Samstag, 6. Dezember 2014

Bonettis Bergwelt

Der Plot zu einem Spielfilm war Bonetti auf dem Weg zum Minigolfplatz eingefallen. Er war einfach und genial. Der Film zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der deutschen Einheit. Liebe und Politik, Drama und Geschichte. Erste Szene: Bornholmer Straße am 9. November 1989, die Nacht der Grenzöffnung. Ein Ehepaar aus der DDR übertritt die Grenze. Sie kommt nicht mehr zurück, er geht wieder nach Hause. Der Kontakt bricht ab, dann kommt die Wirtschafts- und Währungsunion am 1.Juli 1990. Die Frau kehrt in den Osten zurück und übernimmt eine Bankfiliale in Berlin. Sie trifft ihren Mann bei einer Weiterbildung wieder, sie ist nun seine Vorgesetzte und erklärt ihm die neue Welt. Sie sind sich fremd geworden, aber es gibt ein Happy End. Es kommt zur privaten Wiedervereinigung am 3.Oktober 1990. Feuerwerk, Abspann.
Verkauft sich praktisch von selbst, dachte Bonetti. Und tatsächlich hatte er bald darauf den Vertrag mit der Produktionsgesellschaft Degeto in der Tasche. Abgabetermin für das Drehbuch ist Ende Februar, im Mai soll gedreht werden. Ausstrahlungstermin ist der 3.Oktober 2015. Hauptabendprogramm der ARD. Geplanter Filmtitel: „Einheit der Herzen“. Ganz großes Tennis. Der ultimative Film zur deutschen Wiedervereinigung. Bonetti sieht sich schon auf dem roten Teppich bei der Filmpremiere in Berlin. Er sieht sich, wie er bedeutende Filmpreise entgegennimmt und die Glückwünsche eines sichtlich gerührten Bundespräsidenten, der immer wieder nur das Wort „Freiheit“ stammelt.
Für die Arbeit am Drehbuch zieht sich Andy Bonetti an einen seiner liebsten Orte zurück: Sils im Engadin, Kanton Graubünden, in einem Schweizer Hochgebirgstal gelegen. Ein kleines Dorf mit wenigen hundert Einwohnern. Die Häuser haben dicke Wände und kleine Fenster, die Gasthöfe schließen früh und die Menschen sind schweigsam. Hier haben schon andere Geistesgrößen wie Thomas Mann oder Friedrich Nietzsche, Hermann Hesse oder Thomas Bernhard, Robert Musil oder Kurt Tucholsky Texte für die Ewigkeit geschrieben. In Sils findet man die Ruhe, um an den großen Themen arbeiten zu können.
In der ersten Woche geht er nur am Silser See und im friedhofsruhigen, autofreien Fextal spazieren, immer wieder sitzt er am Ufer der Halbinsel Chasté und denkt nach. Der Himmel ist strahlend blau, das Herbstgold der Lärchen ist geradezu leuchtend. Er genießt die Gastfreundschaft des vorzüglichen Hotels „Waldhaus“ und sammelt seine geistigen Kräfte für den intellektuellen Kraftakt. Dann kommen die ersten Anrufe der Produktionsgesellschaft.
Montag: „Bonetti, Menschenskind! Alles klar bei Ihnen in der Schweiz? Wir haben Veronica Ferres für die weibliche Hauptrolle bekommen. Ich weiß, Sie hätten lieber die Furtwängler gehabt, aber die hat im Frühling überhaupt keine Zeit. Tatort, verstehen Sie? Aber die Ferres kann die Powerfrau aus dem Westen sicher auch überzeugend spielen. Die ist doch mit diesem widerlichen Geldsack aus Hannover zusammen. Die kann den ganzen Bank-Background überzeugend rüberbringen, finden Sie nicht auch? Ach ja, und noch was: Franziska van Almsick wird eine Nebenrolle spielen. Die Tochter der beiden, die damals im Osten geblieben ist. Das macht die ganze Sache doch noch melodramatischer. Können Sie nicht irgendwie das Thema Schwimmsport in das Drehbuch einbauen? Da fällt Ihnen doch sicher was ein. Und wenn Sie schon den DDR-Sport reinbringen – Doping ist immer ein dankbares Thema. Kommt beim Publikum gut an. Vielleicht kann die Tochter wegen der vielen Anabolika keine Kinder mehr bekommen. Denken sie doch mal in diese Richtung.“
Dienstag: „Bonetti, gut das ich Sie erreiche. Ich habe mit dem Chefredakteur gesprochen. Wir können nicht in Berlin drehen. Das wird zu teuer. Wir drehen in Breslau. Das hat inzwischen einen polnischen Namen, aber es sieht aus wie das alte Berlin. Hinreißend verkommen, wie es der Prenzlauer Berg vor der Wende gewesen sein muss, als dort nur Künstler gehaust haben. Da gibt es Straßen, die sehen noch richtig nach DDR aus, nach Verfall. Ich meine das Berlin, bevor es von irgendwelchen schwäbischen Investoren zu Tode saniert wurde. Und die Arbeit in Breslau ist für uns wesentlich günstiger. Die Drehkosten halbieren sich praktisch. Wir drehen höchstens die Szene mit der Grenzöffnung in Berlin. Siedeln Sie die Story also im Prenzlauer Berg an.“
