Mittwoch, 30. September 2015

Ich bin die Bank

„Es ist die permanente Wiederholung, die uns abstumpft. Wir sind zu müde, um die Alternativen zu erkennen.“ (Lupo Laminetti)
Haben Sie noch Vertrauen in die Banken? Sehen Sie, die Mafia auch nicht. Das Finanzsystem der Weltwirtschaft funktioniert wie ein Ponzi-System. Aus dem Schneeballsystem ist jedoch seit der Finanzkrise 2008 mit der Nullzinspolitik und dem Quantitative Easing der Notenbanken ein Lawinensystem geworden. Bargeld lacht, sage ich nur. Ich arbeite jetzt als Banker für die Mafia.
Mein Erfolgsrezept: Niemand rechnet damit, dass ein so unglaublich harmloser und liebenswürdiger Blogger aus Schweppenhausen in der hiesigen Unterwelt ein großes Tier ist. Haben Sie sich nie gefragt, woher ich die Zeit nehme, jeden Tag scharfsinnige Analysen oder wahlweise Weltliteratur zu schreiben, ohne einen Cent dafür zu verlangen? Wie ich mir diesen luxuriösen Lebenswandel (Duplo-Box mit 18 Kugeln im Lauf direkt neben dem Notebook, Baby!) überhaupt leisten kann, ohne einer geregelten sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nachzugehen?
Ich arbeite für die Mafia. Und das läuft so:
Das Telefon klingelt. Ich drücke eine Taste und lausche.
„Aloha, Meister. Benny am Apparat.“
„Mensch, Benny, lange nichts mehr von dir gehört“, lüge ich gutgelaunt.
„Ja, ich bin in der Gegend. Wir könnten mal wieder ein Bierchen zusammen trinken gehen.“
„Oder zwei oder drei“, antworte ich und lache.
„Es dürfen auch gerne zehn sein.“
Ich mache mir eine Notiz. „Wie immer in unserer Stammkneipe?“
„Wie immer. Passt es dir am Mittwoch um acht Uhr?“
„Alles klar.“
„Alles klar.“
Ich weiß Bescheid. Zehn Riesen. Und nicht am Mittwoch, sondern am Donnerstag. Und nicht um acht Uhr, sondern um zehn Uhr. Das ist ein Code, Mann! „Eine Flasche Whisky“ bedeutet übrigens ein Kilo Gold in Form von dreißig Krügerrandmünzen, eine „halbe Flasche“ ist ein halbes Kilo.
Mein Haus ist meine Bank. Es ist gut gesichert, denn es befinden sich wahre Schätze in seinem Innern. Die schwere Tür ist mit zwei Sicherheitsschlössern ausgestattet und die Hintertür zum Garten ist ebenso vergittert wie alle Fenster.
Für Amateur-Einbrecher enthält mein Haus einen teuren Fernseher, ein Notebook und eine Kamera. In der obersten rechten Schublade meines Schreibtisches liegen gut sichtbar zehn Fünfzig-Euro-Scheine. Mit dieser Beute sollten sie zufrieden sein. Für Profi-Einbrecher gibt es noch einen Safe hinter dem Landschaftsgemälde im Wohnzimmer, in dem meine alten Schulzeugnisse und fünftausend Euro in bar liegen. Peanuts.
Den eigentlichen Tresorraum erreicht man über eine Geheimtür, die sich im Keller in einer Werkstatt befindet, deren heilloses Durcheinander ich liebevoll eingerichtet habe. Ich drücke auf den Knopf meiner kleinen Fernbedienung, die ich am Schlüsselbund habe, und lautlos gleitet ein Regal voller alter Farbtöpfe und Werkzeugen zur Seite. Es ist ein ehemaliger Schutzraum, zwanzig Quadratmeter groß, der mit Regalen voller Metallkisten gefüllt ist.
In den Kisten ist – gut vor Hitze, Feuchtigkeit, Motten und Nagetieren geschützt – Bargeld. Insgesamt sind es zwischen fünfzig und hundert Millionen Euro und Dollar. Dazu Gold, Diamanten und Schweizer Franken. Auf den Kisten stehen Namen, die nur mir etwas sagen können. „Benny“ ist zum Beispiel ein schwedischer Waffenhändler, der schon seit vielen Jahren meine Dienste in Anspruch nimmt. Sein wirklicher Name ist unwichtig, aber auf seiner Kiste steht „Elky“. Die albanische Mafia läuft unter „Skanderbeg“ und so weiter.
Meine persönliche Altersvorsorge kann übrigens jeder sehen. Sie ist so offensichtlich, dass niemand sie jemals stehlen wird. Die kunstvoll verschnörkelten Gitter vor meinen Fenstern sind aus purem Gold, das weiß lackiert wurde. Selbst ein SEK oder die Steuerfahndung würde sie übersehen.
Ich nehme also Bennys Geld und treffe mich am Donnerstagabend mit ihm in der Kneipe „Zur silbernen Flipperkugel“ in der Altstadt von Bad Kreuznach. Der Laden ist garantiert bullen- und spitzelfrei. Ich kenne den Wirt. Hat zehn Jahre wegen schwerem Raubüberfall gesessen. Hakan ist ein breitschultriger Hüne mit schwarzem, straff zurückgekämmtem Haar und einem Vollbart. Über seinen riesigen Bauch hatte er eine weiße Schürze gebunden.
Ich setze mich mit Benny an einen Tisch im hinteren Bereich und wir bestellen zwei Bier. Quatschen ein bisschen über die Geschäfte und das Leben. Ich lasse die Sporttasche mit dem Geld unter dem Tisch stehen, und Benny gibt Hakan beim Rausgehen fünfzig Euro. Es ist wirklich einfach.
Einzahlungen sind noch einfacher: Treffpunkt Autobahnraststätte Waldlaubersheim. Ich gehe durch die Weinberge hinter meinem Haus zur Rasta. Auf dem Parkplatz steige ich zu meinem Kunden auf den Rücksitz seines Wagens. Alles ist in einem Rucksack, die Einzahlung und meine Bankgebühr. Drei Prozent. Einmalig. Keine weiteren Kosten. Es sind etwa dreißig Minuten zu Fuß, und ich bin wieder in Schweppenhausen.
Rod Stewart - I Dont Wanna Talk About It. https://www.youtube.com/watch?v=U-uAdxpj-KY

