Samstag, 24. Mai 2014

Heimkehr

Er hatte den Aufstieg gar nicht so beschwerlich in Erinnerung. Er lief nun schon eine Viertelstunde den Berg hinauf und der Schweiß rann seinen Rücken hinab. Der schmale Pfad war vom Unterholz überwuchert und wand sich um schroffe Felsen. Über ihm bildeten die Äste der Buchen und Eichen ein undurchdringliches Dach. Er bog dornige Ranken beiseite und ging weiter. Bald darauf stand er auf einer Wiese und sah es vor sich: sein Elternhaus. Hier war er aufgewachsen, hier hatte er seine ersten Schritte gemacht, hier hatte er seine ersten Worte gesprochen. Das fahle Mondlicht schien auf eine verlassene Ruine. Lange betrachtete er das Haus, dann ging er auf die Haustür zu. Sie hing schräg in den Angeln und als er sie berührte, fiel sie in den Flur.
Er betrat das Haus und sah in die Zimmer. Auf der linken Seite war die Küche gewesen. Hier hatte die ganze Familie zu den Mahlzeiten beisammen gesessen. Am Küchentisch hatte er gemalt und später mit seiner Schwester gespielt. Jetzt stand nur noch der alte Herd im Raum, der Fußboden war mit Scherben übersäht. Gegenüber war das Arbeitszimmer seines Vaters gewesen. Der mächtige Schreibtisch stand immer noch am Fenster. Die Schubladen waren herausgezogen und leer. Die Bücherregale ausgeräumt, der Boden mit Papierfetzen bedeckt. Er ging weiter. Das Badezimmer. Das Wohnzimmer. Hier hatten sie abends immer zusammen gesessen, hier wurde Besuch empfangen. Am Ende des Flurs waren die Türen zum Elternschlafzimmer und zum Kinderzimmer.
Er betrat sein altes Zimmer und sah sich um. Der Raum war völlig leer. Das Mondlicht beschien ein kleines Viereck. Hier hatte er geschlafen, hier hatte er geträumt, hier hatte er sein erstes Buch gelesen. Es war ganz still. Er trat ans Fenster und blickte hinaus. Nichts zu sehen, der Wald lag in völliger Finsternis. Dann drehte er sich um. Eine Frau stand vor ihm. Seine Mutter. Er ging auf sie zu, doch sie schüttelte nur lächelnd den Kopf. Einige Zeit später verließ er das Haus. Er ging durch den Wald den Berg hinunter. Als er sich ein letztes Mal umdrehte, sah er die Flammen. Die alte Ruine brannte lichterloh.
P.S.: Tracy Chapman singt “Baby Can I Hold You”. http://www.youtube.com/watch?v=wzIE3mRFypQ

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