontänen, die zu Glas geronnen sind, wirken diese riesigen Türme. Hier ist das Öl der Finanzmärkte nach oben geschossen, hier stehen die Fördertürme des Kapitalismus. Dagegen wirken die Anlagen auf den Ölfeldern in Texas oder Saudi-Arabien wie Spielzeug aus dem vergangenen Jahrhundert.

Montag, 30. Juli 2012

Berlin, französischer Sektor

Jean-Marc ist ein Arbeitskollege und kommt aus Frankreich. Wenn ich mit ihm Auto fahre, das heißt, wenn ich auf dem Beifahrersitz Zeuge der elementaren Wucht seiner begnadeten Fahrkünste werde, dann begebe ich mich in eine andere Welt, in der eigene physikalische Regeln herrschen. Ich sehe beispielsweise einen Lkw frontal auf uns zu rasen, während Jean-Marc seelenruhig den Inhalt eines neuen Kinofilms referiert und eben jenen 80-Tonner im letzten Moment schneidet und knapp vor ihm nach links in eine Straße einbiegt. Ich schwöre, dass in diesem Augenblick, da wir auf zwei Rädern des greisen Renaults im Nanometerbereich am Kühler des Lastwagens vorbei in die Seitenstraße segelten, der Tod persönlich neben mir geritten ist. Ich sah ihn im Seitenfenster hysterisch lachen und die Sense schwingen. Machen andere Fahrer solche Aktionen mit ihm, verwandelt sich Jean-Marc in einen Louis de Funès des Straßenverkehrs und schimpft wie ein Rohrspatz. So hat er in Nizza Autofahren gelernt. Und der Witz ist: Die ganze Zeit laufen klassische Violinkonzerte vom Tonband, als wäre man im Fahrstuhl von Versailles gelandet. Trotzdem weiß ich, dass ich immer ankommen werde.

Freitag, 27. Juli 2012

Olympische Spiele 2012

Sport ist ein wesentlicher Teil meines Lebens. Fußball, Formel 1. Früher auch andere Sachen, aber ich schaff das alles gar nicht mehr. Ich mache viel Sport. Samstags Sportschau, gelegentlich auch das aktuelle Sportstudio. Sonntags oft schon morgens den Frühschoppen auf Sport1. Da kommen einige Stunden zusammen. Und das bei jedem Wetter. Egal, ob es draußen stürmt oder schneit, ich bleibe dem Sport treu. Da könnten sich viele jüngere Menschen ein Beispiel nehmen. Wenn man Jahrzehnte dabei ist, dann ist einem der Fußball oder der Motorsport so ans Herz gewachsen, dass man sich ein Leben ohne den Sport gar nicht mehr vorstellen kann. Natürlich kenne ich die Einwände. Ich werde nicht jünger, das Spiel wird immer schneller. Dazu die Verletzungsgefahr auf dem Weg zum Kühlschrank. Man leidet doch sehr mit und im Alter regeneriert man sich nicht mehr so schnell wie früher. Das Herz, die Leber … - dazu die psychische Belastung. Ich sage nur: Enke. Der Druck ist natürlich inzwischen enorm. Auch weil es um viel Geld geht. Verdammte Sportwetten! Aber ich bin nun mal ein echter Fan. Ich brauche den Sport. Olympia? Nee, bin doch mitten in der Saisonvorbereitung für die Bundesliga …

Samstag, 14. Juli 2012

Beschleunigung und Politik

Gegen den hektischen Dilletantismus unserer Tage hat das Bundesverfassungsgericht einen wohltuenden Kontrapunkt gesetzt. Es möchte sich dem aggressiven Druck der Finanzmärkte und deren politischen Zauberlehrlingen entziehen und bedingt sich mehr Zeit zum Nachdenken aus. Während im Bundestag im Schweinsgalopp Gesetze verabschiedet werden, die einander an Absurdität noch übertreffen wollen, möchten die Richter sich mit der gebotenen Sorgfalt den Verträgen zur europäischen Schuldenunion und ihren Konsequenzen widmen. Im Parlament und in der deutschen Politik generell zeigt sich ein Politikversagen, das tiefer reicht, als es im ersten Moment erscheinen mag. Wie die Blockflöten haben die etablierten Westparteien das Ermächtigungsgesetz für Brüssel abgenickt, die Debatte war eine drittklassige und pseudodemokratische Farce und die einzige Partei, die gegen das Gesetz gestimmt hat, wird von unserem heißgeliebten Verfassungsschutz observiert. Die Verfassungsrichter haben sich für Entschleunigung entschieden, um eine elementare Entscheidung über unsere Zukunft treffen zu können. Ich hoffe, sie tun das richtige. Unsere politische Elite tut es jedenfalls schon lange nicht mehr.

Montag, 9. Juli 2012

Der analoge Flaneur

Der analoge Flaneur findet sich vorzugsweise in den großen Städten. Auf dem Land gibt es sein Pendant, den analogen Wanderer. Der analoge Flaneur spaziert gemächlich durch die Straßen und Parks, er sieht den Menschen zu und betrachtet die Gebäude, er hört Gespräche und Gezwitscher, er spürt die Sonne im Gesicht und lässt dabei seine Gedanken von der Leine. Er ist vollkommen unverkabelt, während er draußen in der Welt unterwegs ist. Er hat keinen Stöpsel im Ohr, um Radio oder Musik zu hören. Er hat kein Smartphone, keinen Tablet-Computer und kein elektronisches Buch dabei. Der analoge Flaneur ist entkoppelt von der modernen Technik. Alles, was ihn mit der Welt noch verbindet, sind seine Schuhsohlen. Er ist vollständig der Realität und seinen Träumen ausgeliefert, nichts lenkt ihn ab von der absichtslosen Bewegung im Hier und Jetzt. In zwanzig Jahren wird eine Figur wie der analoge Flaneur unvorstellbar geworden sein.

Samstag, 7. Juli 2012

Todesstreifen Reloaded

Die Berliner Mauer war von 1961 bis 1989 das Symbol der Teilung, der Inbegriff des Schismas dieser Welt in Kommunismus und Kapitalismus. Seither ist der Mauerpark das Symbol der Überwindung dieser Teilung. Bunter kann man sich die Einheit Deutschlands und der Welt kaum vorstellen. Seit 2012 ist der Mauerpark allerdings wieder zu einem Symbol der Teilung geworden: zwischen Politikern und Bürgern ist eine Mauer des Schweigens entstanden, ein Todesstreifen aus hochnäsiger Volksverachtung und Größenwahn, ein Minenfeld gebrochener Versprechen und taktischer Lügen, patroulliert von den schweigsamen Schergen des Systems. Politiker wie Beton-Spallek, die mit Baulöwen und Bankern in Hinterzimmern einsame Entscheidungen treffen und das Licht der Öffentlichkeit scheuen (sein Parteigenosse Mappus mag ihm als Vorbild gedient haben), sind eine Gefahr für die Demokratie. Aber die Bürger in Pankow und Mitte lassen sich weder entmündigen noch entmutigen. Wer im Mauerpark auf die harte Macho-Tour Fakten schaffen will wie der Baustadtrat und der Bürgermeister von Mitte, wird es auf die harte Tour lernen müssen: Politik funktioniert in einer Demokratie nur mit dem Bürger, nicht gegen ihn.

Dienstag, 3. Juli 2012

Bernd

Sein Schnarchen schwillt an und ab wie eine pervers gewordene Meeresbrandung. Es begleitet uns den ganzen Abend, während wir vor dem Fernseher sitzen. Aber am schlimmsten ist es, wenn sein Schnarchen für ein paar Augenblicke aussetzt. Wir schauen uns an und wenn es länger dauert, beginnen wir, uns Sorgen zu machen. Wir haben schon lange nichts mehr gehört. Soll jemand ins Nachbarzimmer gehen und nachschauen? Den Notarzt rufen? Oder gleich den Abdecker?! Aber dann werden wir Ohrenzeuge eines gewaltigen Röchelns, eines Grindwals würdig, der aus dem Ozean steigt, ein Schnorchellaut, der dem Kreidezeitalter zur Ehre gereicht hätte, Assoziationen von Flusspferden und Panzernashörnern wabern durchs ständig vor sich hindenkende Bewusstsein, und alsbald ist er nach einhelliger Meinung wieder unter den Lebenden. Und so versinken wir mit dem ewigen Rauschen eines besinnungslosen Trinkers wieder in den Anblick des elektronischen Lagerfeuers.