Dienstag, 29. September 2015

Draußen

„Es ist Trägheit, was uns an peinliche Zustände kettet.“ (Novalis)
Golden und weiß leuchtete der Birkenwald in der Herbstsonne. Er wäre jetzt gerne dort gewesen. Es war ein Fehler gewesen, der Einladung zu folgen. Viel schöner wäre es, jetzt dort allein durch den Wald zu laufen, die Sonne auf dem Gesicht, das weiche Gras unter den Füßen. Er stellte sich den Gesang der Vögel vor. Stattdessen hörte er irgendein Klassikstück, das er nicht kannte.
„Was gibt es denn dort draußen zu sehen?“ fragte ihn Dolores Streitwieser, die unbemerkt neben ihn ans Fenster getreten war.
Sie lächelte ihn an und er lächelte automatisch zurück.
„Nichts“, sagte er. „Ich habe nur nachgedacht.“
„Ihr jungen Dichter“, sagte sie nachsichtig und lächelte wieder. „Wollen Sie uns nicht etwas Gesellschaft leisten?“
Sie trug ein schwarzes Abendkleid und eine Perlenkette. Dolores Streitwieser war das Zentrum dieses „Salons“, der einmal im Monat in der Villa des Bauunternehmers Streitwieser stattfand. Ihr Mann zog es schon seit Jahren vor, an diesen Tagen mit guten Freunden in seinem Loft in der Innenstadt Whisky zu trinken und über die Kunstbeflissenheit seiner Gattin zu lästern.
Seit seinem Erfolg mit „Die Farben der Enttäuschung“ und seinem Auftritt in der Fernsehtalkshow von Marco Schlanz war er zur literarischen Hoffnung seiner Stadt avanciert. Es war eine Ehre, als Gast in diesen Salon eingeladen zu werden. Sein Verlag hatte ihn ausdrücklich zu dieser Chance beglückwünscht.
Drüben am Konzertflügel sah er Slushy, einen berühmten Komiker, der gerade eine Parodie auf Helene Fischer zum Besten gab. Eine Gruppe von älteren Menschen mit Champagnergläsern umstand ihn und versorgte ihn regelmäßig mit zustimmendem Gelächter.
Frau Streitwieser führte ihn zu ihren beiden besten Freundinnen, Lara Joy Trutschnig und Tiffany Holzgruber, die ebenfalls in eleganter Abendgarderobe erschienen waren, obwohl es noch heller Tag war. Sie ließ ihn mit den beiden Frauen allein und wandte sich der nächsten Gruppe zu.
„Also Ihr Roman ist ja wirklich höchst spannend“, begann Frau Trutschnig. „Wir haben schon überlegt, ob Sie da ein Sittengemälde unserer Stadt gezeichnet haben.“
Frau Holzgruber kicherte. „Also dieser Figur der Ricky Kleinholz, diese Studienabbrecherin, die auch noch schwanger wird – das ist doch die Tochter vom alten Dorfmoser, oder? Das ist doch original die Verena Dorfmoser, die inzwischen in Hamburg lebt, habe ich Recht?“
Während Frau Trutschnig und Frau Holzgruber in wieherndes Gelächter ausbrachen, betrachtete er die Gastgeberin, die wenige Meter weiter mit Mortimer und Violet St. Clair, einem Bankier aus London und seiner Gattin, in feinstem Englisch parlierte.
Dann öffnete sich die Tür des Salons und Lacrosse Günzlinger betrat dem Raum. Er trug eine enge schwarze Hose und ein weißes Hemd, das weit aufgeknöpft war. Blonde Locken umspielten sein lachendes Gesicht. Ein Raunen ging durch die Menge und alle Köpfe wandten sich ihm zu. Lacrosse Günzlinger, der berühmteste Maler der Stadt. Zurück von einer Ausstellung in New York. Sechsstellige Beträge wurden für seine Porträts gezahlt. Es hieß, das MoMA erwäge den Ankauf seiner Werke.
Die beiden Frauen ließen den jungen Dichter einfach stehen und gingen ungeniert auf den Maler zu. Eine Traube von neugierigen Menschen bildete sich um Günzlinger, und Frau Streitwieser eilte herbei, um ihren neuen Gast spielerisch in Schutz zu nehmen.
„Bedrängen Sie unseren lieben Freund doch nicht so, meine Damen! Meine Herren, ich bitte Sie!“
Und alle lachten ganz aufgeregt. Sie waren alle erfolgreich, vermögend. Sie waren ehrgeizig. Sie waren Gewinner. Aber sie wirkten auch unter all dem Gelächter und den wechselseitig gemachten Komplimenten merkwürdig angespannt und freudlos. Sie belauerten einander, sie konkurrierten unaufhörlich.
Er hatte den Eindruck, als seien sie alle Raubtiere. Und die wenigen blutjungen Frauen, die hier mit Tabletts voller Champagnergläser und Häppchen zwischen ihnen von Grüppchen zu Grüppchen liefen, erschienen ihm wie Schafe. Er hätte sich nicht gewundert, wenn irgendeiner dieser Wölfe und Hyänen sich brüllend auf eine der Kellnerinnen gestürzt und ihr die Kehle durchgebissen hätte.
Die Party wäre sicher weiter gegangen.
Kasabian - Club Foot. https://www.youtube.com/watch?v=nOSuObRNBUA

Montag, 28. September 2015

Blogstuff 10 - Catcontentredundanz

„Ich habe Geisteswissenschaften studiert. Das geht nie ganz weg.“ (Lupo Laminetti)
Mondfinsternis! Habe gerade in Unterhosen auf der Terrasse gestanden und den rostig-trüben „Blutmond“ bzw. „Super-Blutmond“ (BILD) gesehen. Großartiges Gefühl.
Im antiken Jerusalem hat man sie noch gekannt: die Propheten. Aus der Einsamkeit der Wüste oder des Gebirges waren sie in die Stadt heimgekehrt, nachdem sie monatelang in der Stille Zwiesprache mit Gott gehalten hatten. Dort standen sie in ihren einfachen langen Leinengewändern, ungegürtet und unrasiert, zwischen den Ständen der Handwerker und Händler, an denen sich das neugierige Volk drängte, und verkündeten ihre Botschaft. Noch in den achtziger Jahren habe ich solche Menschen an der Gedächtniskirche in Berlin erlebt. Wo sind die Propheten heute? Sind die alle in Therapie? Oder schreiben sie inzwischen Leserkommentare im Internet?
Burn Out. Früher nannte man das „Heimatschuss“. Du hälst es an der Arbeitsfront nicht mehr aus, du willst weg. Dieser Hundert-Meter-Lauf, der nie aufhört. Aber eine Kündigung kommt nicht in Frage. Das Kind, das Haus, das Auto. Also: Burn Out. Der moderne Fluchtweg. Es sind Millionen auf der Flucht. Was könnten diese Millionen Menschen bewirken, wenn sie die Laufrichtung ändern würden? Wir haben es verlernt und vergessen. Niemand greift mehr an.
Sigmar Gabriel, der viertklassige Vorsitzende einer drittklassigen Partei einer zweitklassigen Republik. Fleischige Nase, Falten wie ein alter Indianerhäuptling, böse kleine Augen, immer irgendwie sonnenbankgebräunt. Zuständig für die Genehmigung der deutschen Waffenexporte, die gerade ein Rekordniveau erreichen. Waffen = Krieg = Flüchtlinge. Willy Brandt hätte es noch gewusst.
Du nimmst ein altes Buch aus dem Regal, und es fällt ein Lesezeichen heraus. Eine Theaterkarte von 1988. Du kannst dich an das Stück gar nicht mehr erinnern, aber an den Menschen, mit dem du dort gewesen bist.
Früher konnte ein Bauer auf dem Kutschbock einschlafen. Die Pferde haben auch ohne ihn den Weg nach Hause gefunden. Mit der modernen Technik des selbstfahrenden Autos sind wir im Jahre 2015 wieder genauso weit. Der Fortschritt feiert Triumphe.
"Das Boot ist voll" ist die moderne Variante von "Volk ohne Raum".
„Tiere haben keine Kaffeemaschine, weil es im Wald keine Steckdosen gibt.“ (Lothar Mätthaus)
Was wir nicht wissen wollen, Teil 678: „Bei der ‚arabischen Brille‘ handelt es sich um eine Sexualpraktik, bei der der Mann der Frau beim Oralverkehr seine Hoden auf die Augen legt.“ (www.mundmische.de) Aber das Bild ist jetzt eingebrannt auf deiner Bio-Festplatte.
Poetry Slam – das ist Stand-up-Comedy für Leute, die sich ihren Text nicht merken können.
Chateau d’ennui. Ich beantrage Patentschutz für den Neologismus „Catcontentredundanz“.
„Wir haben schon Hitler-Witze gemacht, da wusstet ihr noch gar nicht, dass der Krieg aus ist.“ (Kurt Knapp, hessischer Karnevalist der ersten Stunde, zur Meenzer Fassenacht)
Berlin ist immer noch dieselbe liebenswerte Chaosbude wie früher.
Es ist Herbst und bald fällt der erste Schnee auf die Buchstaben.
Kurz ist der Tag, unendlich die Nacht.
Je älter ich werde, desto stärker glaube ich daran, die Erde sei eine Scheibe, an deren Ränder sich tosende Wasser in die Tiefe stürzen.
Hören Sie nun die rumänische Cover-Version eines kasachischen Nummer 1- Hits: Big Country - In a Big Country. https://www.youtube.com/watch?v=di-_n05tppo

