Donnerstag, 25. Juli 2013

Schattenleben, zweiter Teil

Mit dem Geld ist es ganz einfach: Viele haben in ihrer Wohnung Geld und Gold versteckt. Schmuck meide ich, denn er ist sehr schwer in Geld zu verwandeln. Dazu müsste man einen Hehler kennen und ich mag keine Kriminellen. Ich nehme an, die Wohnungsbesitzer werden kaum Anzeige erstatten, da es sich im Regelfall um Schwarzgeld handelt und die Versicherung es sowieso nicht glauben würde. Die Geprellten glauben vermutlich an einen normalen Einbruch. Dazu passt auch das zerwühlte Bett, das den Eindruck erweckt, nach Beute abgesucht worden zu sein. So ist im Laufe der Zeit ein schönes Sümmchen zusammen gekommen, alles in allem Goldbarren, Dollar und Schweizer Franken im Wert von über hunderttausend Euro.
Zum Mittagessen gehe ich in ein Edelrestaurant auf der Französischen Straße. Nach diesem armseligen Frühstück brauche ich etwas Anständiges. Zunächst ein paar gebratene Garnelen mit Salat, danach ein saftiges Entrecote und zum Abschluss zarte Crepes. Danach möchte ich noch eine neue Jacke kaufen. Es ist Frühling und der Wintermantel gefällt mir nicht mehr. Er wird verschwinden müssen. Ich kann immer nur mehr als einen Koffer tragen, also brauche ich nicht viele Dinge gebrauchen. Eigentlich bin ich immer auf Reisen wie einer dieser Arbeitsnomaden, die von ihren Firmen durch die ganze Welt geschickt werden.
Aber ich bin nicht wie sie, ich bin der Schatten dieser Arbeitsnomaden. Alles begann mit Paul. Ich war damals in einer Cocktailbar gelandet und sog gerade an meinem zweiten Zombie, als sich zwei Typen in dunklen Anzügen an die Bar setzten. Sie unterhielten sich über ihre Arbeit und fluchten über die vielen Dienstreisen, die sie für ihre Firmen machen mussten. Einer der beiden hieß Paul und erzählte, seit seiner Scheidung würde er in einem Appartementhaus wohnen, in dem seine Firma ein Dutzend Wohnungen angemietet hätte. Für Gäste und für die eigenen Leute, die eine Unterkunft in der Nähe der Firma suchten. Am Ende des Abends hatte ich nicht nur Pauls vollen Namen und Adresse gehört, sondern dass er am darauffolgenden Tag nach London fliegen müsse. Er komme erst eine Woche später wieder.
Und so lebte ich ein paar Tage in Pauls Wohnung, ernährte mich aus seinem Kühlschrank, trank edelste Single Malts und genoss den Blick auf einen gigantischen Flachbildschirm. Das Leben gefiel mir, dass Paul führte. Nur seine Arbeit fand ich schrecklich. Aber die Wohnung, die teuren Klamotten, die DVD-Sammlung – genau mein Stil. Es war kein Problem gewesen, das Türschloss zu öffnen. Klugerweise hatte ich nach einem Semester BWL das Studium aufgegeben und für einen Schlüsselnotdienst zu arbeiten. Notfalls geht man eben mit seinen Arbeitsklamotten vom Schlüsseldienst in ein solches Haus.
Ich hatte mich ein wenig an den Luxus gewöhnt, konnte aber unmöglich bei Paul noch einmal wohnen. Er hatte es sicher gemerkt, dass jemand in seiner Wohnung gewesen war, auch wenn nur Nahrungsmittel fehlten. Persönliche Dinge wie Tagebücher und Briefe lese ich, aber ich stehle sie nicht. Also habe ich meine Methode systematisch ausgebaut: Am Anfang suche ich mir über das Internet die Namen von Managern heraus. Dann suche ich ihr Profil bei Facebook und überprüfte ihre Daten und Bilder auf Xing. Alle diese Trottel sind mit ihrem Bewerbungsfoto auf Xing. Wenn ich sie zweifelsfrei identifiziert habe, checke ich regelmäßig deren Seite. Wenn Sie eine Dienstreise ankündigen und sich beispielsweise über einen langen Trip in die USA lamentieren, sind also ihre Wohnungen frei. Dann die Adresse checken und wenn es sich um ein typisches Dienstwohnungskarussell handelt, wird der Fall interessant. Die Adressen der Dienstwohnungssilos, die von Konzernen angemietet werden, bekommt man über die Werbung im Internet.
