Freitag, 9. Januar 2015

Fender

Motörhead - Ace of Spades. https://www.youtube.com/watch?v=vj4vQCA0fo4
Fender. Wer denkt bei diesem Namen nicht an E-Gitarren und Verstärker? Ich denke an meinen alten Freund Thomas Fender zurück. Fender war ein Idealist. Er konnte sich maßlos begeistern und jeden Anwesenden mit seiner Begeisterung anstecken. Ein mitreißender Kerl, der dröhnend lachen und plötzlich losbrüllen konnte. Voller Energie. Er vibrierte vor Abenteuerlust, er redete, redete, redete und konnte keine Minute stillsitzen.
Ich habe keine Ahnung mehr, wie ich ihn kennengelernt habe. Irgendjemand aus unserer Clique hatte ihn mitgebracht. Diesen dünnen drahtigen Kerl mit den schulterlangen blonden Locken und dem Dauergrinsen. Er war aus Bingen, nicht weit von unserer kleinen Heimatstadt Ingelheim entfernt. Er konnte saufen wie ein Loch und ging keiner Droge aus dem Weg. Er nahm vom Leben mit, was er kriegen konnte.
Fender war Musiker und Kommunist. Er war Sänger in einer Band, die sich seiner Meinung nach auf „Speed Fucking Metal“ spezialisiert hatte. Ich habe ihn nur einmal live auf der Bühne erlebt. Es war unglaublich laut, die Musik war unglaublich schnell und er hat die ganze Zeit irgendetwas ins Mikrophon gebrüllt, das keiner verstanden hat. Im Publikum langhaarige Headbanger mit zerfransten Kutten voller Totenkopf- und Eintracht Frankfurt-Aufnähern, die wild den Kopf schüttelten. Ich glaube, die Band kam mit zwei statt der üblichen drei Akkorde aus.
Er war Mitglied der SDAJ, der sozialistischen deutschen Arbeiterjugend, und hatte auf jede Form von Ausbeutung, eigentlich auf jede Art von Arbeit einen tiefen Hass. Soweit ich mich erinnern kann, hatte er einen Hauptschulabschluss. Von was er lebte, wusste ich nicht. Einmal saßen wir zu dritt in meinem Zimmer, Fender, die Trinkmaschine und ich. Meine Mutter saß mit ihrem Freund im Wohnzimmer und hatte irgendwann die Idee, dass man doch gemeinsam trinken könnte. Also schleppten wir meinen Bitburger-Kasten ins Wohnzimmer und fingen an, uns zu unterhalten. Nach zehn Minuten brüllte Fender meine Mutter und ihren Freund an, sie wären miese Spießerschweine und Teil des „Fascho-Systems“, in dem der Mensch versklavt würde. Meine Mutter und ihr Freund waren total erschrocken. Sie arbeitete als Putzfrau, er als Buchhalter in einem Autohaus.
Aber so war Fender. Überall lauerte der Feind. Irgendwann hatte er dann eine eigene „Wohnung“. Es war ein Zimmer im Keller eines Mehrfamilienhauses, Klo auf der anderen Seite des Gangs. Dort rauchten wir das mieseste Gras des Universums, aber Fender schrie plötzlich „Ich hab Visionen!“ Und so, wie er die Augen aufriss, glaubte er vermutlich selbst daran. Später hat dann die Polizei wegen nächtlicher Ruhestörung der Party ein Ende gemacht. Irgendein Spießer hatte ihn an das System verraten. Immer das gleiche! Ein anderes Mal hatte er behauptet, er hätte Tollkirschen gefunden, und wir machten uns auf einen Samstagabend im Drogenrausch gefasst. Fender kam wie erwartet drauf wie tausend Russen, wir anderen merkten nichts. Wie auch? Es waren Wildkirschen. Für uns war es ein mäßig lustiger Obstabend, aber Fender war in voller Fahrt.
Dann hatte er seine erste Freundin. Sie fuhren nach Jugoslawien in den Urlaub. Voller Stolz zeigte er mir die Nacktfotos, die er von ihr im Wald gemacht hatte. Ich sah ein Mädchen mit langen dunklen Haaren, die auf einem Baumstumpf saß, sie hatte kleine spitze Brüste und einen gigantischen rabenschwarzen Busch bis zum Bauchnabel. Ich habe nie wieder in meinem Leben so viele Schamhaare gesehen. Ihr Gesicht wirkte traurig und einsam. Aber Fender hat laut gelacht und gestrahlt. Es war der beste Urlaub seines Lebens und die tollste Frau der Welt. Drunter hat er es nie gemacht.
Es muss 1986 gewesen sein, als ich in meiner damaligen Stammkneipe, dem Pony Express in Ingelheim, von seinem Tod erfahren habe. Er war keine zwanzig Jahre alt geworden. Hatte sich einfach vor den Zug geworfen. Niemand kannte den genauen Grund. Kein Abschiedsbrief, nichts. Wir waren alle ratlos. Fender – ein Leben wie eine Silvesterrakete. Ein Vollblut-Rocker und Klassenkämpfer, ein Freund, auf den man sich hundertpro verlassen konnte. Wie viele Fenders haben wir auf unserem Weg zurückgelassen?
George Shearing - Canadian Sunset. https://www.youtube.com/watch?v=W1UZZNmYanc

2 Kommentare:

  1. Zu der Story wäre mir nur der twisted firestarter von the prodigy eingefallen.
    Freiwillige Selbstmörder fallen mir grad keine ein. Aber Selbstentleiber, die ihre Jugend an einem Baum ließen kenn ich genug.

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  2. Firestarter hatte ich schon am 29.6.2014 als Musikstück. Ich kenne aus meiner Jugend nur Selbstmörder und Krebstote, bei einem Unfall ist keiner gestorben.

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