Mittwoch: „Bonetti! Seit Stunden versuche ich, Sie zu erreichen. Können Sie bei Ihren Spaziergängen am Genfer See – nein, wo sind Sie? – am Silser See, egal, können sie nicht Ihr Handy mitnehmen? Passen Sie auf, ich habe großartige Neuigkeiten. Wir werden Götz George für die Rolle des Ehemanns bekommen, das ist so gut wie sicher. Können Sie die Rolle also ein wenig emotionaler, hemdsärmeliger anlegen, verstehen Sie? George wirkt als weinerlicher Ostversager nicht glaubwürdig. Geben Sie der Figur richtig Power! Stichwort Schimanski, okay?“
Donnerstag: „Ach, lieber Bonetti, schön, dass Sie gleich ans Telefon gegangen sind. Schlechte Nachrichten. Die Intendanten der ARD haben bei einer Konferenz ganz klar gemacht, dass nicht ständig die Banken durch den Kakao gezogen werden sollen. In der Richtung wurde in den vergangenen Jahren schon zu viel produziert. Überlegen Sie sich doch mal ein anderes Milieu für die Geschichte. Wie wäre denn was mit Krankenhaus? Ärzte kommen immer gut. Die Hauptdarstellerin geht als Ärztin in den Westen und übernimmt dann eine marode Ostklinik, wo ihr Mann als Krankenpfleger arbeitet. Oder Landwirtschaft? Ach nee, das passt nicht zu Berlin und dem Mauerfall. Oder sind damals auch in der Provinz die Grenzen geöffnet worden? Recherchieren Sie mal, Bonetti! Und noch was: Es ist jetzt schon fast Weihnachten und wir haben hier immer noch keinen Entwurf von Ihrem Drehbuch. Nur das Exposé vom September. Schicken Sie mir irgendwas! Sie wissen doch, wie das ist. Die da oben wollen irgendwas sehen, also müssen wir Ihnen irgendwas geben.“
Freitag: „Passen Sie auf, Bonetti. Veronica Ferres und Götz George können wir vergessen. Da kommen wir mit dem Budget nicht hin. Wir müssen bei den Gagen sparen. Und die ganzen Schwimmbadszenen sind auch gestrichen. Frau van Almsick können wir uns auch nicht leisten. Aber wir haben Christoph Maria Herbst. Den ‚Stromberg‘, verstehen Sie? Schreiben Sie das ganze Drehbuch auf Versicherungsbranche um. Für die weibliche Hauptrolle sind Cosma Shiva Hagen und Yvonne Catterfeld angefragt. Legen Sie sich beim Schreiben also auf keine bestimmte Person fest. Alexandra Maria Lara kriegen wir auf keinen Fall, Bonetti! Egal, wie toll Sie die Frau finden. Die Grenzöffnung drehen wir jetzt in Rumänien. Sagen Sie, muss das eigentlich auf einer Brücke stattfinden?“
Samstag: „Bonetti, regen Sie sich nicht auf. Ich find’s doch auch Scheiße. Aber so ist das Business. Von ganz oben haben wir die Anweisung, dass sich die ganze Sache auf einem Schiff abspielen soll. Die haben da irgend so einen Deal mit einer Kreuzfahrtgesellschaft gemacht. Außerdem geht ‚Das Liebesschiff‘ auf SAT 1 gerade quotenmäßig echt durch die Decke. Wir können da richtig Geld sparen. Alles noch viel billiger als in Breslau. Also, Bonetti, schreiben Sie mit: Die Hauptdarstellerin ist Kapitänin bei der DDR-Staatsschiffahrt. Muss man mal genau recherchieren, wie das damals im Osten war. Sie haut mit einem Schiff in den Westen ab. Nach Travemünde. Wir haben mit dem Bürgermeister gesprochen. Der Außendreh an der Ostsee kostet uns keinen Cent, selbst die Unterkunft wird uns gestellt. Was sagen Sie dazu? Super, oder? Aber der Abschied findet jetzt am Hafen statt. Vergessen Sie die Bornholmer Straße. Machen Sie irgendwas mit Rügen oder Usedom. Da gibt’s doch schöne Ecken. Und noch eine gute Nachricht: Wenn die Sache quotenmäßig läuft, können wir sogar noch eine Fortsetzung machen. Ich habe einen guten Mann in meiner Abteilung, der Ihnen dann beim Drehbuch ein bisschen zur Hand gehen kann, damit wir hier richtig Zug in die Sache kriegen.“
Sonntags warf Bonetti sein Handy in den See und reiste ab. Er flog nach Amerika und zog sich für die Arbeit am Drehbuch in ein abgelegenes Hotel in den Bergen zurück, das den ganzen Winter leer stand.
Abends saß er an der Bar des Overlook-Hotels in Colorado. Von den Alpen in die Rocky Mountains.
„Guten Abend, Mister Bonetti.“
„Guten Abend. Haben Sie einen Bourbon für mich?“
„Aber selbstverständlich. Darf es ein Four Roses sein?“
„Gerne.“
Aber der Geist hatte nur ein leeres Glas auf den Tresen gestellt und so war Bonetti wieder gegangen. In Zimmer 237. Dort hatte er die ganze Nacht den Satz “All work and no play makes Andy a dull boy“ in sein Notizbuch geschrieben. Immer und immer wieder.
Im Dokumentarfilm „Die andere Seite des Abgrunds“ von Yves DeLorean, der den langwierigen und schmerzhaften Prozess der Emanzipation Andy Bonettis von der deutschen Fernsehindustrie eindrucksvoll schildert, wurde die Szene mit Jack Nicholson nachgespielt.
„Genauso ist es gewesen. Das habe ich mir nicht ausgedacht. Oder sehe ich aus wie jemand, der wirres Zeug redet?“ Bonetti rollte wild mit den Augen und trank das Glas in einem Zug leer.
Opus III - It's A Fine Day. https://www.youtube.com/watch?v=CCVhv-425fE

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