Sonntag, 1. Juli 2012

Wahnsinn en gros et en detail

Manchmal fällt es schwer, zu glauben, was gerade geschieht. An einem großen und einem kleinen Punkt, an einer globalen und einer lokalen Frage kristallisiert sich in diesen Tagen der Wahnsinn deutscher Politik.
ESM: Obwohl man noch im Morgengrauen wesentliche Teile dieses Vertragswerks in mündlichen Verhandlungen verändert hat und selbst diese Veränderungen in den folgenden Interviews auf haarsträubende Weise in alle Richtungen interpretiert werden, wird es vom Bundestag und Bundesrat mit überwältigender Mehrheit abgesegnet. Jeder Gebrauchtwagen- oder Teppichhandel wird sorgfältiger abgewickelt, als dieses Programm, mit dem der Steuerzahler bis in alle Ewigkeit blechen darf und nun auch der Sparstrumpf und die Altersvorsorge dem Zugriff eines elitären Zirkels in Brüssel überlassen werden. Die Folgen dieser fatalen Fehlentscheidung erkennen wir an den Reaktionen der Beteiligten. Es freuen sich Banken und Hedge-Fonds von der Wall Street bis nach Tokio, denn ihnen bleibt nun genügend Zeit, ihre fehlgeschlagenen Investitionen im Süden Europas den Steuerzahlern der ESM-Geberländer zu übertragen; es freuen sich die deutschen Exportunternehmen, denn die Menschen im Süden können weiter den subventionierten Schrott kaufen, den sie schon vorher nicht brauchten; es freuen sich die Regierungen der Mittelmeerstaaten, denn sie müssen nun keine Reformen mehr vornehmen, die ihre Wiederwahl gefährden würden. Wer freut sich nicht? Der nordeuropäische Steuerzahler und die Bürger in den südlichen Ländern, bei denen von dieser ganzen Rettungsarie für Banken und Fonds nicht ein lausiger Cent ankommen wird (der sogenannte „Wachstumspakt“ ist schlecht gemachte Volksverarschung, mehr ist dazu nicht zu sagen).
Mauerpark: Hier kann man mit dem Begriff „Volksverarschung“ nahtlos weiterarbeiten. Was in den letzten Wochen an unseriösen und übereilten Aktionen seitens der SPD veranstaltet wurde, spottet jeglicher Beschreibung. Hier steigt man vom Reich der Teppich- und Gebrauchtwagenhändler hinab in die düsteren Gefilde der Hütchenspieler. Da wird mit einem hochsymbolischen Ort der deutschen Teilung und der gelebten Einheit der Menschen in Deutschland und in aller Welt (auch wenn’s am Sonntag manchmal nervt …) umgesprungen, als würde es sich um einen Acker am Ortsrand von Königs Wusterhausen handeln, auf dem ein Neubaugebiet entstehen soll. Politiker wie Gothe oder Gaebler von der SPD, die ohnehin in Sachen Stadtentwicklung überfordert scheint (Flughafendesaster usw.), handeln nicht nur grob fahrlässig, sondern schaden dem Land Berlin und damit uns allen mit ihrem Dilettantismus. Inzwischen hat ja glücklicherweise auch der allerletzte Teilnehmer jener ominösen „Bürgerwerkstatt Mauerpark Fertigstellen“ begriffen, dass er schamlos ausgenutzt, belogen und betrogen wurde – selbst altgediente SPD-Mitglieder … Wieder die Frage: Wen freut diese Entwicklung? Die CA Immo als Grundstückseigentümer macht ein Riesengeschäft, die hiesige Baumafia und ihre Seilschaften in der SPD profitieren von dem Coup. Wer ist der Dumme? Parknutzer und Anwohner, denen mit der Riesenbaustelle ein schönes Spektakel bevorsteht. Ich sag Euch, wie es ausgeht: Der Mauerpark wird im Norden zubetoniert, der Rest so lange reglementiert und kommerzialisiert, bis den Leuten das kalte Kotzen kommt, und neue Grünflächen gibt es nicht, weil die Stadt kein Geld hat – das Geld haben nämlich die Banken in New York, London, Frankfurt, Madrid, Rom und und und. Sollen wir uns das alles wirklich gefallen lassen?

Mittwoch, 27. Juni 2012

Frischer Unsinn

„Wir haben keine Zeit für Erklärungen! Wir haben ganz grundsätzlich keine Zeit!“ (Paragraph 1 einer neuen Bewegung)
Manche Menschen sind wie Mörtel, der die Steine zusammen hält. Manche Menschen sind wie Schimmel, der die Wände zersetzt.
A: Wieso steht dort „Sie starb glücklich“? B: Warum sollte man ausgerechnet bei einem Grabstein ehrlich sein?
Man sollte die Menschen des Mittelalters nicht geringschätzen, nur weil sie nicht unsere Bildung besaßen. Sie wussten – im Gegensatz zu uns – noch sehr genau, wofür sie lebten und wofür sie starben.

Dienstag, 26. Juni 2012

Eine teuflische Begegnung

Neulich habe ich den Teufel getroffen. Er sah gar nicht gut aus. Es war schon später Abend, als ich ihn auf einer Parkbank in meinem Viertel getroffen habe. Der Volkspark hatte sich längst geleert, das Kinderlachen war verstummt und ein hartnäckiger Nieselregen kitzelte mich im Gesicht. Als ich gerade an ihm vorüber ging, blickte er zu mir auf. Ein trauriger Blick traf mich. Offenbar war er ein Obdachloser, der sich in die Einsamkeit zwischen den hell erleuchteten Häusern zurück gezogen hatte.
„Abend“, sagte ich automatisch.
„Abend“, murmelte er zurück und sah mich weiter an.
Seine Augen schienen in der Dämmerung zu glühen. Ich blieb stehen. Das war sicher ein Fehler, weil man sich in der großen Stadt nie um fremde Menschen kümmern darf. Aber ich konnte nicht anders.
„Alles klar?“ fragte ich unbeholfen.
„Nein“, antwortete er. "Es geht mir schlecht.“
Ich hielt ihm wortlos meine Flasche hin, aber er schüttelte nur den Kopf. Das war es also nicht.
„Darf ich mich einen Augenblick zu Ihnen setzen?“ fragte ich übertrieben höflich.
„Ja, das ist nett. Es reden so wenige Menschen mit mir.“
Ich setzte mich und betrachtete den Mann zum ersten Mal aus der Nähe. Er hatte eine ungesunde rote Gesichtsfarbe, die auf Bluthochdruck schließen ließ, und pechschwarzes Haar, das trotz des schwachen Lichts wie frischer Asphalt glänzte. Er trug einen löchrigen Lodenmantel und abgewetzte Lederstiefel.
„Warum sind Sie denn allein?“ fragte ich naiv und lehnte mich ein wenig zurück.
„Die Menschen hören mir einfach nicht mehr zu. Früher war es meine Aufgabe, Menschen zu verführen. Ich war ein großer Künstler der Verführung. Klugen Menschen habe ich meinen Willen aufgezwungen, selbst dem großen Doktor Faust …“
„Die Romanfigur?“ Offensichtlich war der Mann nicht ganz bei Trost.
„Nein, den echten Faust. Ich bin der Teufel.“
„Sie? Der Teufel?“ Verblüfft schüttelte ich den Kopf.
Er lächelte und sprach weiter: „Früher haben die Menschen auf mich gehört, wenn ich Ihnen Reichtümer versprochen habe. Sie haben mir ihre Seele verkauft, ich konnte mit ihnen spielen. Und jetzt? Bin ich arbeitslos.“
„Aber warum denn?“ Ich glaubte dem Mann kein Wort, war aber doch zu neugierig, um zu gehen.
„Die Menschen brauchen den Teufel nicht mehr, um schlecht zu sein“ fuhr er fort. „Warum soll ich noch jemanden zum Diebstahl verführen, wenn die Banker legal Millionen stehlen? Wie soll ich einem Politiker Macht verschaffen, der seine Seele längst an jemand anderen verkauft hat? Welche Motivation brauchen die Generäle und anderen Massenmörder noch, die sie selbst nicht längst schon hätten?“
Der Mann hatte recht. Schlechte Zeiten für den Teufel.