Sonntag, 27. September 2015

Andy Bonetti und das fünfte Element

„Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben.“ (Franz Kafka: Die Sorge des Hausvaters)
Es war früher Morgen und die Luft war angenehm kühl. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber ein majestätisches Blau zeichnete die Silhouette der Berge an den Horizont. Andy Bonetti saß auf der Veranda seiner Villa in Bad Nauheim, in einen bordeauxroten Morgenmantel gehüllt, und ließ sich seinen Tee servieren. Das Schiff hatte gestern die Zeitungen gebracht und so las er vergnügt die vier Wochen alten Nachrichten aus fernen Ländern. Die Geschichte, die ich erzählen möchte, spielt zu einer Zeit, als die Stadt noch nicht ihren spätviktorianischen Charme verloren hatte und die liebenswerte Eleganz einer älteren Dame aus guter Familie verströmte, die bei selbstgebackenen Cremetörtchen von längst vergangenen Zeiten erzählt.
Als Bonetti gegen acht Uhr sein erstes Frühstück einnahm - Rührei mit Käse und Tomate, eine Brioche und Aprikosensaft – wurde ihm von seinem Kammerdiener Johann Besuch gemeldet. Der weltbekannte Schriftsteller war überrascht, da er so früh niemanden erwartet hatte, ließ den Gast aber unverzüglich in den Speisesaal bitten.
Ein großer Mann um die fünfzig in einem champagnerfarbenen Dreiteiler betrat daraufhin den Raum. Sein Bauch quoll über den Gürtel wie der Teig eines Muffins über das gefaltete Papierförmchen.
Er machte eine für seine Unförmigkeit erstaunlich tiefe Verbeugung und sagte: „Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung, dass ich Sie um diese Uhrzeit störe. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Kuno von Prall. Ich leite das Bernstein-Institut für angewandte Elementardiagnostik. Wir erfreuen uns schon seit vielen Jahren Ihrer freundlichen und überaus großzügigen Unterstützung.“
Bonetti bot dem Herrn einen Sitzplatz an und überlegte kurz, aber den Namen des Instituts hatte er noch nie gehört. Er unterstützte jedoch unzählige Forschungseinrichtungen und wohltätige Organisationen, so dass es ihm nicht im Geringsten verdächtig vorkam.
„Was kann ich für Sie tun, Herr von Prall?“
Der Besucher ließ sich vorsichtig und umständlich auf die Sitzfläche eines schweren Ledersessels nieder, der ihn knarrend und stöhnend in sich aufnahm.
„Es geht um ein neues Element, das wir gefunden haben. Das fünfte Urelement.“ Der Wissenschaftler wischte sich mit einem großen Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn.
Bonetti kannte natürlich die vier klassischen Elemente Wasser, Feuer, Erde und Luft. „Wo haben Sie es denn gefunden?“
„In einer Höhle tief unter der Stadt. Sie wissen ja vermutlich, dass der Untergrund Bad Nauheims der Gegenstand zahlreicher Expeditionen und Forschungsprojekte ist.“, antwortete Kuno von Prall.
„Wirklich sehr interessant“, sagte Bonetti, während er sich im Stillen fragte, was der Mann wirklich von ihm wollte.
„Wir haben das neue Urelement Bonettinum genannt, nach Ihnen.“ Und nach einer Pause, in der er die Wirkung seiner Worte beobachtete, fügte er hinzu. „Ich würde es Ihnen gerne zeigen.“
Das schleimige Lächeln glitt an Bonetti ab wie kaltgepresstes Olivenöl. Also Geld, dachte er. Der Mann braucht Geld für seine Forschungszwecke. Ein Bittsteller. Was für eine traurige Gestalt. Womöglich sammelte er Porzellanclowns mit aufgemalten Tränen. Dennoch war seine Neugier geweckt. Das fünfte Element. Bonetti beschloss, dem rätselhaften Wissenschaftler in sein Labor zu folgen.
Vor Bonettis Anwesen wartete ein Landauer, der von zwei schwarz schimmernden Pferden gezogen wurde. Auf dem Kutschbock saß ein alter Mann mit einem hellgrauen Zylinder, in dessen ausdruckslosem Gesicht eine knollenförmige rote Nase wie ein Furunkel leuchtete. Die Fahrt ging durch die Chinatown von Bad Nauheim, die an diesem Morgen schon sehr belebt war. Die rätselhaften Schriftzeichen leuchteten an den Fassaden, fliegende Händler boten lautstark ihre Waren an und sie kämpften sich durch ein Gewimmel von Lastenträgern und Rikschas.
Dann kamen sie in einen Vorort namens Guntersblum. Er war noch nie an diesem Ort gewesen und doch kam er ihm seltsam vertraut vor. Die schmalen Gassen mit den heruntergekommenen Häusern erinnerten Bonetti an seine Kindheit. Sein Vater verdiente damals sein Geld als Vogelstimmenimitator in den umliegenden Gasthäusern und er selbst begleitete ihn häufig, sammelte das Geld ein und verkaufte nebenbei Streichhölzer. Die Schachteln hatte er zuvor mit Reproduktionen von zeitgenössischen Kupferstichen beklebt, die Bad Nauheim im Wandel der Zeit darstellten. Dafür ließen sich leicht dreißig Pfennig und mehr erzielen. Im Einkauf kosteten zehn Schachteln „Welthölzer“ damals noch fünfzig Pfennig. Es war die Zeit des Zündholzmonopols, dass der schwedische Industrielle Ivar Kreuger gegen einen Kredit an die deutsche Reichsregierung 1930 erwarb. Kreuger machte zwar zwei Jahre später Bankrott und erschoss sich in Paris, sein Monopol auf den Verkauf von Streichhölzern in Deutschland hatten die Schweden aber noch bis 1983. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das Forschungsinstitut am Rande der großen Stadt war wie eine Warze in der Achselhöhle: zu klein, um zu stören, zu unbedeutend, um entfernt zu werden, aber dennoch vom warmen Blut des Körpers, also von kommunalen Steuergeldern und Spenden, sanft durchströmt. Nur ein halbes Dutzend Wissenschaftler arbeiteten am Bernstein-Institut für angewandte Elementardiagnostik. Das Gebäude wirkte baufällig, es mochte vor langer Zeit einmal ein herrschaftlicher Wohnsitz gewesen sein. Der Vorgarten war verwildert, eine umgestürzte Statue lag im hohen Gras.
Kuno von Prall bat den Schriftsteller ins Gebäude. In der Vorhalle war niemand zu sehen. Wie aus weiter Ferne hörte man das Ticken verschiedener Uhren. Der Wissenschaftler führte seinen Gast in einen Seitentrakt und öffnete die Tür zu seinem Labor. Es war fast völlig dunkel, die Fensterläden waren verschlossen. Dann sah er es. Es lag auf dem Schreibtisch des Forschers und war etwa so groß wie eine Faust.
Das Bonettinum schimmerte dunkelblau. Es sah aus, als sei es aus einzelnen Kristallen zusammengesetzt. Seine Oberfläche war aber samtweich und warm. Unter seiner Hand vibrierte es leicht. Es hätte Bonetti nicht gewundert, wenn es wie eine Katze geschnurrt hätte. Und tatsächlich hörte man ein leises Wispern, wenn man es ganz nah an sein Ohr hielt.
T. Rex – Hot Love. https://www.youtube.com/watch?v=fwC-GUHL2gU

