Donnerstag, 27. März 2014

Vor 25 Jahren: Ein Brief nach Berlin vom 13.11.1989

Lieber Norbert!
Deine verträumt-ahnungslosen Zeilen vom Anfang letzter Woche wirken in diesen Tagen seltsam exotisch. Inzwischen weht wohl der „Mantelsaum der Geschichte“ über die Windscheidstraße 30. Alles schaut nach Berlin und Du musst wohl oder übel die Rolle des Dokumentators für die zurückgebliebene rheinhessische Intelligenzia übernehmen – oder ich komme, wie ich es am Freitag bereits im Taumel der Ereignisse und einiger geistesstärkender Substanzen kurzzeitig vorhatte, demnächst höchstpersönlich nach Berlin, um mir das Ganze aus der Nähe anzusehen!
Vor mir liegen die BILD-Zeitung (schwarz-rot-golden prangt ein überdimensionales „Guten Morgen, Deutschland“ auf der Titelseite) und DER SPIEGEL (das Titelbild mit der Schlagzeile „Das Volk siegt“ und der besetzten Mauer nebst einem spitzhackeschwingenden Volkshelden wird todsicher in ein paar Jahren in unseren Schulbüchern auftauchen), im Fernsehen Sondersendungen, in denen sich die verrücktesten Meldungen überschlagen. Ich hoffe, Du hast Dich in diesen Tagen nicht hinter Deine Bücher und in Museen verkrochen. Hast Du die Kundgebung (ebenfalls „historisch“) vor dem Schöneberger Rathaus gesehen? Wie unglaublich der deutsche Bundeskanzler, diese der Bedeutung des Augenblicks so völlig unangemessene Kreatur, diese Ausgeburt spießbürgerlicher Kleingeistigkeit, von der Menge ausgepfiffen wurde, in einem Moment, in dem die ganze Welt nach Berlin schaut – und dann stimmen diese „Volksvertreter“ ganz allein und traurig-komisch – nein, eigentlich: grotesk bis zum Irrsinn – die deutsche Nationalhymne an, es ist nicht zu fassen.
Sehr sympathisch, trotz oder gerade wegen seiner unverkennbaren Senilität: Willy Brandt. Bei jener „dramatischen“ Bundestagssitzung wird er weinend aus dem Plenarsaal geführt, bei der Kundgebung in Berlin ist er der eigentliche Triumphator, denn sein Lebenswerk, das zähe Basteln an der Ost-West-Verständigung, findet spät eine rührende Vollendung. Gerade ihm vertrauen viele, weil er nicht – wie einige Bonner Parteipolitiker – versucht, aus der unübersichtlichen Lage Kapital zu schlagen. Schön auch, dass Walter Momper, für mich bisher Anlass zum Schmunzeln, den Begriff „Revolution“ verwendet hat und das überhaupt ein rot-grüner Senat dieses Massenspektakel zu bewältigen hat – und nicht ein schwarz-brauner.
Es ist tatsächlich (wenn nicht noch „chinesische Verhältnisse“ die Lage im letzten Moment kollabieren lassen) die erste erfolgreiche Revolution auf deutschem Boden, das erste Mal, dass sich deutsche Menschen ihre Freiheit erkämpfen – so schlecht können vierzig Jahre Sozialismus (muss ich zynisch hinzufügen) ja nicht gewesen sein. Vor allem ist diese „Volksbewegung“ so bemerkenswert, weil sie friedlich, fast heiter und ganz pragmatisch, ohne vorgefertigte Konzepte und Ideologien an den Umsturz des Regimes geht. Auch vor dem Schöneberger Rathaus hat die Ankündigung konkreter Veränderungen wie die Öffnung neuer Grenzübergänge mehr Jubel ausgelöst als alle politischen Phrasen (einschließlich der von Willy Brandt). Angesichts der gigantischen Massendemonstrationen musste ich auch meine Meinung über die DDR-Bevölkerung ändern: Es sind keine duckmäuserischen Spießer, nicht die „typischen Deutschen“ mit ihren Aftertugenden wie Fleiß, Disziplin und Gehorsam, sicher haben viele erst in der Masse zu ihrem Mut und zu ihrem Mund gefunden, aber dennoch muss man den Hut vor denen ziehen, die in der DDR bleiben und an die Türen der Staatsmacht klopfen.