Mittwoch, 20. Juni 2012

Ein Lehrstück in Sachen Globalisierung

Vor ein paar Tagen rief ein Herr X aus Madrid an und fragte, ob ich für eine Kette von namhaften deutschen Autohäusern als Texter arbeiten wolle. Ich war natürlich sehr überrascht, woher ein spanischer Autohändler den Kiezschreiber aus Berlin kennt. Er sagte, er habe mein Blog gelesen. Ich solle bitte eine europaweite Kette von Händlern mit Contents für ihre Seiten beliefern und ihre Auftritte in den Social Medias pflegen. Konzeptpapiere und Kostenvoranschläge wurden hin und her geschickt … - und dann stellte sich bei einem weiteren Telefonat heraus, das er einen Auto-Journalisten im Karrierenetzwerk Xing gesucht und mich mit jemand anderem verwechselt hatte. Ich habe ja noch nicht mal ein Auto und bin erklärter Gegner jeglicher Beschleunigungstechnologie (außer Rotwein). Statt mit dem von mir vorgeschlagenen Kollegen in Berlin sollte ich mit einer peruanischen Programmiererin zusammenarbeiten, der man 300 Dollar im Monat für einen Vollzeitjob angeboten hat. Das ist Globalisierung live, meine Damen und Herren …
Hier mein Brief an Herrn X aus Madrid:
Lieber Herr X,
Ihnen dürfte es bei unserem gestrigen Telefonat aufgefallen sein, mir ist es nach einer kurzen Recherche klar geworden: Sie haben auf Xing nach einem Auto-Journalisten gesucht und einen "Mathias Ebeling" gefunden, der genau das anbietet, was sie suchen. Dann haben Sie offenbar bei Google einen Eingabefehler gemacht und sind bei "Matthias Eberling", einem Lokaljournalisten und Schriftsteller in Berlin, gelandet. Daher wird es nun Zeit, diese kleine und amüsante Verwechslung, die mich an einen meiner Lieblingsfilme - "The Big Lebowski" - erinnert, zu beenden. Seien Sie versichert, dass ich alle mir anvertrauten Interna diskret entsorgen werde.
Eine Sache fand ich allerdings weniger amüsant: Sie lassen eine Frau in Peru für 1,50 Euro die Stunde programmieren und wollten "meinen" Webdesigner in Berlin ausbooten, weil er zu teuer ist. Das die Menschen im globalen Maßstab so gnadenlos gegeneinander ausgespielt werden, ist eines Unternehmens wie Y unwürdig. Und natürlich wird in meinem Team niemand gegen den anderen ausgespielt. Auch Freibeuter haben ihre Prinzipien ...
Leben Sie wohl, mein kleiner Machiavelli ;o)
Dr. Matthias Eberling

Freitag, 25. Mai 2012

Warum wir Jedi-Ritter brauchen

In den achtziger Jahren, als junger Mensch, habe ich von meinem eigenen Todesstern geträumt. So wie in Star Wars. Gut, eine solche Raumstation ist, betrachtet man die Dinge zunächst einmal ganz nüchtern und praktisch, in der Anschaffung extrem teuer. Aber vielleicht gibt es Leasingmodelle oder einen interstellaren Gebrauchttodessternmarkt, von dem wir im Augenblick noch nichts wissen? Die Besatzung der Station könnte Honorarverträge mit Gewinnbeteiligung bekommen. Sobald der erste bewohnte Planet erfolgreich erpresst wurde, funktioniert das Geschäftsmodell und nach einer Weile sind nicht nur die Leasingraten und Personalkosten kein Problem mehr, sondern die Gewinne sprudeln. Im Film gewinnen die Rebellen, im Waren-Leben das Imperium. Heute sind ganze Länder in Geiselhaft der global operierenden Finanzwirtschaft. Im Augenblick richtet sich der Todesstrahl auf Griechenland. Es steht nicht gut um das etwas zerfleddert aussehende Land rechts unten auf der Europakarte, denn eine Mehrheit der Bevölkerung will sich nicht erpressen lassen. Gegen Darth Vader sind die Geldeintreiber von der Russenmafia echt Kindergeburtstag.

Donnerstag, 24. Mai 2012

Willy-Brandschutz-Flughafen

Heute wäre die Eröffnungsparty von Berlins neuestem Pharaonenprojekt gewesen. Zehntausende Gäste wurden erwartet, Live-Übertragungen in alle Welt waren geplant. Nun hat man die Feier kurzfristig verschoben – auf März 2013. Das hat, nimmt man die Reaktion der Medien als Maßstab, doch einige Leute erstaunt und den Verantwortlichen viel Spott eingetragen. In Berlin hat es aber eigentlich niemand richtig gewundert und auch Klaus Wowereit, der dauergelassene Gemütsmensch aus Lichtenrade, hat es recht locker genommen. Wozu auch die Aufregung? Ganz Deutschland reagiert mal wieder typisch deutsch: Termin verpasst, nicht artig gewesen, böse Hauptstadt. Dabei ist Berlin längst viel weiter als Deutschland. Wir sind eine deutsche Stadt, die mental ans Mittelmeer gebaut wurde. Und das heißt: Morgen ist auch noch ein Tag. Keine Aufregung, auch mal fünfe grade sein lassen. Das ist wahre Coolness. Im Angesicht der kleinsten Störung in Hysterie, Panik und Schnappatmung zu verfallen ist hingegen extrem uncool und leider sehr teutonisch. Dann wird der neue Flughafen eben erst nächstes oder übernächstes Jahr fertig. Na und? Wir haben mit Tegel und Schönefeld zwei funktionierende Flughäfen und mit Tempelhof noch einen in petto. Und das Argument „Was das wieder kostet“ zählt in Berlin nicht. Wir sind sowieso seit langem pleite und jeder weiß, dass Berlin seine Schulden so wenig begleichen kann wie unsere Freunde im Geiste an der Mittelmeerküste. Also was soll’s? Irgendein Bürgermeister wird irgendwann einmal durch den Feuerreifen springen müssen und die Stadt bankrott erklären. Durch dieses Purgatorium müssen wir eines schönen Tages hindurch. Bis dahin planen wir die nächste rauschende Ballnacht an unseren phantastischen Infrastrukturprojekten. Vielleicht demnächst bei der Wiedereröffnung des ICC nach der praktisch kostenlosen Renovierung, beim Richtfest des dringend benötigten Stadtschlosses, der Freigabe eines neuen innerstädtischen Autobahnabschnitts oder den Bauvorhaben am Hauptbahnhof und im Mauerpark …

Kurzgedanken

Dem Alten gegenüber empfindet der Berliner eine gewisse bäuerliche Zufriedenheit, wirklich stolz ist er nur auf das Neue.
ADHS, das Kokain des kleinen Mannes.
Wenn der Körper dein Haus ist, dann sind Essen und Trinken Tempeldienst.
A: Diese Frau führt ein Doppelleben. B: Mindestens!
Zwitschern die Vöglein am Morgen oder twittern sie schon?
„Auch die soziale Isolierung in Künstlerberufen, in denen der Kunstschaffende auf sich allein gestellt ist und kaum besondere technische Fähigkeiten braucht (Schriftsteller) zählt zu den Faktoren, die das Suizidrisiko erhöhen.“ In: Thomas Lochthowe : „Suizide und Suizidversuche bei verschiedenen Berufsgruppen“. Inaugural–Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Medizinischen Fakultät der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