Samstag, 26. September 2015

Das Imperium der Moral

„Die Armen sind eine Nation. Die Reichen sind eine Nation. Der Rest ist Nationalismus.“ (Lupo Laminetti)
Der ungarische Staatschef Orban hat bei seinem Staatsbesuch im Freistaat Bayern der Bundesregierung in Berlin “moralischen Imperialismus” vorgeworfen. Ach wäre das schön, denke ich, wenn es so etwas gäbe. Moral als handlungsleitendes Motiv und ein ganzes Imperium, das diesem Leitmotiv Kraft und Wirkung verliehe. Wir neigen dazu, die Welt durch die Brille von Moral oder Vernunft zu betrachten, und wundern uns, dass wir aus diesem Blickwinkel kein geschlossenes Bild vom Menschen und seiner Geschichte erhalten. Die Absurdität, die Tragik und die Zufälligkeit unserer Existenz verdrängen wir systematisch oder verklären sie mit Begriffen wie Schicksal oder gar Vorsehung.
Da wird zur Erklärung einer kurzzeitigen Grenzöffnung der Bundesrepublik für einen überschaubaren Teil des weltweiten Flüchtlingsstroms dann auch gleich der Charakter der Nation („der Deutsche“ ist ja wahlweise Schlächter oder Schwärmer, wie wir angeblich wissen) oder die deutsche Geschichte bemüht (insbesondere der Zweite Weltkrieg und seine Folgen, vielen Dank an dieser Stelle an die britische Presse – so etwas nennt man übrigens Obsession und kann behandelt werden). Die Wahrheit ist wesentlich schlichter, das ist zumindest meine Wahrnehmung. So wie Willy Brandt seinen Kniefall in Warschau 1970 nicht geplant hatte, so hat Angela Merkel die temporäre Maueröffnung für die Flüchtlinge nicht kühl kalkuliert. Es war eine spontane Entscheidung unter dem Eindruck des aktuellen Geschehens – so wie ihr überraschender Ausstieg aus der Atomenergie 2011 wenige Tage nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima.
Was war der konkrete Auslöser? Eine Fotographie, die um die Welt ging. Ein kleiner Junge liegt tot an einem Urlaubsstrand in der Türkei. Bald wissen wir auch seinen Namen: Alan Kurdi. Er scheint friedlich zu schlafen, die flachen Wellen umfließen spielerisch seinen Kopf. Wir können das Gesicht des Dreijährigen nicht sehen. Hätten wir das Gesicht der Wasserleiche gesehen, wäre die Wirkung verflogen. Die Medien hätten es auch nicht gebracht. Aber an diesem Morgen im Spätsommer trifft uns sein Anblick wie ein Fausthieb in den Magen. Es bricht uns das Herz. Wer an diesem Tag nicht mit den Tränen kämpft, hat nie gelebt. Er ist einer von uns. Er hat nichts Fremdes an sich. Rotes T-Shirt, kurze blaue Hose – genauso ist Bart Simpson angezogen. Dieses zerbrechliche, kleine, zarte Leben ist ausgelöscht, zermalmt zwischen den Mühlsteinen der Politik. Eine Ikone dieses Jahrhunderts, so wie die Bilder der rauchenden Trümmer des World Trade Centers. Dazu kommt, dass die Bilder von den Flüchtlingen vor dem Stacheldraht an der ungarischen Grenze 2015 die Kanzlerin an die Bilder flüchtender DDR-Bürger an der ungarischen Grenze 1989 erinnert haben mögen.
Wer ist schuld am Tod eines unschuldigen Kindes, das nie etwas von der Politik, die sein Leben bestimmt hat, begreifen konnte? Die Politiker seiner Heimat Syrien, die Warlords des Bürgerkriegs, die vielen Helfer dieser Verbrecher. Ganz klar. Aber wir spüren in diesem Augenblick auch die eigene Schuld: Wir haben ihn nicht zu uns gelassen. Im Augenblick seiner größten Not haben wir ihn im Stich gelassen. Politiker, Waffenhändler und Rassisten aller westlichen Staaten. Aber auch die schweigende Mehrheit der Satten und Zufriedenen. Für einen kurzen Moment blitzt der Wahnsinn der Geschichte auf, der die beiden Fotos von New York und Bodrum miteinander verbindet. Und was tun wir? Für ein paar Wochen werden die gusseisernen Tore der Festung Europa geöffnet und das geschundene Volk darf hinein.
Machen wir uns nichts vor: Mitleid und Barmherzigkeit werden nicht von Dauer sein. Noch zeigen uns die Medien als Nachhall des Fotos von Alan Kurdi jeden Tag kleine Kinder mit ihren Familien, die glücklich unser Land erreichen. Bald werden wir satt sein von der Herzenswärme dieser Bilder und die Medien werden unseren Blick auf neue Skandale und Probleme lenken. Achten Sie auf die Bilder! Demnächst werden wir andere Fotos und Filmaufnahmen von den Flüchtlingen sehen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge sind junge Männer, die verzweifelt und sicher nicht immer friedlich um ihre Zukunft kämpfen werden. Und spätestens am ersten Advent wollen wir unsere Ruhe haben, denn dann beginnt die gruselige Zeit der deutschen Innerlichkeit, des Glühweins und der familiären Selbstbespiegelung. Moslems feiern ja sowieso nicht Weihnachten, wird es dann heißen. Nicht nur Deutschland hat Grenzen, sondern auch seine Menschlichkeit.
Fatboy Slim - Rockafeller Skank. https://www.youtube.com/watch?v=FMrIy9zm7QY