Die zweite Wohnung gehörte einem IT-Schnösel namens Tom. Er war auf einer Weiterbildung und wollte anschließend auf Sardinien Urlaub machen. Er hatte einen grauenhaften Geschmack, aber die Wohnung in Dahlem war sehr schön. In wenigen Schritten war man im Grunewald und konnte an den vielen schönen Seen spazieren gehen. Und mit der U-Bahn war ich in einer Viertelstunde auf dem Ku’damm. Tom las keine Bücher, jedenfalls sah ich keine in der Wohnung. Es waren auch keine Bilder an der Wand. In den Schubladen seines Schreibtisches, ein nierenförmiges Stück bleicher Kunststoff mit verchromten Beinen, waren nur Schnellhefter mit Rechnungen und Gehaltszetteln. Er hatte nirgendwo seine persönliche Handschrift hinterlassen und der Computer war passwortgeschützt. Außerdem besaß er mindestens zwanzig Paar Turnschuhe in allen Leuchtfarben und ein altes Skateboard auf dem Schrank. Damals war ich noch sehr schüchtern. Nach zwei Wochen packte ich meine Sachen, putzte und räumte auf, um mir eine neue Behausung zu suchen. Heute würde ich ein schönes Bild kaufen und es an die Wohnzimmerwand hängen. Ich würde neue Bettwäsche kaufen und vielleicht sogar eine Schachtel Pralinen auf dem Kopfkissen hinterlassen. Aber damals wollte ich keine Spuren hinterlassen, sondern unsichtbar bleiben. Ich wollte nur die süßen Früchte ihres Lebens kosten, ohne an diesem Leben wirklich teilnehmen zu müssen, aber im Grunde waren mir diese Menschen vollkommen egal.
Das änderte sich, als ich zum ersten Mal bei einer Frau wohnte. Viele kleine Details fielen mir auf: eine elegante kleine Vase auf einem Fensterbrett, die Farbkombination der Kissen auf dem Sofa, ein Block voller Landschaftsskizzen im Schlafzimmer. Das Bild im Internet zeigte eine selbstbewusste Frau Mitte Dreißig, gutaussehend und alleinstehend. Ihr Name war Dina. Ich begann, ihr Tagebuch zu lesen, das ich in der Schublade des Nachtisches gefunden hatte. Als Studentin klang sie noch optimistisch, aber im Laufe der Jahre häuften sich die Klagen. In ihrer klaren Mädchenhandschrift begann sie, die Frage nach dem Sinn ihres derzeitigen Lebens und nach Alternativen zu stellen. Ich las stundenlang, tagelang in ihrem Leben und Gedanken. Aber wie konnte ich mich in das Leben einer Unbekannten einmischen?
Manchmal nehme ich mir eine Auszeit und gehe ins Hotel. Geld genug habe ich ja. Diesen ganzen Menschen haben ja viel zu viel Geld, mit dem sie aus Mangel an Phantasie oder Gelegenheit nichts anzufangen wissen. Dann hole ich etwas von dem Geld aus dem Bankschließfach und bleibe ein paar Tage in einem Hotel. In Berlin wird jede Woche ein neues Hotel eröffnet und ich wähle jedes Mal ein neues Haus. Ich bin jederzeit völlig frei in meinen Entscheidungen – diese Manager könnten soviel Freiheit gar nicht ertragen. Es würde sie nervös machen, einen ganzen Nachmittag die Zeitungen in einem Kaffeehaus zu lesen, so wie ich es zu tun pflege. Soll ich sie nun verachten oder soll ich mir Sorgen um sie machen? Und so lange ich diese Frage nicht hinreichend beantwortet habe, benutze ich sie einfach, so wie sie andere benutzen.

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