Dienstag, 15. Mai 2012

Der Wedding ist die Zukunft II

Identität und Identitätsbildung, ob individuell oder sozial, haben längst ihre unhinterfragte Selbstverständlichkeit verloren. „Selbstverständnis“ stellt sich nicht mehr intuitiv bzw. über Traditionen her, es muss bewusst und aktiv vom Individuum bzw. einer Gruppe geschaffen werden. Früher war Identität auf natürliche räumliche Grenzen bezogen, die über Generationen stabil blieben (der Hof, das Dorf, das Tal usw.), heute stellen sich viele Menschen die Frage: Wo sind meine Wurzeln, wie entstehen sie und wie bewahrt man sie?
Offensichtlich fühlen sich Menschen dort wohl, wo sie ihre Heimat haben. Der räumliche Bezug ist ein Teil ihrer persönlichen Identität. Menschen sind an Territorien gebunden, die Privatsphäre im Kleinen (inklusive der „Raumblase“ als mobiles Minimalterritorium des Großstadtmenschen), die Heimat im Großen (bis hin zu kollektiven Konstrukten wie dem „Vaterland“). Auch im modernen Leben finden sich überall Zeichen von identitätsbildendem Lokalpatriotismus: von Sidos Berliner Ghetto-Hymne „Mein Kiez, mein Block“ bis zur bajuwarischen Trachtentanzgruppe.
Eine entscheidende Frage für die Bürgerstiftung Wedding ist darum: Wie entsteht und wie bewahrt man diese lokale Identität, diesen Bezugsrahmen des alltäglichen Lebens in Zeiten hoher Mobilität, kultureller Differenzierung und globaler Vernetzung? Welche Chancen haben die Menschen im Wedding, um eine Identität bilden zu können, die ihnen Selbstbewusstsein und Stolz auf ihren Kiez vermittelt? Identität in diesem Sinne verstanden wird zur Basis für Respekt, für den Umgang miteinander und die Anerkennung von außen.
Im Augenblick ist dieses Selbstbewusstsein erst in Ansätzen vorhanden. Womöglich hängt es mit der sozialen Situation im Wedding zusammen. Aber warum machen wir aus unterschiedlichen materiellen Ausstattungsmerkmalen von Personen und Haushalten eigentlich soziale Unterschiede bis hin zur Ausgrenzung („Ghetto“)? Armut bedeutet letztlich, nur über knappe Ressourcen verfügen zu können. Das bedeutet wiederum, permanent Entscheidungen über Prioritäten treffen zu müssen. Erst die Knappheit der Mittel führt dazu, die Konsequenzen seiner Entscheidung rational abzuwägen. Wer alle Möglichkeiten besitzt, z.B. Geld im Überfluss, muss nicht die Konsequenzen seines Handelns fürchten. In diesem Sinne macht Armut klug. Armut, zu Ende gedacht, bedeutet auch, sich von überflüssigen Bedürfnissen zu verabschieden. Wer nur die Mittel für das Nötigste hat, der verabschiedet sich aus dem mitternächtlichen Wettkampf um das neueste Smartphone. Vielleicht verlieren auf diese Weise auch die Verlockungen der Konsumwelt sukzessive an Strahlkraft? Und vielleicht führt die Identitätsbildung im Wedding dazu, die eigene kulturelle Vielfalt als neuen Reichtum zu entdecken?

Samstag, 12. Mai 2012

Der Kalender der Tiere

Jaguar
Zebruar
Nerz
Mandrill
Hai
Huhni
Muli
Taubust
und dann kommen die vier Bären (Septembär, Oktobär, Novembär, Dezembär)

Sonntag, 22. April 2012

Der Wedding ist die Zukunft

Not macht erfinderisch, sagte schon mein Großvater, als er, zum Entsetzen meiner Großmutter und zu meinem stillen Entzücken, den Suppenteller an der Unterlippe ansetzte und den Rest ausschlürfte. Modern formuliert: Armut macht kreativ. Mit viel Geld lässt es sich einfach und bequem leben. Aber mit wenig Geld ein gutes Leben zu führen, das ist eine Herausforderung, der man sich täglich stellen muss. So betrachtet sprüht der Wedding nur so vor Ideen, seine vibrierende Lebendigkeit unterscheidet das Viertel vorteilhaft vom saturierten Prenzlauer Berg, von dem sich die Kreativen gerade verabschieden – von den arrivierten oder älteren Exemplaren einmal abgesehen. Die Armut (und die damit verbundenen Freiräume, günstigen Mieten, niedrigen Lebenshaltungskosten usw.) ist also der Standortvorteil Nummer 1 für den Wedding und natürlich auch für Gesundbrunnen.
Vorteil Nummer 2 ist die Vielfalt der Kulturen. Wenn es stimmt, dass sich die ganze Welt miteinander vernetzt und die vielen hundert Kulturen einander immer näher rücken, dann sind die Netzknoten die Orte, an denen sich diese Entwicklung am deutlichsten manifestiert. Berlin ist einer dieser globalen Netzknoten und in Berlin sind es die Innenstadtteile wie der Wedding, wo dieser historisch einmalige Prozess konkret stattfindet. Wenn es hier bei uns im Wedding klappt, dann klappt es auch in der ganzen Welt. Wenn sich hier die unterschiedlichen Kulturen gegenseitig verstehen lernen, wenn sie es schaffen, einen gemeinsamen Lebensalltag in ihrem Kiez zu gestalten, dann strahlt diese positive Erfahrung auch auf die kleineren Städte, auf die Dörfer oder kurz: auf die Peripherie ab. Und das läuft im Internetzeitalter schneller als man denkt. Der Wedding ist natürlich kein amerikanischer „melting pot“, hier entsteht kein Amalgam aus alten Kulturen, sondern ein lebendiges Mosaik aus vielen hundert Steinen, das dennoch ein harmonisches Bild ergibt. Die Vielfalt bleibt erhalten und bietet Anregungen für Bewohner und Besucher des Viertels.
Wer den Wedding unterstützt, trägt buchstäblich zum sozialen und kulturellen Fortschritt bei. An Orten wie dem Wedding entscheidet sich die Zukunft unserer Gesellschaft. Jedes Engagement ist eine Hilfe auf diesem Weg. Weitere Infos unter www.bürgerstiftung-wedding.de

Dienstag, 10. April 2012

Geilomat

Zu Kaisers Zeiten waren die Dinge, die uns begeisterten, „fabelhaft“ oder „enorm“. In meiner Kindheit waren sie „toll“, danach wurden sie „super“, in meiner Jugend waren sie "grell" oder geil" und als Erwachsener bezeichneten wir sie als „spannend“ oder „groß, wirklich ganz groß“. Im 21. Jahrhundert wurden die Dinge dann „krass“ und jetzt sind sie „voll porno“. Wohin wird die Begeisterung unsere Sprache noch führen?

Montag, 2. April 2012

Gratulation, Magic Ray!

Kennen Sie Ray Dalio? Der Mann ist 62 Jahre alt und arbeitet im schönen Westport, Connecticut, als Hedgefonds-Manager. Im Jahr 2011 hat er muntere 3,9 Milliarden Dollar verdient. Ja ja, jetzt höre ich schon wieder das neidische Gekeife von irgendwelchen Minderleistern: Das ist zuviel! Ich nenne solche Kommentare: Tyrannei der Masse! Aber das Prekariat hat sein Leben nun einmal der spätrömischen Dekadenz gewidmet und verliert im Shitstorm der Empörung schnell die Übersicht. Schon die lächerlichen 17 Millionen Euro Jahresgage für den VW-Chef erschienen ihnen als überzogen. Ray Dalio verdient jeden Tag etwa halb soviel wie Martin Winterkorn im Jahr – auch an Sonn- und Feiertagen oder im Urlaub. Und wenn ich das jetzt auf die Schnelle richtig im Kopf gerechnet habe, sind das 123 Dollar pro Sekunde. Oder man bekäme bis ins 328. Jahrhundert unserer Zeitrechnung Hartz IV. Das ist doch eine großartige Leistung, das muss man doch mal anerkennen, das wird man doch mal sagen dürfen. Und wer hindert all die Kritiker eigentlich daran, selbst einen Hedgefonds zu gründen oder Vorstandsvorsitzender zu werden? Stichwort „Anschlussverwendung“?! Ich jedenfalls drücke Ray die Daumen, dass er in diesem Jahr noch eine Schippe drauflegt. Bei 3,9 Milliarden ist noch Luft nach oben …