Freitag, 25. September 2015

Life of P – die Fortsetzung

Die folgenden Notizen habe ich auf dem Briefpapier des Hotels gemacht. Einige Auszüge:
24.-27. April 1987: Touren nach Delphi, Korinth, Mykene und Epidauros. Schiffstour nach Ägina, Poros und Hydra: „Drei malerische Inseln mit alten Fischerdörfern, deren Bewohner jedes Mal mit stoischer Ruhe und dem nötigen Sinn fürs Geld den Einfall von ca. 600 Bilderbuchtouristen über sich ergehen ließen. Und ich mittendrin. Ein herrliches Bild, wenn man vom Oberdeck beobachtet, wie sich diese multinationale Ungezieferplage (jede Schiffsdurchsage in sechs Sprachen) über den Landungssteg in die Souvenirläden und Cafés ergießt. Nach ca. einer Stunde kommen sie dann zufrieden grunzend aufs Schiff zurück und preisen ihre Beute. Invasion vom Planeten Geld.“ (…)
„27. April: Mit dem Taxi fahren wir am Abend nach Vouliagmeni südlich von Athen, wo das Ehepaar P. ein Strandhaus besitzt. Zum Straßenverkehr: eine rote Ampel kann, muss aber kein Hindernis sein, ein genügend breiter Bürgersteig wird auch mal als Überholspur genutzt und es wird andauernd völlig sinnentleert gehupt. Unser Taxifahrer konnte keine zehn Sekunden die Finger von der Hupe lassen. Die Leute hupen aus Langeweile, aus Ungeduld, wenn einer keinen Kavalierstart hinlegt, aus Gewohnheit – ich weiß es nicht. Es erklingt manchmal eine richtige kleine Melodie, wenn sich verschiedene Autos in verschiedenen Straßen scheinbar wie verabredet zu einer Hup-Orgie hinreißen lassen.
Am Treffpunkt vor einem Café kommt P. auf uns zu. Schon von weitem beginnt er, ausdauernd mit den Armen zu rudern. Er trägt heute Jeans und ein kariertes Hemd, was seine unförmigen Proportionen noch gnadenloser zum Vorschein bringt. Wir marschieren zu seinem Haus, bewundern es angemessen und begrüßen auch die werte Gattin, die auch hier durch zahllose, wie hingeschmiert wirkende Bilder zu bestechen weiß. Madame, dürfte ich Ihnen dieses Knoblauch-Stillleben um die Ohren hauen? Lassen Sie es dann sein? Wir fahren zu einem Fischrestaurant. P. sitzt heute selbst am Steuer und fährt mit dem Glück des Gerechten. Erst jetzt wird mir seine Unbeweglichkeit bestürzend klar: er kann den Kopf nicht drehen. Es war mir schon vorher aufgefallen, dass er sich immer mit dem ganzen Körper umwandte, wenn er links oder rechts oder gar hinter sich etwas sehen wollte. Durch die kraftlos schlenkernden Arme wirkt er dabei wie ein beklagenswert verrostetes Karussell. Er blickt abwechselnd über und durch den Lenkrad, zum Glück hat der Benz ein Automatik-Getriebe, sonst wäre er völlig überfordert. Trotz allem kommen wir an. Natürlich kennt er den Restaurantbesitzer und selbstverständlich hängt in einer Ecke auch ein Gemälde seiner Frau.
Flugs hat er Fisch und Wein bestellt. Ich harre ängstlich der Speisen, die auf mich zu kommen. Unser Tisch steht an einer der Türen, die auf die Terrasse führen. Durch hinaus- und hereineilende Kellner entsteht natürlich etwas Zugluft, was P. dazu veranlasst, die Tür zu schließen, den Schlüssel im Schloss zu drehen und ihn anschließend in seine Hosentasche zu stecken. Noch einige Male ein stummes, ratloses Drücken der Klinke durch einen Kellner, das überlegene Lächeln des Dr. P, das kurze Heranwinken des Geschäftsführers und einige erklärende Worte – die Tür bleibt für die Dauer unseres Besuchs geschlossen. Anschließend Besichtigung des Yachthafens und das gegenseitige Fotografieren aller möglichen Personenkonstellationen. Fahrt zum teuersten Hotel Griechenlands, der Mercedes wird von einem livrierten Diener fortgefahren, der Barkeeper begrüßt P. Beim Verlassen des Hotels begrüßt P. einen Staatssekretär, die rechte Hand von Ministerpräsident Andreas Papandreou. In welchem Film bin ich?“
„29. April 1987: Vormittags Besichtigung der Fabrik, die P. leitet. Auf seinem fast völlig leeren Schreibtisch steht ein Schild: „Silence! Thinking boss“. Zum Abschiedsessen fahren wir zu einem Restaurant und P. winkt den Oberkellner an seine Limousine. Durch das geöffnete Fenster gibt er die Menüfolge durch. Eine Stunde später ist alles vorbereitet. Ein acht Kilo schweres Lamm wurde für das Festmahl geschlachtet. Nach Moussaka und griechischem Salat kommen die Innereien auf den Tisch: Herz, Lunge, Leber. P. selbst nimmt allerdings den aufgebrochenen Kopf des Tieres und fragt, ob jemand vom Gehirn probieren möchte. Wir lehnen dankend ab und er verspeist es höchstselbst. Dann kommt das eigentliche Lammfleisch. Auf dem Tisch sieht es mittlerweile wüst aus, der Retsina fließt in Strömen und unser kleiner Onassis ist voll in seinem Element. Wie ein Sultan klatscht er in die Hände, wenn ein neuer Gang oder eine neue Flasche Wein gebracht werden sollen.
Als am Ende frischer Joghurt mit Honig auf den Tisch kommt, den der Patriarch aus der großen Schüssel auf die Teller der Anwesenden verteilt, sind alle abgefüllt und müde. Kein Wunder, das Essen hat zweieinhalb Stunden gedauert. Wie könnte ich dieses Bild je vergessen: der kleine, lachende, ständig schmatzende Fürst, umgeben von seinen drei griechischen Angestellten, die ihn unverhohlen unterwürfig umschwärmen, und denen er zur Belohnung ab und zu ein paar Worte zuwirft oder – der Gipfel – über den Kopf streichelt. Nebenbei erwähnt er, dass er zum Empfangskomitee der deutschen Botschaft gehört, wenn Bundespräsident Richard von Weizsäcker demnächst zum Staatsbesuch nach Athen kommt. Und am Abend des gleichen Tages sitze ich bei meinen Freunden in der Kneipe am Ingelheimer Bahnhof und habe viel zu erzählen.“
P.S.: Dr. P. ist vor zwei Jahren nach langer Krankheit verstorben. Wir sind froh, dass er den Niedergang seiner griechischen Heimat, dessen Regierungsprogramm inzwischen von Reichsprotektor Schäuble vorgegeben wird, nicht mehr erleben musste. Ich erinnere mich an eine unserer letzten Begegnungen, als er mir im Kreise der Familie gut gelaunt die delikate Frage stellte, ob ich inzwischen verheiratet wäre oder immer noch „à la carte“ leben würde. Seine drei Kinder haben Griechenland längst verlassen, sie leben in Deutschland, Großbritannien und der Schweiz.
Ultravox – Astradyne. https://www.youtube.com/watch?v=m5-YeyOZmXo

Donnerstag, 24. September 2015

Life of P

Die folgenden Notizen habe ich auf dem Briefpapier des Hotels gemacht. Einige Auszüge:
„22. April 1987: Dr. P. ist ein kleiner, dicker Mittfünfziger mit Halbglatze, dessen Mund ständig zu einem rhythmischen Schnaufen offensteht. Er ist ein reich geborener und reich gebliebener Geschäftsmann, der es gewohnt ist, die Dinge des Lebens mit einer sagenhaften Souveränität und präzisen Genauigkeit mittels weniger Sätze und Gesten zu erledigen. Er hatte bereits ein komplettes Programm aufgestellt, das Hotel und die anstehenden Tagestouren bezahlt, Reiseführer und Wörterbücher gekauft, und als er uns das Zimmer zeigte, kam alsbald der Zimmerkellner mit Obst und Wein. Bei jeder seiner Bewegungen spürt man den erfahrenen Weltmann. Er strahlt eine unbestreitbare Selbstsicherheit aus, er führt das Gespräch, seine Vorschläge bringt er mit einer, keinen Widerspruch erwartenden Ruhe hervor, sie sind sämtlich bis ins letzte durchdacht und ganz selbstverständlich, wie hypnotisiert, fügen wir uns in alles. Kein Thema, zu dem er nicht etwas wüsste, sein Gedächtnis ist lückenlos – früher war er einmal Kommissar bei der Polizei. Nach einem Drink an der Hotelbar verließ er uns – nicht ohne den folgenden Tag bis in letzte Kleinigkeiten hinein geplant zu haben -, und mein Vater und ich schlenderten noch durch die Innenstadt. Abends sahen wir uns dann bei einigen Henninger Export das Fußballeuropapokalspiel im Fernsehen an.“
„23. April 1987: In manchen Dingen ähnelt mir mein Vater sehr. Wir segeln beide immer knapp am Chaos vorbei, nie haben wir die Dinge vollständig im Griff. Auf unserem Weg zur unvermeidlichen Akropolis-Besichtigung, obwohl in Sichtweite von ihr wohnend, verliefen wir uns mehrmals – aber schön. Wir erstiegen den Berg nämlich nicht über den Touristenweg, sondern schlichen durch die winzigen Gässchen an seinem Fuß. Fast kein Mensch begegnete uns zwischen den unentwirrbar verschachtelten Häusern, nur eine große Zahl von Katzen döste an unserem Weg oder sprang über uns von Dach zu Dach. (…) Auf der Akropolis war trotz der Vorsaison ein ungeheuerlicher Andrang. (…) Ich glaube, ich war der einzige Mensch ohne Fotoapparat. Unvermeidlich: die japanischen Touristen. Oft ließen sie ihre Familien minutenlang regungslos lächelnd verharren, bis sie endlich den Aus- bzw. Erlöser drückten. Doch die Europäer sind keineswegs besser. Ich beobachtete einen Trupp Franzosen: einer von ihnen blieb mit seiner Videokamera zurück, befahl den anderen sich umzuwenden und auf ihn zuzukommen. Lachend und schwatzend stapften sie heran, um kurz nach dem Klacken, welches das Aufnahmeende anzeigte, auf dem Absatz kehrt zu machen und eisig schweigend den begonnenen Aufstieg fortzusetzen. (…)
Um zwei Uhr trafen wir uns mit dem Ehepaar P. in einem Nobelrestaurant gegenüber der Akropolis. Schon beim Abgeben meiner abgewetzten Jeans-Jacke an der Garderobe fühlte ich mich fehl am Platz. Auch hier ist Dr. P. ganz in seinem Element. Zitat: „Ich bin die Speisekarte.“ Er empfiehlt die richtigen Speisen und alsbald umschwirren uns zwei Kellner, der passende Wein wird serviert und ich klinke mich nur zu bereitwillig aus dem nun einsetzenden Smalltalk aus. Eine Rechnung kommt in einem solchen Restaurant nicht an den Tisch. P. weist uns unauffällig auf den Mann am Nachbartisch hin, es ist ein griechischer Minister. (…)
Fahrt ins Nationalmuseum, wo sich der Meister auch als allwissende Größe der Kultur erweist, darauf folgt eine Besichtigung ihres Stadtanwesens. Bei den unvermeidlichen Drinks (die Hausbesichtigung und die Landschaftsgemälde seiner Frau liegen schon hinter uns) plaudert der Doktor aus dem Nähkästchen: gerade abgeschlossener Handelsvertrag mit dem Iran (er nennt eine Millionensumme und klatscht dann in die Hände), beste Beziehungen zur Athener und Frankfurter Polizei (Strafzettel? Anruf beim Polizeipräsidenten genügt. Braucht er in Frankfurt einen Polizeiwagen als Taxi? Call the right number). Und dennoch: ich genieße das alles in vollen Zügen und bin stiller, aufmerksamer Beobachter. Zurück im Hotel stellen wir fest, dass keine Steckdose in unserem Zimmer funktioniert. Mein Vater rasiert sich im Schneidersitz vor einer Steckdose im Flur. Ich höre ein mehrstimmiges Lachen von draußen, während ich am Tisch sitze und schreibe.“
The Eurythmics - Love Is A Stranger. https://www.youtube.com/watch?v=_eGp3T96_1A

