Donnerstag, 25. Juli 2013

Schattenleben, erster Teil

Ich bin jetzt fünfundzwanzig Jahre alt und habe noch nie gearbeitet. Ich habe es auch nicht vor. Wenn ich am Fenster stehe und diesen armen Kreaturen zusehe, wie sie bei Sturm und Regen irgendwelchen kleinen und großen Transporthülsen entgegen eilen, die sie an Orte bringen, die ich gar nicht kennenlernen will. Fabriken, Büros und Geschäfte. Alles voller fremder Menschen, Lärm und greller Beleuchtung. Banale Plaudereien, Neonröhren, eingeschweißte Sandwichs. Es geht um öde Dinge wie Zahlenkolonnen, Handtaschen oder Tütensuppen. Die Menschen stehen im Dunkeln auf, obwohl sie noch müde sind, und ziehen sich alberne Sachen an, die sie freiwillig nie tragen würden. Sie kaufen Sachen, die sie nur für den Job brauchen. Wenn sie etwas machen, vergleichen sie sich immer mit ihren Kollegen oder Nachbarn. Sie haben vielleicht auch Eltern, denen sie etwas beweisen wollen. Sie beschäftigen sich seit ihrem zwölften Lebensjahr mit der privaten Altersvorsorge und wissen mit vierzig nicht, warum sie überhaupt leben. Ich brauche das alles nicht. Mir reicht es, hier am Fenster zustehen und den Leuten zuzuschauen. Ich werde nie zu diesen Kreaturen da draußen gehören. Ich kenne sie nicht und sie kennen mich nicht.
In der Küche habe ich die Kaffeemaschine zum Laufen gebracht. Diese Geräte werden immer komplizierter, aber ich habe die Gebrauchsanweisung in einer Schublade der schneeweißen Einbauküche gefunden. Leider gibt es hier kein Brot, daher begnüge ich mich mit einem Müsli. Die Küche wirkt nicht nur aufgeräumt, sondern auch unbenutzt. Der Mieter dieser Wohnung kocht offenbar nicht oder nicht oft. Im Vorratsschrank finde ich eine Dose Linsensuppe und eine Dose Pfirsiche. Im Kühlschrank ist etwas Käse, Milch und Ketchup. Wahrscheinlich wieder einer dieser Single-Manager, die diese Stadt bevölkern.
Nach dem Frühstück lege ich mich auf das schwarze Ledersofa und frage mich, warum ein einzelner Mensch eine Wohnung dieser Größe mietet. Das Wohnzimmer allein hätte genügt. Die Küche war eigentlich überflüssig, das Schlafzimmer war riesig. Und im dritten Zimmer, einem herrlichen hellen Raum mit Blick auf den Park, standen nur ein paar Kisten und eines dieser als Heimtrainer bekannten Fahrräder, mit denen man auf der Stelle trat. Nach den Sachen im Kleiderschrank zu urteilen, war der eigentliche Bewohner dieser Penthousewohnung einen Kopf kleiner. Aber er konnte ein paar neue Unterhosen und Socken gebrauchen. Er mochte es ohnehin nicht, mit den Jacken und Hosen fremder Leute gesehen zu werden. Jemand konnte sie vielleicht wieder erkennen, obwohl das extrem unwahrscheinlich war und die meisten Menschen sich unauffällig kleideten. Vor allem die Männer trugen praktisch farbfreie Kleidung von hellgrau über dunkelgrau bis schwarz. Dazu weiße Hemden und idiotisch bunte Krawatten, als sei ihr letztes bisschen Individualität in diesen erbärmlichen Stofffetzen geronnen.
Im Augenblick wohne ich am Tiergarten in Berlin. Ich bevorzuge Wohnungen ohne Concierge und ohne viele Kameras. Für die üblichen Kameras reichen Schirmmütze und Sonnenbrille, man wirkt dann auch gleich prominent. Die Luft im Park ist mild. Am späten Vormittag sind die lästigen Jogger mit ihrem beunruhigenden Schnaufen bereits verschwunden und junge Mütter mit Kinderwagen prägen das Bild. Das Leben ist ganz einfach: ausschlafen und frühestens um zehn Uhr das Haus verlassen, dann sind alle Manager schon im Büro. Die meisten kommen müde und mit gesenktem Kopf gegen zwanzig Uhr nach Hause und bei den seltenen Begegnungen im Fahrstuhl ist es von Vorteil, dass man sich in der Großstadt nicht kennt. Es reicht die Beachtung des Dresscodes in einem solchen Gebäude. Nachts kommen die Betrunkenen nach Hause, aber die hört man vorher. Und ich bin abends sowieso gerne zu Hause.
Zu Hause – ein Zuhause im eigentlichen Sinne habe ich schon seit einigen Jahren nicht mehr. Als ich von Zuhause fort ging, sagte ich, dass ich studieren würde. Bei meinen Anrufen erzähle ich meinen Eltern inzwischen, dass ich für eine amerikanische Management-Firma arbeiten würde und landesweit zum Einsatz käme. Wenn ich mit meinem Vater oder meiner Mutter skype, staunen sie immer über die schöne Wohnung, die sie im Hintergrund sehen können. Ich habe schon immer gut gelebt. Aber ich habe noch nie Miete gezahlt. Ich bin ein Mietfrei-Nomade.

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