Dienstag, 21. Oktober 2014

Krokodile und Kunstleder

Heute Nacht habe ich geträumt, ich würde in einem Forschungsinstitut am Schreibtisch sitzen und an einem Aufsatz über das Thema Einzelhandel schreiben. Den Beschäftigten würde es immer schlechter gehen, schrieb ich, sie würden weniger verdienen, ihre Arbeitsplätze wären nicht mehr sicher, aus festen Vollzeitstellen würden prekäre Mini-Jobs und der Online-Handel wäre eine ernste Bedrohung für die Geschäfte. Ich schreibe mit einem Stift in ein Notizbuch, dazu fertige ich kleine Zeichnungen an, beispielsweise von einem Lastwagen oder das Porträt eines Einzelhändlers in einem weißen Kittel. Ich erinnere mich an den Vergleich, den ich für die Verschlechterung der Situation heranziehe. Wer glaube, die Entwicklung sei harmlos, der glaube auch, Krokodile und Kunstleder seien gleich harmlos, weil man aus beiden Handtaschen herstellen könne. Der Abteilungsleiter kommt herein, um meine Arbeitsfortschritte am Text zu kontrollieren, und ich sage ihm, dass ich den Institutsleiter sprechen möchte. Mein Vater sei im Krankenhaus und ich solle seine Abwesenheit entschuldigen. Er arbeitet auch an diesem Institut und wird nächste Woche wieder kommen. Der Institutsleiter sei in einer Besprechung, sagt mir der Abteilungsleiter, ich solle es später versuchen. Ich arbeite weiter und bald darauf kommt der Institutsleiter in unser Büro. Ich komme nicht dazu, ihm die Botschaft meines Vaters zu überbringen, denn die Kollegen schleimen sich mit Belanglosigkeiten beim Chef ein, und ich bin zu höflich, um die vorlaute Bande zu unterbrechen.
Tatsächlich habe ich gestern Nachmittag meinen achtzigjährigen Vater in der Mainzer Uni-Klinik besucht. Er hat eine Infektion am rechten Ohr und bekommt mehrmals am Tag Infusionen mit Antibiotika. Er ist seit drei Tagen hier und muss vermutlich noch bis Morgen bleiben. Wir unterhalten uns lange, er sitzt am Tisch auf einem Stuhl, neben ihm ein Ständer mit dem Infusionsbeutel, dessen Schlauch in seinen linken Unterarm führt. Er nimmt die ganze Angelegenheit mit einem Humor, den man früher als unverwüstlich bezeichnet hat. Sein rechtes Ohr war noch vor einigen Tagen angeschwollen und dunkelrot, „da hätte ich mich im Frankfurter Zoo als Elefant melden können“. Die Krankenschwester kommt herein und bemerkt, dass sich die Nadel gelöst hat und die Infusionsflüssigkeit auf dem Boden schon eine kleine Pfütze gebildet hat. Sie fragt ihn in diesem halb militärischen, halb freundlichen Tonfall des Krankenhauspersonals, ob er nichts gemerkt habe, und er antwortet lachend, er merke schon lange nichts mehr. Eine junge blonde Ärztin kommt und soll eine neue Nadel in den Unterarm stechen. Sie ist nervös und Blut läuft auf die Hose meines Vaters, es tropft auf den Boden. Sie entschuldigt sich mindestens ein Dutzend Mal und mein Vater sagt nur: „Da sehen Sie wenigstens, dass noch was drin ist.“ Obwohl ich keine Nadeln sehen kann, drehe ich mich doch um und sehe die Blutlache auf dem Boden. Die Ärztin wirft ein Handtuch auf den Boden und wischt den dunkelroten Fleck mit dem Fuß auf. Als sie gegangen ist, erzählen mein Vater und sein etwa gleichalter Zimmergenosse, dass die Uni-Klinik eben ein Krankenhaus sei, in der junge Mediziner üben können, und garnieren die Erzählung mit Anekdoten voller Schmerz und Blut. Die Ärztin habe zum Beispiel keine Handschuhe getragen und sei mit seinem Blut in Berührung gekommen, stellt mein Vater sachlich fest.
Der Zimmergenosse sitzt die ganze Zeit in einem OP-Kittel am Tisch. Er wartet seit dem Morgen darauf, abgeholt zu werden. Er röchelt entsetzlich und redet nur flüsternd, um nach jedem Satz mit einem schrecklichen Fauchen tief Luft zu holen. Er soll am Kehlkopf operiert werden. Nach einem Schlaganfall ist er halbseitig gelähmt und kann sich kaum bewegen. Dann kommt endlich eine Krankenschwester zu ihm. Sie sagt ihm, seine Operation sei auf den nächsten Tag verschoben worden, weil noch ein Notfall dazwischen gekommen sei. Da er nicht mehr nüchtern bleiben müsse, bringe sie jetzt sein Mittagessen, das man für ihn aufgehoben habe. Er hat acht Stunden umsonst gewartet und bekommt einen ganzen Tag neuer Angst geschenkt. Unendlich langsam schleicht er ins Badezimmer, um sein Gebiss einzusetzen. Dann setzt er sich wieder auf seinen Platz, auf dem inzwischen das Tablett mit Hackbraten und Reis steht. Tief über den Teller gebeugt, isst er mit seiner gesunden rechten Hand.
Ich bin über zwei Stunden in diesem Krankenzimmer, obwohl ich mich nicht wohl fühle. Krankenhäuser sind schreckliche Orte. Die Räume und Möbel sind so unpersönlich, als wäre man in einer Fabrikhalle. Es riecht entweder nach Sauberkeit oder nach Krankheit, aber niemals wie Zuhause. Aber ich weiß, wie sehr man sich über Besuch freut. Ich selbst war im vergangenen Jahr sechs Wochen in drei verschiedenen Kliniken, davon drei Tage auf einer Intensivstation. Mein Vater bringt mich noch bis zur automatischen Tür am Klinikausgang. Auf die Straße würde er mit seinen Hausschuhen nie gehen. Wir geben uns feierlich die Hand, was wir sonst nie machen, da wir uns ja mehrmals in der Woche sehen. Es ist eine merkwürdig melancholische Situation, so als würden wir uns für eine lange Zeit voneinander verabschieden.
Talk Talk – Happiness Is Easy. http://www.youtube.com/watch?v=LyvKDDfTvks