Sonntag, 1. April 2012

Ein Nachbar

Es kommen immer wieder alte Menschen nach Berlin, die hier in kürzester Zeit zugrunde gehen. Sie laufen durch die Kulissen ihrer Jugendträume, aber sie können den Zauber ihrer früheren Sehnsucht nach einem Leben jenseits bürgerlicher Konventionen nicht mehr heraufbeschwören. Sie geben ihr altes Leben in München oder Osnabrück auf (die Kinder haben sich längst ihre eigene Existenz aufgebaut, der Lebenspartner ist verstorben oder verschwunden), ziehen aus einer Altersverzweiflung heraus in die Hauptstadt und bleiben hier allein, weil sie vergessen haben (oder weil sie es nie wussten), dass man im Alter keine Freunde mehr findet; nur andere einsame Menschen, die jemanden suchen und die doch ähnlich abgestumpft und erloschen sind wie sie selbst. Sie ziehen in mein Viertel, meine Straße, mein Haus, um ein neues Leben zu beginnen, und sterben hier in der kürzesten Zeit. Womöglich erlangen sie erst hier das Stadium vollständiger Resignation und sie begreifen, dass ihnen all das Geld aus München oder Osnabrück im Diesseits nichts mehr nützen wird. Ein solcher Unglücksmensch lebt in der Wohnung neben mir. Ich sehe seinen Niedergang, er nimmt stetig ab und eitrige Geschwüre plagen ihn an Hals und Rücken. Einst ein stolzer und kräftiger Handwerksmeister, ist er binnen weniger Monate ein weinerlicher Greis geworden. Er überzieht jeden Mitbewohner mit seinem Wehklagen, seinem Zorn auf die Menschen, auf die Hitze und die Kälte, auf den Tag und die Nacht. Bald werden sie seinen Sarg zunageln und ihn eingraben, ich kenne diesen Zerfallsprozess, diesen Vernichtungsvorgang zur Genüge.

Samstag, 31. März 2012

Etappensieg im Mauerpark

Der Mauerpark bewegt weiter die Gemüter. Gestern war es der Stadtentwicklungsausschuss der BVV Mitte, der in öffentlicher Sitzung über die Zukunft des Grünzugs auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen Ost und West entschied. Die gute Nachricht: Der Südteil der Erweiterungsfläche soll jetzt vom Berliner Senat gekauft werden. Dann wären die drohende Bebauung und die damit verbundene Gefahr für das weltberühmte Soziotop vom Tisch. Jetzt sollten schnellstmöglich Fakten geschaffen und der Park mit Hilfe engagierter Bürger vollendet werden. Danach kommt die letzte Etappe eines langen Weges, der vor zwanzig Jahren begann: Der Nordteil der Erweiterungsfläche harrt seiner Renaturierung. Da wird zwar in Kreisen der quälend lächerlichen Betonfraktion noch von „ökologischem Bauen“ und „genossenschaftlichem Wohnen“ geschwafelt, aber schon die verkehrstechnische Erschließung des Geländes ist völlig ungeklärt. Besser wäre es, der Senat erwirbt diese Fläche ebenfalls – vielleicht im Tausch mit ein paar Hektar Baugelände auf dem Flughafen Tegel. Dort fehlen der Stadt noch solvente Investoren – im Mauerpark fehlen der Stadt Bäume und Wiesen, Licht und Luft für die Menschen in der Innenstadt. Ein politisch gesteuertes und mit Steuermitteln finanziertes Marionettentheater namens Bürgerwerkstatt brauchen wir für diese letzten Schritte zur Vollendung des Mauerparks nicht, engagierte Bürger gibt es in den angrenzenden Stadtteilen wahrlich genug. Man muss ihnen nur zuhören.

Mittwoch, 15. Februar 2012

À la recherche du temps bellevue

Schalten Sie den Wulff nicht aus. Installiert wird Update 1 von 99 ...
Nachtrag 17. Februar: Wulff geht vom Netz. Aus Mainz erhalte ich die Botschaft, dass die Motivwagen für den Rosenmontagsumzug in aller Eile umgebaut werden. Typisch humorloser Hannoveraner ... er hätte auch am Aschermittwoch zurücktreten können!

Samstag, 11. Februar 2012

Die Gier wird uns retten

Hat schon mal jemand was von „Rückführung“ gehört? Das ist, wenn Leute unter Hypnose in ein Leben zurückreisen, das sie angeblich vor langer Zeit einmal in einem anderen Körper geführt haben. Die Probanden erzählen dann, wie es als Berater von Pharao Ramses gewesen war oder als Ritter am Hof des fränkischen Königs. Ich habe mich schon immer gefragt, warum niemand erzählt, dass er als Bauarbeiter an den Pyramiden geschuftet hat oder als Bauer auf dem Feld. Wer hat die Schuhe von Ramses angefertigt, wer hat das Brot für die Ritter gebacken? Wo sind all die Mägde und Handwerker, die damals doch etwa 99 Prozent der Bevölkerung ausgemacht haben (so wie heute übrigens auch)? Ich habe lange darüber nachgedacht und heute Morgen bin ich in der Badewanne endlich auf die Lösung gekommen: Nur die Seelen der reichen Leute wandern weiter durch die Zeit und inkarnieren sich z.B. im Jahre 2012 in Bottrop. All die anderen sterben einfach sang- und klanglos wie Feldmäuse. Endlich ergibt der Kapitalismus einen Sinn! Ich habe mich immer schon gefragt, ob es einen tieferen Grund dafür gibt, warum wir uns den ganzen Tag mit albernen Berufstätigkeiten herum plagen, uns abhetzen und kaputt machen, warum wir diese Berge von nutzlosen Gegenständen um uns herum anhäufen. Na klar! Wer viel Geld hat, dessen Seele wird unsterblich werden. Die Gier wird uns alle retten. Unser Seelenheil ist uns gewiss, wenn wir nur lebenslang alles an uns raffen, was uns in die Finger kommt. Und in deinem nächsten Leben kommst du dann in die „The next Uri Geller Show“.

Montag, 6. Februar 2012

Die siebziger Jahre

Die Sechziger waren das Jahrzehnt der Befreiung. In den siebziger Jahren kam dieses neue Lebensgefühl überall in der Provinz an und wurde in Form von langen Haaren, bunten Klamotten und Popmusik Teil des Alltags. Für die Generation der „68er“ gab es in den Siebzigern nur drei Wege: Drogen, Extremismus oder SPD. Auf diese Weise endeten viele ihrer Vertreter tragisch in terroristischen Vereinigungen, rot-grünen Bundesregierungen oder schlicht auf dem Friedhof. Wir Kinder der Siebziger trugen den ideologischen Ballast der älteren Generation nicht mit uns, wir genossen ein kleines bisschen Revolution mit einem Kassettenrekorder in unserem Kinderzimmer. Wenn wir die Sex Pistols oder die Ramones hörten, hätten wir die ganze Welt in Stücke schlagen können – und dennoch waren wir am nächsten Morgen doch wieder pünktlich um 7:40 Uhr zur Mathematikstunde mit Herrn Kaschuba in der Schule.

Sonntag, 5. Februar 2012

Wenn man den Dienst an der Waffe verweigert ...

Während meiner Zivildienstzeit hatte ich im Altersheim einmal einen Patienten zu pflegen, der im zweiten Weltkrieg als Scharfschütze eines Spezialkommandos der Waffen-SS an der Ostfront eingesetzt war. Er hat 95 Menschen ermordet und jede Nacht sah er in seinen Träumen die Gesichter der jungen Männer wieder, die er ins Fadenkreuz genommen hatte, um danach in eben diese Gesichter eine Kugel abzufeuern und sie beim Sterben zu betrachten. Das hat er mir damals in einer ruhigen Stunde erzählt. Der alte Mann ist dann auch relativ bald gestorben. Meine Pflege war mit Sicherheit eine Erlösung für ihn.