Nur mal so zwischendurch 3

Dieses Bild, das ich auf meinem Rechner gefunden habe, als ich gerade was anderes gesucht habe, zeigt mich in voller Pracht als Kiezschreiber bei einem Fest im Brunnenviertel:

Mittwoch, 23. September 2015

Sie haben mich!

Es ist vorbei. Sie haben mich erwischt. Im Grunde habe ich es schon immer gewusst. Das waren meine ersten Gedanken, als mein Name aus dem Lautsprecher schallt. Wir sind im Landeanflug auf Athen. Der Pilot ruft meinen Namen aus. Und den Namen meines Vaters. Wir sollen im Flugzeug bleiben, wenn die anderen Passagiere nach der Landung aussteigen. Wir lassen uns nicht anmerken, dass wir gemeint sind. Terrorismus. Gefängnis. Ich bin zwanzig Jahre alt und habe ständig ein schlechtes Gewissen. Untergrund, Drogenszene – ich kenne jede Menge Leute, vor denen man mich immer gewarnt hat. Ein Freund wird sogar von Eduard Zimmermann in „Aktenzeichen XY … ungelöst“ zur Jagd freigegeben. V-Leute in meiner Stammkneipe. 1987 – kalter Krieg und ich bin ständig im Ostblock unterwegs: UdSSR, DDR, CSSR, Ungarn. Es ist soweit: Sie haben mich. Es soll keine Schwierigkeiten bei meiner Verhaftung geben. Frauen und Kinder zuerst. So geht also alles zu Ende. Alter Finne!
Komisches Gefühl: ein leeres Flugzeug. Hier gehörst du doch gar nicht hin. Die schützende Herde - eigentlich ein Haufen wildfremder Menschen - ist längst weg. Ängstlich schaue ich zur Kabinentür. Werden gleich Männer in Kampfmontur hereinstürmen, unverständliche Kommandos brüllen und eine Rauchgranate zünden? Oder kommt ein lässiger Kommissar im Trenchcoat hereingeschlendert, mit einem Zigarillo im Mundwinkel, der mich angrinst und mir mit einer winzigen Bewegung des Zeigefingers bedeutet, aufzustehen und ihm zu folgen? Zähflüssig verrinnen die Sekunden. Wir wagen es nicht zu sprechen. Es hat keinen Sinn, sich zu wehren. Abwarten, nicht die Nerven verlieren. Wie es wohl in einem griechischen Gefängnis zugehen mag? Von den türkischen Gefängnissen hört man jedenfalls nichts Gutes. Endet alles in Athen?
Eine lächelnde Stewardess kommt auf uns zu. Wir sollen bitte mitkommen. Wir würden erwartet. Sie bringt uns zur Kabinentür und wir gehen die Gangway hinunter. Wir müssen uns erst an das gleißende Sonnenlicht gewöhnen. Auf dem Rollfeld wartet eine Mercedes-Limousine. Ein grauhaariger Mann in einem dunklen Anzug steigt aus. Es ist P., der Freund meines Vaters, der uns zu einem Besuch in Griechenland eingeladen hat. Er leitet die griechische Vertretung des Konzerns, für den mein Vater in Deutschland arbeitet. Er lacht und küsst uns auf beide Wangen. Für ihn ist es ein Zeichen der Gastfreundschaft, die Gäste nicht am Zoll und der Gepäckausgabe warten zu lassen. Freunde werden direkt am Flugzeug abgeholt. Dr. P. hat seine Beziehungen spielen lassen. Und auf dieser Ebene geht es um Beziehungen, um das Geflecht gegenseitiger Gefälligkeiten. Hier gibt es kein Fakelaki mehr, keinen Umschlag mit Geld. Man kennt sich. Zum ersten Mal blicke ich in das Gesicht der Macht. Ich bin nie wieder auf dem Rollfeld von einer Limousine mit Chauffeur abgeholt worden.
The Ink Spots - I Don't Want To Set The World On Fire. https://www.youtube.com/watch?v=6l6vqPUM_FE

