Freitag, 30. November 2012

We're only in it for the stulle

Aufgrund der strategischen Lage meiner Wohnung ist es mir möglich, mich quasi von hinten ans KaDeWe anzuschleichen, ohne die apokalyptisch belebte Tauentzienstraße betreten zu müssen. Innerhalb von zehn Minuten habe ich mich dem Seiteneingang in der Passauer Straße von Süden genähert. In weiteren zehn Minuten werde ich mit der Präzision einer Navy Seals-Einheit die Feinschmeckeretage erreichen und sichern, um italienischen Schinken, französisches Brot und eine Rosinenschnecke zu requirieren. Es ist ein Routineeinsatz, jeder Handgriff sitzt. Ich habe sogar das passende Kleingeld. Auf dem Weg nach unten esse ich die Rosinenschnecke und denke an das letzte Hindernis: die Parfümerie. Ich muss durch die verdammte Parfümerie. Ein Alptraum voller schöner Frauen und süßer Düfte. In dreißig Jahren bin ich noch nie von ihnen angesprochen worden. Ich komme die Rolltreppe hinunter, in meiner abgerissenen Jeansjacke und mit Zehn-Tage-Bart, in einer Tüte das rohe Fleisch für meine nächste Mahlzeit, während meine Kiefer nervös das Backwerk zermalmen und Krümelfontänen in schnellem Rhythmus aus meinen Mundwinkeln schießen. Warum fragt ihr mich nicht, ob ich etwas kaufen will? Aber es ist, als wäre ich durch einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum direkt aus dem Altholozän in diese Abteilung gesprungen. Keiner wagt es mich anzuschauen, bis ich mit meiner Beute das Gebäude verlassen habe.

Freitag, 23. November 2012

Es lebe die Unvernunft

Die fünf Gegenreiche der in Mittel-Zweck-Denken und ökonomischen Gewinnhandeln befangenen menschlichen Vernunft: Das Spiel, die Kunst, die Liebe, der Rausch und der Wahnsinn. Wer sich – zumindest zeitweise – nicht in diese Territorien retten kann, dem bleiben nur Zerstörung und Selbstzerstörung. In diesen Gegenwelten verlieren wir uns, wir können die Zeit und unsere Sterblichkeit vergessen, und finden doch den Sinn, den das alltägliche Streben nach Macht, Anerkennung und Optionen – oft in seiner Afterform als banale Geldgier – nicht vermitteln kann. Wer sich in ein Musikstück versenkt, ist unter die Oberfläche individueller Verwertbarkeit abgetaucht. Wer mit Freunden durch den Wald spaziert, ist frei von zweckgebundenem Handeln. Erst diese Zweckfreiheit verleiht den Gegenreichen ihren tieferen Sinn und die Würde der Nutzlosigkeit, die im Zeitalter des destruktiv gewordenen „Vernünftigen“ und angeblich „Richtigen“ allein noch Trost spenden. Jenseits der Kommerzialisierung der Kunst, des Spiels usw. kann nur von hier aus, vom Territorium der Unvernunft, nach dem Abschied von allen revolutionären Subjekten ein neuer Geist des Widerstands entstehen. Es lebe die Unvernunft!