2 Kommentare:

  1. Hätteste mal Zivildienst im Krankenhaus gemacht, und nicht in der Kirche !
    Dann wüsstest Du, daß Du niemals krank werden darfst.
    NIEMALS.
    Und was glaubst Du wie es aussieht wenn Wir beide mal die 70 erreichen ?
    Ho Ho. Dafür reicht selbst Deine Phantasie nicht aus.
    Schätze ,die schleusen uns in speziellen Gitterboxen durch automatische Waschstraßen.
    Ein Billigjobber macht mit einem Dampfstahler die Feinarbeit.
    Danach wird eine organische Schicht, wärmedämmend und wasserlöslich, aufgetragen, damit Wir "angezogen" sind.
    Das ganze wird dann in 2 oder 3 Tagen mitsamt der ganzen Kotze und Scheiße wieder runtergewaschen.
    So in etwa.............

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    1. Ich habe ein Jahr Zivildienst auf der Pflegestation eines Altersheims gemacht, bevor ich zur Kirche gewechselt bin. Ich habe also schon einen gewissen Einblick in die Atmosphäre und die Arbeit in diesem Bereich gehabt. Und die Zukunft kennen wir beide nicht. Ich schätze mal, dass viele Migranten mit geringen Löhnen die Jobs machen werden. Deutsche Akademiker kontrollieren und verwalten die Pflegeheime ...

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