Dienstag, 22. September 2015

Barfly Memories

„Wenn wir bedenken, dass wir alle verrückt sind, ist das Leben erklärt.“ (Mark Twain)
Heute Nacht hatte ich einen wahrlich merkwürdigen Traum. Und ich schwöre, dass ich gestern keinen einzigen Tropfen getrunken habe! Whiskey schon gar nicht. In diesem Traum bin ich ein obdachloser irischer Säufer, noch jung, vielleicht Ende zwanzig, der in einer Kleinstadt seinen ebenfalls obdachlosen Vater besucht. Wie ich angekommen bin und was wir am ersten Abend machen, habe ich vergessen, aber mein Vater hat mir einen guten Schlafplatz gezeigt, wo er mich am Morgen abholen will.
Als ich aufwache, ist es schon heller Tag. Ich liege im Gras neben dem Bürgersteig. Leute kommen vorbei, beachten mich aber nicht. Ich sehe über eine Häuserzeile, es sind zweistöckige Backsteinbauten aus dem 19. Jahrhundert, als von rechts ein Space Shuttle im Sinkflug herankommt. In der Nähe der Kleinstadt ist ein Flughafen. Aber das Space Shuttle fliegt schnurgerade in das Viertel hinter den Backsteinbauten und schlägt dort mit einer gewaltigen Explosion ein. Geistesgegenwärtig ziehe ich meine Decke über den Kopf und hoffe, dass mich kein Trümmerteil trifft. Ich spüre, wie Glassplitter und andere Kleinteile um mich herum auf den Boden prasseln, einige landen auch auf meiner Decke.
Als ich wieder hervorschaue, sehe ich die schwarze Qualmwolke über den Häusern. Ich stehe auf und gehe langsam zur Unglücksstelle. Auf dem Weg dorthin treffe ich meinen Vater. Wir sehen uns den Ort des Absturzes an. Es sind viele Menschen hier und es werden sogar schon Führungen mit sachkundiger Anleitung angeboten. Alles ist schwarz und verkohlt. Man sieht gar nicht mehr, was mal ein Haus und was ein Teil des Space Shuttle gewesen ist. Wir beschließen, erst einmal in einen Pub zu gehen.
Kurz vor dem Pub treffen wir Freunde von meinem Vater. Wie mein Vater und ich tragen sie lange dunkelgraue Mäntel. Sie haben kleine Whiskeyflaschen in ihren Manteltaschen, die sie zur Begrüßung hervorholen; ich schätze ihren Inhalt auf 0,2 oder 0,3 Liter. Wir nehmen alle einen guten Schluck. Mein Vater gibt mir aus seiner Flasche zu trinken, weil ich nichts dabei habe. Dann gehen wir in den Pub, wo an einem Tisch schon junge Männer und Frauen vor ihren Whiskeygläsern sitzen. Mein Vater stellt mich ihnen kurz vor. Wir unterhalten uns und ich erfahre, dass sie seit elf Uhr, also seit Öffnung des Pubs, hier sitzen würden.
Da Selbstbedienung ist, gehe ich in den hinteren Bereich. Vor dem Ausschank ist Hochbetrieb und immer wieder drängeln sich durstige junge Leute nach vorne, so dass ich nichts bekomme. Ich bemerke, wie unsicher ich auf meinen Beinen bin. Obwohl ich noch nicht viel Whiskey hatte, bin ich offensichtlich schon angetrunken. Aber es gibt noch einen zweiten Ausschank. Hier gibt es nur Flaschen zu kaufen. Die Kundschaft ist älter und nobler, der Tresen steht voller edler Whiskeyflaschen und der Mann dahinter ist ein altehrwürdiger Trinker, der immer wieder einen kleinen Schluck aus einem Tumbler nimmt, der neben der Kasse steht.
Bald komme ich dran und bestelle eine kleine Flasche Bushmills. Erst jetzt hole ich meine Brieftasche hervor und schaue nach, ob ich überhaupt Geld habe. Tatsächlich befindet sich ein Siebzig-Pfund-Schein als einzige Banknote in meiner Brieftasche und ich gebe sie dem Mann. Ich bekomme viele kleine, abgegriffene Scheine zurück und einen Teil des Geldes sogar in Briefmarken. Er verabschiedet mich freundlich und ich gehe zurück an den Tisch zu den anderen Trinkern. Dann wache ich auf.
The Cure – Pictures of You. https://www.youtube.com/watch?v=UmFFTkjs-O0

Montag, 21. September 2015

Können wir Millionen Rassisten integrieren?

„I don’t think you stop growing until they start shovelling the dirt in.” (Keith Richards)
Warum sehen wir derzeit so unterschiedliche Reaktionen auf die neuen Migranten in Europa? Die einen stehen mit Blumen und Teddybären am Bahnhof, die anderen ziehen Grenzzäune und zünden Unterkünfte an. Die einen heißen die Ankommenden willkommen, die anderen reagieren mit Panik – Bürger ebenso wie Politiker der Firma Sitz & Sprech. Warum ist das eigentlich so?
Wenn wir die unterschiedlichen Reaktionsmuster einmal anhand von geographischen und soziologischen Mustern sortieren, fällt schnell auf, dass die „Willkommenskultur“ häufiger in der alten Bundesrepublik zu finden ist, die „Abschreckungspolitik“ häufiger in den ehemaligen Ostblockstaaten DDR, Polen, Ungarn, Tschechische Republik und Slowakei sowie in Staaten, die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen sind. Häufiger positiv stehen die junge und mittlere Generation der Mittelschicht der Entwicklung gegenüber, häufiger negativ Teile der älteren Generation und die Unterschicht. Radikal reagiert in der Kombination der Merkmale die ostdeutsche Unterschicht. Selbstverständlich passen nicht alle Einzelfälle in dieses Raster, aber die Tendenz ist deutlich zu erkennen.
Wer hat gute Erfahrungen mit Migration? Das Gebiet der alten Bundesrepublik (inklusive Berlin) mit der Einwanderung von über einer Million Polen ins Ruhrgebiet und in die Hauptstadt in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung 1871. Die westdeutschen Besatzungszonen mit der Einwanderung von zwölf Millionen Vertriebenen nach 1945. Die Bundesrepublik mit der Einwanderung von Millionen Gastarbeitern, die den versiegenden Zustrom an Arbeitskräften aus dem Osten nach dem Mauerbau 1961 kompensierten. Und wieder die Bundesrepublik mit der Einwanderung von einer Million Ossis nach dem Mauerfall 1989 und von Millionen Aussiedlern aus dem ehemaligen Ostblock ab 1990 (bzw. den „Übersiedlern“ wie Miroslav Klose vor dem Fall des Eisernen Vorhangs). Und weitere Millionen kamen seitdem in die alte Bundesrepublik, die heute das ökonomische Herz des Kontinents bildet.
Es läuft im Westen dieser Republik, weil immer wieder neue Leute kommen, die den alten Laden aufmischen und bereichern. Was heißt das für unsere Ausgangsfrage: Warum sehen wir so unterschiedliche Reaktionen auf die Migranten, die derzeit in Europa ankommen? Wer Erfahrung mit Migration hat, sieht Migration positiv. Wer keine Erfahrung mit Migration hat, sieht Migration negativ. Regionen mit Integrationserfahrung sehen die aktuelle Entwicklung positiv, Regionen ohne Integrationserfahrung reagieren mit Angst und Aggression. Die erfahrenen Regionen werden langfristig profitieren, die unerfahrenen Regionen werden weiter zurückfallen. Im Idealfall lernen die erfolglosen Regionen von den erfolgreichen, der Worst Case wäre, wenn sich die erfolgreichen Regionen von der Angst der erfolglosen anstecken lassen würden. Und was für die Regionen gilt, das gilt auch für die Menschen.
P.S.: Kollateralnutzen: Die Migranten motivieren die Politiker, Lösungen für die schwerwiegenden Probleme in ihren Heimatländern zu finden. Schon deswegen sollte man froh über jeden Syrer oder Iraker sein, der hier ankommt.
Genesis - Second Home By The Sea. https://www.youtube.com/watch?v=zxr-TwXJrnA

Sonntag, 20. September 2015

Helle Nacht

Der Sternenhimmel war zum Greifen nah, als ich die Insel zum ersten Mal sah. Eine schwarze Silhouette, umgeben vom Funkeln der Gestirne über mir und dem Glitzern des Mondlichts auf den Wellen unter mir. Gleichmäßig klatschten die Ruder ins Wasser.
Es war, als würde ich aus einem Traum gerissen: das harte Knirschen des Kiels auf dem Sand. Wir hatten die Insel erreicht. Ich stand am Strand und blickte zur steilen Kuppe empor, die in der Mitte der Insel aus dem Urwald emporwuchs. Hinter mir wurden die Kisten mit den Vorräten und dem Fernrohr ausgeladen. Die Männer verschwanden, ich blieb allein. Sieben Monate lang sollte ich von dieser Insel die Sterne beobachten.
Ich setzte mich auf einen flachen Stein und hörte den geheimnisvollen Geräuschen des Dschungels zu. Es war unwirklich. Und dann hörte ich deine Stimme aus den Bäumen, die meinen Namen rief. Sollte ich mitten in der Nacht, erschöpft von der langen Reise, in den Wald gehen und dich suchen?
Cream - I Feel Free. https://www.youtube.com/watch?v=l1QihWLLKGY