Samstag, 4. Februar 2012

Aus einem Interview zu meinem neuen Roman

„Ich habe mit zwölf Jahren angefangen, Geld zu verdienen. Und ich rede nicht davon, dass ich mein Zimmer aufgeräumt und dafür Extra-Taschengeld bekommen hätte. Für eine Firma, die Reagenzgläser hergestellt hat, habe ich zu Hause Prospekte zusammengelegt, in einen Umschlag gesteckt, die Adresse aufgeklebt und einen Drucksache-Stempel draufgedonnert. Fertig! 8 Pfennige pro Umschlag. Das gab fast 3 DM pro Stunde, wenn man nicht rumgetrödelt hat. Den handschriftlichen Arbeitsvertrag habe ich heute noch. Meine Mutter hat als Putzfrau gearbeitet und uns Kinder durchgebracht, Taschengeld gab es keins. Tagsüber, wenn wir aus der Schule kamen, haben wir an der Würstchenbude zu Mittag gegessen oder im Supermarkt eine Tüte Chips gekauft.

Als ich mit vierzehn Jahren kräftig genug war, habe ich im Baumarkt als Aushilfe gearbeitet. In der Zeit fing es auch an, dass ich mir Sachen, auf die ich Bock hatte, einfach geklaut habe. Das waren vor allem Schallplatten und Bücher: Police, Zappa, Kafka, Bernhard. Meine Schwester hat auch geklaut, manchmal waren wir im Team unterwegs. Als sie einmal erwischt wurde und mit der Polizei nach Hause gebracht wurde, hat meine Mutter ihr richtig die Fresse poliert. Man darf sich eben nicht erwischen lassen. Mich haben sie jedenfalls nie erwischt, später habe ich mit Dope sogar richtig Asche gemacht.

Wir hatten kein Auto und sind nie in den Urlaub gefahren. Trotzdem würde ich heute sagen, dass ich eine glückliche Kindheit hatte. Man kannte ja die Alternative gar nicht, denn bei uns im Kiez lebten alle so. Wir Kinder waren frei und sind den ganzen Nachmittag herumgezogen. Ich erinnere mich an ein Feuer, dass wir auf einem leerstehenden Grundstück mit alten Autoreifen gemacht haben – da kam sogar die Feuerwehr! Im Nachhinein kann ich sagen: Man wird nicht nur hart im nehmen, sondern auch hart im geben. Deswegen kann ich mit den ganzen androgynen Waschlappen der heutigen Jugend nicht viel anfangen, für die das angesagte Wet-Gel wichtiger ist als eine klare Position. Ich weiß, wer meine Freunde sind und wer meine Feinde.“

Gentrifizierung als Tierfabel

Wenn so eine Scheiße wie im Prenzlauer Berg in der Natur passieren würde, hätte niemand dafür Verständnis. Stell dir vor, du kaufst ein Stück Wald. Und dann beschließt du einfach, alle Kaninchen mit einem Arschtritt von deinem Grundstück zu befördern. Und nachdem alle Kaninchen weg sind, siedelst du Nerze in diesem Wald an. Jeder würde dich für total bescheuert, herzlos und was weiß ich noch alles halten, wenn du so was machen würdest. Die Tierschützer würden demonstrieren, Greenpeace hätte dich von morgens bis abends in der Mangel und bei Facebook hättest du das Image von Josef Ackermann. Jedem Juchtenkäfer wird heute mehr Respekt entgegengebracht als einem Menschen.

Donnerstag, 2. Februar 2012

Vom Schloss Bellevue nach Moabit

Laut der von Google Maps berechneten Route ist das Schloss Bellevue (Spreeweg 1) von der Justizvollzugsanstalt Moabit (Alt-Moabit 12) genau einen Kilometer entfernt, die Fahrzeit – etwa in einem Audi Q3, um hier ein beliebiges Beispiel zu nennen – beträgt zwei Minuten. Die Strecke wäre aber sicher auch zu Fuß einfach zu bewältigen, wenn man so ganz ohne Sponsoren und Hilfsmittel auskommen müsste. Ein kleiner Schritt für einen Präsidenten, aber ein großer Schritt für die Republik. Ich erinnere mich an eine Wohnungsbesichtigung im Februar 1992 in Moabit, als der Vermieter mit der frohen Botschaft aufwartete, vom Balkon aus könne man die Herren Honecker und Mielke im Knast beim Hofgang beobachten. Möglicherweise bekommen die Anwohner ja bald wieder was zu sehen? Ich würde mich jedenfalls für sie freuen und käme auch gerne mal mit einem Piccolöchen zu Besuch …

Tankstellennightlife

Woran erkennt man den Nicht-Berliner? An der nachmitternächtlichen Bestellung bei meiner Tanke. Da steigt ein blondgeföhnter Wichtigtuer aus dem Taxi, lässt den Motor laufen und bestellt beim Nachtaugust doch tatsächlich sechs kleine Flaschen Bier. Damit hat er sich schon als Laie geoutet. Dit is’n Sechsaträja, Mann! Der Profi-Tankstellenmensch erkennt sofort die Situation und sagt frech, so viele kleine Biere hätte er nicht und verkauft dem Ahnungslosen daraufhin sechs große Einzelflaschen zu je 1,90. Bevor er noch ins Taxi gestiegen ist, hört er schon das Gelächter des zahnlosen Alkoholikers hinter mir in der Warteschlange und den Kommentar: „Wees nich, wat’n Sixpack is. Den hammse doch in Kasachstan großjezogen.“ Und schon sind gefühlte dreißig Grad minus vergessen.

Dienstag, 31. Januar 2012

Konservative Prognosen - gestern und heute

"Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung."
(Wilhelm II. über die Zukunft der Mobilität)


"Das Web 2.0 wird bald Geschichte sein."
(Ansgar Heveling, CDU, über die Zukunft der Netzkultur)

Montag, 30. Januar 2012

In Memoriam FDP

Nach den neuesten Berliner Umfragen sind die Piraten bei 14 Prozent und die FDP wird mittlerweile unter den Sonstigen subsumiert. Am Ende wird man sagen, der neoliberale Hardliner Guido Westerwelle und seine Entourage haben die altehrwürdige Partei in den Abgrund und den politischen Bankrott geführt. Ironischerweise ist die Partei des erklärten Marktradikalismus Opfer des kapitalistischen Systems geworden, die Partei des Wettbewerbs ist im Wettbewerb der Parteien gescheitert. Sie hat ihren Kunden schlechte Produkte wie Steuersenkungen oder Hasspredigten gegen Hartz IV-Empfänger andrehen wollen und Artikel ins Schaufenster gestellt, die sich als Ladenhüter erwiesen: Brüderle, Niebel, Rösler. Die Kundschaft hat folgerichtig das Geschäft gemieden und sich der Konkurrenz zugewandt. Jetzt machen andere die Geschäfte – so knallhart und brutal ist eben das demokratische Business, liebe Freundinnen und Freunde der Kapitalfraktion. Man kann sein Vermögen auch leichtfertig im großen Casino des Bürgervertrauens verspielen. Aber keine Angst: Eure Wählerstimmen sind nicht weg, sie hat nur ein anderer.

Die Tragik der Schleckers

Es freut mich persönlich ungemein, dass die Drogeriekette Schlecker, die ich seit Jahren boykottiere, endlich pleite gegangen ist. Sehr gut finde ich auch, dass die Familie Schlecker bankrott gegangen ist. Das waren schlimme Ausbeuterschweine, denen ich ein hartes Schicksal gönne - wenn möglich als Beschäftigte im Einzelhandel. Dazu muss man nichts mehr sagen, eine Billigkette weniger. Eindeutig übertrieben finde ich aber, welch üble Scherze das Schicksal mit den Namen der Gescheiterten treibt. Nicht nur, dass der Unternehmensgründer A. Schlecker heißt, nein, er muss seinen Sohn auch noch Lars Schlecker nennen, womit natürlich jeglichen Wortspielen, bei denen vorzugsweise das anfängliche L wegzulassen sei, Tür und Tor geöffnet wird. Hier sei den herumalbernden Schicksalsgöttern einmal ins Poesiealbum geschrieben, dass man mit Namen keine Witze machen soll. Hat nicht auch der finsterste Ausbeuter einen letzten Fetzen Würde verdient, mit der er seine moralische Blöße bedecken kann? Und die Graffitikünstler, die vor das Schlecker-Schild immer noch ein A und ein R gesprayt haben, sollten sich ebenfalls was schämen ...