Dass man trotz aller „deutschen Raserei“ einen klaren Kopf bewahren muss, zeigt mir eine Nachrichtensendung eines französischen Kabelsenders vom Wochenende: Die Bilderfolge geht vom Ansturm der „Ossis“ auf den Westsektor Berlins nahtlos zum, wie ich finde, peinlichen Absingen der deutschen Nationalhymne im Bundestag über (die, wie ich im SPIEGEL lese, spontan und auf Initiative einiger CDU/CSU-Abgeordneter geschah; die Grünen sind dabei im Saal geblieben, haben zwar nicht gesungen, standen aber auch), Hauptthema: die deutsche Wiedervereinigung. Niemand darf vergessen, dass die Nachbarländer vor allem Beängstigendes mit dieser Frage verbinden, Franzosen und Polen obenan. Die Angst ist verständlich, wie schwer uns der Umgang mit dem Begriff „Nation“ fällt, sehen wir an diesem Wochenende, und ein „Großdeutschland“ (vielleicht sogar in den Grenzen von Anno Tobak?) bildet nicht nur eine ökonomische Gefahr für das labile Gleichgewichtssystem der europäischen Staaten.
Meine Meinung zu allen deutschlandpolitischen Fragen, die ich mir in den letzten Tagen mühsam zusammengebastelt habe, ist auf einige kurze Ansatzpunkte beschränkt, über die ich gerne mit Dir diskutieren würde:
1. Politische Nicht-Einmischung in den Prozess der Entwicklung. Die Reformbewegung würde diskreditiert und beleidigt (weil als unmündig hingestellt), der SED böte sich eine Handhabung des Konflikts als „von außen beeinflusst.“
2. Anerkennung der vollen Souveränität der DDR, wenn die Reformbewegung, ähnlich wie in Polen, demokratisch an der Macht beteiligt wird. Gerade in den nun aufbrechenden Möglichkeiten zu einer echten Alternative gegenüber der Bundesrepublik liegt ja die Zauberkraft des Prozesses. Wieso soll das Ende der stalinistischen DDR das Ende der DDR sein? Warum das ganze Wiedervereinigungsgeschwafel? Wiedervereinigen wollen sich doch nur die reichen Westdeutschen. Warum, kann man provokativ fragen, „freie Wahlen“? Vielleicht möchten die Bürger ja eine Räterepublik? Mit einer Marktwirtschaft nach schwedischem Vorbild? Warum lässt man diese ersten wirklich freien Deutschen nicht selbst entscheiden, welchen Weg sie einschlagen möchten? Die Palette der politischen Möglichkeiten ist nahezu unbegrenzt.
3. Die „ehemaligen deutschen Ostgebiete“ existieren nur noch in den Köpfen der Bonner Berufsvertriebenen. Es gibt nur noch „neue polnische Westgebiete“. Daran sollte niemand rütteln, die schleimige Phrase von der formaljuristischen Zugehörigkeit zu „Deutschland als Ganzem“ im Sinne des Vier-Mächte-Abkommens ist nicht nur verlogen, sondern auch in höchstem Maße schädlich. Mit ihr verliert auch der Reformprozess in der DDR ausländischen Kredit.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass mir die Reformbewegung im Osten – trotz des Verlustes einer politischen Alternative zu unserem „Wolfsgesetz“ – sehr gut gefällt: Alles ist friedlich, die Revolution schwappt nicht über auf unseren verlogenen und selbstgerechten Materialismus, alles ist fernsehgerecht verpackt, wenn ich nach Hause komme, es ist eine grandiose Oper, der ein Happy End gewiss sein kann. In fünf Jahren (spätestens!) macht Hollywood seinen ersten Film über die „historischen“ Ereignisse dieser seltsam unhistorischen Novemberrevolution.
Doch nun zu anderen Ereignissen von, wenn schon nicht weltpolitischer, dann doch zumindest sporthistorischer Bedeutung: eine verlorene und skandalös beendete Formel 1-Weltmeisterschaft, die fast schon standrechtliche Verurteilung von Senna (ein halbes Jahr Lizenzentzug auf Bewährung und hunderttausend Mücken Strafe) – oha! Ich muss gestehen, dass ich sehr, sehr wütend war. Aber jetzt blicke ich voll grimmiger Entschlossenheit auf die nächste Saison: Senna wird Prost zerstören, Ferrari wird mit fliegenden roten Fahnen – ähnlich der SED bei den nächsten Wahlen – untergehen. Auf die Borussia möchte ich – aus bekannten Gründen - nicht näher eingehen. Aber auch auf dem Sektor „Fußball“ werde ich mich nächstes Jahr – eine Weltmeisterschaft steht ins Haus! – hoffentlich regenerieren.
Ansonsten alles Gute, viel Spaß in Berlin
Dein Matthias

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