Donnerstag, 26. Januar 2012

Zukunftsangst

So ist die Zukunft, so ist das 21. Jahrhundert: Eine Rückrufaktion von Herstellern künstlicher weiblicher Brüste läuft gerade, über 500.000 Frauen sind weltweit davon betroffen. Es ist die erste Tittenrückrufaktion der Geschichte - alle müssen zurück in die Werkstatt. Und diese Story ist deswegen so deprimierend, weil man früher dachte, im 21. Jahrhundert gäbe es so kluge und nützliche Erfindungen wie zum Beispiel einen Dienstroboter, der einem die ganze Drecksarbeit abnehmen kann. Wir haben viel zu lange viel zu logisch gedacht. Und dann bekommt man in der Realität nicht nur völlig falsche Brüste präsentiert, sondern auch noch einen Sondermüllskandal erster Klasse. An diesem Punkt kommt die Zukunft nicht gerade gut weg, wenn man eine Weile darüber nachdenkt - vor allem aus Sicht der Frauen ....

Freitag, 20. Januar 2012

20 Jahre Mykonos und das Berliner Fell

Was unterscheidet den echten Berliner eigentlich von anderen Menschen, insbesondere in der vielbeschworenen und oft gescholtenen Provinz? Es ist sein dickes Fell. Den Berliner schockt nichts, er hat alles schon mal gesehen und kann zu jeder erzählten Geschichte eine wahnwitzige Steigerung aus seiner eigenen Biographie besteuern. Als Zugereister habe ich mich natürlich gefragt, wie man dieses dicke Fell bekommt. Die Antwort: Weil in dieser Stadt einfach so viel passiert, dass sich das Leben förmlich mit Anekdoten und Dramen vollsaugt.

Eines meiner Erweckungserlebnisse in dieser Hinsicht war der Terroranschlag auf das Restaurant „Mykonos“, der im Sommer 1992, also vor zwanzig Jahren, in der West-Berliner City verübt wurde. Wie es der Zufall wollte, war ich sechs Wochen zuvor aus Kreuzberg ins gegenüberliegende Haus gezogen. An diesem Abend war ich gerade noch an der Tankstelle gewesen, um Dosenbier und Zigaretten zu holen. In meinem Wohnzimmer lief dröhnend laut Frank Zappa, so dass ich zunächst gar nicht mitbekommen hatte, was passiert ist. Ich erinnere mich, dass ich am Kühlschrank stand, um Nachschub zu holen, als aus dem griechischen Lokal Männer heraus gerannt kamen und in einen schwarzen Mercedes S-Klasse sprangen. Ich blieb am Fenster stehen und wartete mit einem Bier in der Hand. Kurze Zeit später versuchten zwei eintreffende Streifenpolizisten, die Augenzeugen am Weglaufen zu hindern. Dann hörte ich die ersten Sirenen. Es war ein komisches Gefühl, denn normalerweise hört man ja, wie sich das Geräusch nähert und dann wieder verschwindet. Diese Sirenen näherten sich und blieben vor meinem Fenster – Zappa nix dagegen. Bald darauf stand die ganze Straße voller Rettungs- und Polizeifahrzeuge, und nach etwa einer Stunde Sirenengeheul und blechernem Funkgeplapper trugen Sanitäter die ersten Opfer hinaus. Am nächsten Morgen klingelte die Kripo um acht Uhr bei mir, sie verhörte alle Anwohner. Zwei Stunden später stand der Reporter der „Berliner Morgenpost“ vor der Tür, er interviewte und fotografierte mich. Und so landete ich als „Der Augenzeuge“ in der Samstagsausgabe und wurde in meinem Viertel für einige Tage zum Promi. Auf dem Weg zur Post lief zum Beispiel ein Ehepaar an mir vorüber, kaum wähnte man mich außer Hörweite, fragte die Frau: „Ist er das nicht?“ Ihr Mann antwortete: „Doch“. Und im Supermarkt starrte mich eine ältere Frau richtig fassungslos an, als sie mich erkannte.

Am Tag nach dem Blutbad waren etliche Fernsehteams und andere Journalisten unten auf der Straße, das Haus war von den Medien regelrecht belagert. Die gegenüberliegende Straßenseite wurde abgesperrt und militärisch bewacht, vermutlich Bundesgrenzschutz. Ein Überlebender wurde von einer Horde Reporter verfolgt. Er schob sein Fahrrad langsam den Gehweg entlang und redete, die Meute lief wie ein Rudel junger Hunde um ihn herum. Im Laufe des Tages wurden Kränze und schwarz umrandete Bilder gebracht, eine Solidaritätsdemonstration fand statt und über Megaphon verlasen die Kurden, deren Politiker vom iranischen Geheimdienst ermordet worden waren, ihre Texte. Eine Freundin (aus der Provinz) hat mich in der Zeit noch auf den Paranoia-Trip geschickt, der Geheimdienst würde sicher auch noch die Zeugen des Attentats liquidieren und mein Name würde mit Foto und Adresse ja schön fett in der Presse stehen, herzlichen Glückwunsch auch. Was soll ich sagen? Inzwischen bin ich ein echter Berliner geworden. Wenn mir morgen jemand erzählen würde, er käme gerade vom Mars, würde ich nur ungerührt antworten: „Bin ick letzte Woche ooch jewesn, war jané so dolle.“

Dienstag, 17. Januar 2012

Frauen und Politik

Machen wir uns nichts vor: Wenn Frauen ein Arbeitsfeld erobern, heißt das, dieses Feld ist gesellschaftlich unbedeutend geworden. Als die Männer bemerkt haben, dass man an den Finanzmärkten besser verdient als in den Arztpraxen, wanderten die männlichen Alphatiere in die Banken und Unternehmensberatungen. Seit die Frauen massiv in den Arztberuf drängen, sinken in diesem Bereich die Verdienstmöglichkeiten. Aus der Bildung verabschieden sich die Männer auch, interessanterweise von unten nach oben, in nennenswerter Zahl besetzen sie noch die Lehrstühle der Universitäten, in Kindergarten und Grundschule sind sie schon lange verschwunden. Und jetzt: Politik. Ich sehe es mit einem lachenden und einem weinenden Auge, dass die Politik immer weiblicher wird, denn der soziale Fortschritt der Gleichstellung läutet das Ende der Demokratie ein. Die Männer/Macher in den Konzernen sitzen schon jetzt am längeren Hebel – wäre es anders, wären diese Menschen woanders.

Samstag, 14. Januar 2012

„Ärgernis, Aufsehen, Empörung: Skandale in der Geschichte“

Seit 1973 veranstaltet die renommierte Körber-Stiftung, für die ich in aller Bescheidenheit auch schon als Juror fungiert habe, gemeinsam mit dem Bundespräsidenten einen jährlichen Geschichtswettbewerb, an dem sich junge Leute beteiligen sollen. Mehr als 125.000 Schülerinnen und Schüler haben bereits an diesem Wettbewerb teilgenommen, es ist laut Wikipedia „die größte Laienforschungsbewegung Deutschlands“. Das aktuelle Thema lautet: „Ärgernis, Aufsehen, Empörung: Skandale in der Geschichte“. Eine kluge und weitsichtige Entscheidung, wie wir inzwischen wissen. Der aktuelle Bundespräsident hat Ende letzten Jahres die Preisträger des Geschichtswettbewerbs ausgezeichnet, es aber leider seitdem verabsäumt, auch die persönlichen Konsequenzen aus seinen diversen Skandalen zu ziehen, um den Grad der Würdelosigkeit seines Verhaltens nicht ins Unermessliche steigen zu lassen. Gib dir einen Ruck, Wulff, und geh endlich! Du hast so ein schönes Haus in Niedersachsen …

Mittwoch, 4. Januar 2012

Unvergessliches Treffen

Es war im Intercity von Köln nach Berlin. Günter hatte bereits seinen reservierten Fensterplatz am Tisch eingenommen, als Tom den Großraumwagen betrat. Tom ließ seinen Blick über die Sitzreihen wandern. Dann sah er Günter, der gerade ein Notizbuch und einen Stift aus seiner Jacke kramte.
„Ach, hallo. Günter. Bist du das?“
Günter blickte hoch. „Tom? Na, das ist ja eine Überraschung.“
„Ist hier noch frei?“
„Klar. Setz dich.“
Tom setzte sich auf den freien Fensterplatz direkt gegenüber.
„Günter Schurack, Schillergymnasium. Das ist dreißig Jahre her, oder?“ Tom grinste breit, während er das iPhone vor sich auf dem Tisch platzierte.
„Genau. Tom Burckhardt. Du hast dich nicht viel verändert. Nur die Haare sind ein bisschen kürzer.“
Sie lachten beide. Früher hatte Tom lange Haare gehabt, nun trug er sie kurz und mit gewaltigen Geheimratsecken.
„Wo geht’s denn hin?“ fragte Tom.
„Nach Bielefeld, auf eine Tagung,“ antwortete Günter.
„Was machst du da?“
„Ich halte einen Vortrag.“
„Einen Vortrag?“ fragte Tom erstaunt. „Bist du Wissenschafter?“
Günter lächelte. „Ich bin Betriebswirt.“
Tom riss die Augen auf und lachte einmal kurz. „Ist nicht dein Ernst? Betriebswirt?“ Dann grinste er. „Passt aber irgendwie. Warst du damals nicht in der Jungen Union?“
„Ja“, sagte Günter. „Und du warst doch damals der große Revoluzzer in den Achtzigern.“
„Stimmt“, Tom schüttelte lachend den Kopf. „Ich habe mir nichts gefallen lassen.“
„Was machst du denn heute so?“
„Ich habe eine kleine Agentur in Berlin. Wir sind ein paar Leute, aber es läuft total super.“
Günter grinste. „Sag bloß, du machst Werbung. Reklame für den Konsumterror der Großkonzerne?“
Tom zuckte leicht mit den Schultern. „Es ist keine Werbung, wir machen Krisen-PR. Wir entwickeln Strategien und Argumentationen für unsere Kunden. Ich mache Kommunikation, das ist es im Kern. Und wir haben jede Menge Kunden aus dem Bereich Erneuerbare Energien.“
„Nicht schlecht“. Günter nickte anerkennend. „Berlin ist bestimmt aufregend.“
„Ach, weißt du, wenn man den ganzen Tag am rödeln ist und zwei kleine Kinder hat, beschränkt sich die Aufregung auf den Straßenverkehr und die Steuererklärung.“
Günter lachte. „Bist du verheiratet?“
„Ja. Ich weiß, es klingt spießig. Aber wir haben eine richtig fette Hochzeit auf der Finca meiner Frau gefeiert. Ist schon zehn Jahre her. Auf Mallorca. Hast du auch Familie?“ Tom zeigte Günter ein Bild auf seinem Telefon. Eine kurzhaarige Frau und zwei kleine Mädchen standen vor einem üppig geschmückten Weihnachtsbaum.
Günter schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin Single.“
„Lebst ganz für die Wissenschaft, was? An welcher Uni bist du denn?“
„Duisburg. Aber ich wohne in Bonn.“
„Als Professor verdient man sicher nicht schlecht, oder?“ fragte Tom.
„Ich bin Privatdozent. Im Moment lebe ich von den Lehrveranstaltungen, die ich mache.“ Günter schob Tom eine Visitenkarte über den Tisch. „Hier. In unserem Alter hat man ja so was.“
Tom lachte und gab Günter seine Karte. Dann betrachteten beide für einen kurzen Augenblick die Visitenkarten des Anderen.
„Kollwitzplatz“, sagte Günter und nickte mit einem spöttischen Grinsen zu. „Das ist im Prenzlauer Berg, oder? Ziemlich angesagter und teurer Flecken. Deine Agentur muss ja gut laufen, wenn du dir dort die Miete leisten kannst.“
„Ja, dort wohnt die digitale Boheme, wie man so sagt. Und, ehrlich gesagt, haben wir das Loft sogar gekauft. War schweineteuer, aber es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn du nachts an deinem Schreibtisch sitzt und über die Stadt schaust.“ Tom räkelte sich behaglich in seinem Sitz.
Günter schaute ihn ernst an. „Das hätte ich nicht gedacht. Geschäftsmann, verheirateter Familienvater, Grundeigentümer und Autofahrer. Eigentlich musst du jetzt nur noch einen Baum pflanzen, dann hast du den ganzen bürgerlichen Kanon abgearbeitet.“
Tom wurde nun auch ernst. „Das brauche ich nicht mehr, ich habe letztes Jahr tausend Euro für ein Wiederaufforstungsprojekt in Vietnam gespendet. Und du? Immer noch ein strammer Antikommunist und Parteisoldat? Bist du noch für die bürgerliche Sache unterwegs? Ist aus dem Helmut-Kohl-Fan jetzt ein Merkel-Vasall und Westerwelle-Knecht geworden?“
„Ich lebe jedenfalls bescheiden und fahre auch nicht Auto. Und was heißt hier bürgerlich? Du lebst doch bürgerlicher als ich!“
Tom lachte verächtlich. „Was soll denn das heißen? Als du noch gegen die 35-Stunden-Woche und für die NATO-Aufrüstung gekämpft hast, habe ich mich bei den Grünen für Umweltschutz und gegen Atomkraft engagiert. Ich habe am Ende Recht behalten.“
„Aus dir ist ein bürgerlicher Bettvorleger geworden, der systematisch alles verraten hat, woran er mal geglaubt und wofür er mal gekämpft hat. Du spielst hier den Salonbolschewisten mit deinem ganzen Apple-Wichtigtuer-Scheißdreck und deiner Jack-Wolfskin-Kacke.“ Günter war auf einmal wütend und laut geworden.
Tom sah ihn erschrocken an. Dann schwiegen beide eine Weile.
In leisem drohendem Tonfall fuhr Günter fort: „Du hast am Ende nicht Recht behalten. Du nicht! Ich bin mir treu geblieben und du bist ein Verräter. Wofür der ganze Kampf? Wozu hast du das alles gemacht, die ganze Provokation, die Parolen, die du überall hingeschmiert und gebrüllt hast, wenn du am Ende doch alle deine Ziele verraten hast? Du bist der schlimmste Verräter, den man sich vorstellen kann. Du hast nicht andere verraten, du hast dich selbst verraten. Du bist als Bonzensohn auf die Welt gekommen und jetzt bist du selbst ein Bonze geworden. Du bist nicht besser als jeder andere Unternehmer, der seinen Profit auf dem Rücken seiner Angestellten macht. Und von deinem reichen Papa habe ich in der Zeitung gelesen, der hat mit seinen Hedge-Fonds Millionen verdient. Ihr Grünen seit doch die neuen Spießer! Vor dreißig Jahren hast du Leute wie mich bekämpft, weil ich für dich der Inbegriff des Spießertums war. Jetzt wählst du selbst die Spießerpartei von heute. Ihr Besserverdienenden rümpft die Nase über Leute, die zu Aldi oder Kik gehen, während ihr eure bürgerliche Scheiße im Biomarkt kauft oder bei Manufaktum. Dabei kapiert ihr gar nicht, dass viele von uns sich die teuren Sachen gar nicht leisten können und eben politisch unkorrekt einkaufen müssen. Ihr pseudolinken Klugscheißer haltet anderen gerne Vorträge über Klimawandel und fliegt danach für zwei Wochen zum Skiurlaub nach Davos. Arme Leute haben eine bessere Ökobilanz als ihr, weil sie sich die Umweltverschmutzung gar nicht leisten können. Die reden allerdings auch nicht so geschwollen daher wie ihr hochnäsigen Wichtigtuer.“
Dann hielt der Zug in Bielefeld und Günter stieg aus.