Samstag, 19. September 2015

Madeleine

Madeleine du Patelin besaß den kühlen Hochmut und die gelassene Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen die hochnäsige Verachtung gegenüber ihrer Umwelt, wie man sie nur von den Top-Models dieser Welt auf dem Laufsteg kennt. Dennoch war sie ein unscheinbares Etwas, das erst seit wenigen Wochen in der Hauptstadt wohnte. Bemerkenswert waren nur ihr zauberhaftes melodiöses Lachen, ihre vollen roten Lippen und ihre schönen ebenmäßigen Zähne.
Und in dieses Lachen und in diesen Mund verliebte sich Pierre Lasource, als er sie im „Septième merveille“, einem Café auf dem Boulevard Saint-Michel, zum ersten Mal bemerkte. Lasource war vierzig Jahre alt und hätte ihr Vater sein können. Die hohlen Wangen und das starke Kinn ließen sein Gesicht knochig wirken, über seinen tiefliegenden Augen waren die hellblonden Augenbrauen kaum zu erkennen. Er saß ganz allein vor seiner Kaffeetasse, als das wohlige Gefühl aus seinem Bauch den Hals hinauf kroch. Er musste sie ansprechen.
Madeleine saß mit ihrer Freundin Mabelle am Nachbartisch und sie lachten über die Geschichten aus ihrer Nachbarschaft. Sie war bei ihrer alten Freundin aus der Schulzeit eingezogen, die schon seit einem halben Jahr in Noisy-le-Grand, einem Neubaugebiet östlich von Paris, wohnte. Es war nur eine kleine Wohnung in „les camemberts“, wie die beiden radförmigen Hochhäuser der Anlage „Arènes de Picasso“ im Volksmund hießen. Aus dem Vorort fuhren sie fast jeden Morgen an die Sorbonne Nouvelle, wo sie beide Sprachen studierten.
Als die beiden jungen Frauen aufstanden, um das Café zu verlassen, trat ein Mann in einem dunklen Anzug auf sie zu.
„Entschuldigen Sie die Störung. Ich bin Talent-Scout von Television Spectaculaire. Darf ich Ihnen meine Karte geben?“ Er hatte nur Augen für Madeleine. „Es wäre schön, wenn sie mich anrufen würden.“
Mabelle lachte und ging davon, aber Madeleine blieb interessiert stehen. Mit einem Lächeln nahm sie die Karte und folgte ihrer Freundin.
Am nächsten Tag saß sie im Büro von Pierre Lasource in La Défense. Von seinem riesigen Fenster aus hatte man einen herrlichen Blick über die Innenstadt.
„Wir suchen noch junge unverbrauchte Gesichter für unsere neue Vorabendserie ‚Paris – Tag und Nacht‘. Sie sind mir gleich aufgefallen. Haben Sie schon irgendwelche beruflichen Erfahrungen im Medienbereich?“
Madeleine erzählte ein bisschen dummes Zeug, aber das war Pierre egal. Sie saß vor ihm. Und er würde seine schützende Hand über sie halten – egal, ob sie nun Talent besaß oder nicht. In dieser Serie musste niemand Talent haben, da das Publikum ohnehin über keinerlei Geschmack oder Urteilsvermögen verfügte. Zeitfresser und Beruhigungspillen für die Teenager in der Provinz und den Banlieues.
Probeaufnahmen. Ein unterschriebener Vertrag. Perfekt. Gedreht wurde in einer großen Altbauwohnung am Place des Vosges. Madeleine war in einem noblen Hotel in der Nähe untergebracht.
Am Abend der ersten Woche wurde in einem Edelrestaurant auf der Île de la Cité mit der ganzen Crew gefeiert. Pierre flirtete wie verrückt mit Madeleine. Er war hoffnungslos verliebt. Er brachte sie nach dem Essen zu ihrem Hotel und hoffte nun auf den verdienten Lohn seiner Bemühungen um die junge Dame.
„Ich bin schon ziemlich beschwipst. Komm doch morgen zum Frühstück“, vertröstete sie ihn und zwinkerte ihm zu.
Er zögerte. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand im Hotel.
Am nächsten Morgen rückte Pierre mit einem gewaltigen Strauß Blumen, seinem besten Anzug und schwerem Herrenduft an. An der Rezeption bestellte er ein üppiges Frühstück für zwei Personen und Champagner auf Madeleines Zimmer.
Als er vor ihrer Tür stand, atmete er eine Weile tief durch. Dann klopfte er.
Ein junger Mann öffnete ihm. Er trug nur eine hellblaue Pyjamahose.
„Darf ich Sie fragen, was Sie in Madeleines Zimmer machen?“ fragte Pierre, mühsam die Contenance wahrend.
„Es ist für dich“, rief der junge Mann ins Zimmer und trat zur Seite.
Pierres Strauß war schon gesunken und hing schlaff in seiner Hand.
„Madeleine! Was soll das?“
Sie lächelte ihn an. Es war bezaubernd.
„Madeleine?“
Aber sie schwieg immer noch.
Pierre wusste nicht, ob er heulen oder toben sollte. Da stand sie vor ihm in einer hellblauen Pyjamajacke, die ihr fast bis zu den Knien reichte, und lächelte ihn an.
„Hat der Typ dir ein besseres Angebot gemacht?“
„Nein.“
„Was kann er dir geben? Hat er viel Geld?“
„Nichts. Er besitzt keinen Cent.“
„Was hat er, was ich nicht habe?“
„Er ist schön. Und jung.“
„Ist das alles?“
„Er ist ein großartiger Tänzer.“
Pierre ging. Er fühlte sich betrogen. Durch Madeleines Undank verraten.
Madeleine starb in der nächsten Folge von „Paris – Tag und Nacht“ einen tragischen Unfalltod und studiert wieder Sprachen an der Sorbonne Nouvelle.
The Velvet Underground & Nico - I'll be your mirror. https://www.youtube.com/watch?v=YfhZwbMqbkE

Freitag, 18. September 2015

Die falsche Tür

„Wenn du nicht willst, dass jemand davon erfährt, dann lass es sein.“ (chinesisches Sprichwort)
Eines habe ich an diesem Tag gelernt: Du gehst einmal durch die falsche Tür und du bist rettungslos verloren. Du bist ein Fremder in deiner eigenen Welt. Fremder als auf einem anderen Planeten. Du triffst die falsche Entscheidung und du sitzt in der Falle. Du kannst es nicht mehr rückgängig machen. Und noch etwas habe ich an diesem Tag gelernt: Frauen gehen nicht zu zweit auf die Toilette. Nein, sie gehen im Rudel. Sie kommen als Herde. Es ist eine Stampede, die sich in den Raum ergießt. Da musst du ganz tapfer sein. „The Damned Don't Cry“. Aber der Reihe nach.
Ich bin zwölf Jahre alt. Unschuldig. Voller Hoffnung. Und vollkommen ahnungslos, als ich mit meiner Mutter und ihrem damaligen Freund in einem Restaurant sitze. Wir haben gerade gegessen. Ich weiß nicht mehr, was ich hatte, denn ich bin noch heute traumatisiert. Ich habe den schönen Teil dieser Geschichte verdrängt. Vermutlich bin ich deswegen Single. Wir dürfen aber aufgrund meiner Gewohnheiten annehmen, dass es ein Jägerschnitzel mit Pommes frites war. Und dazu habe ich eine Spezi getrunken. Menschen wie ich brauchen keine Speisekarte.
Nach dem Essen muss ich auf die Toilette. Kein Problem. Ich bin schließlich schon zwölf. Also gehe ich aus dem Gastraum ins Treppenhaus. Dort ist ein Schild mit einem Pfeil, der mich zu den Toiletten lotsen soll. Ich folge dem Pfeil und ein Stockwerk höher ist die Damentoilette. Aber wo ist das Männerklo? Ich laufe die Treppen hinauf und hinab. Der Harndrang ist inzwischen überwältigend. Da habe ich eine Idee. Ich drehe mich um. Niemand zu sehen. Auf Zehenspitzen schleiche ich zur Damentoilette. Vorsichtig öffne ich die Tür. Keiner da. Ich überlege noch kurz – und dann tue ich es.
Schließlich muss ich nur pinkeln. Das geht schnell. Eine Sache von Sekunden. Und da es hier kein Pissoir gibt, muss man sich hinterher auch nicht die Hände waschen. Ich öffne eine der beiden Türen, lasse die Hosen runter und setze mich. Es läuft. Kein großes Ding. In einer Minute bin ich wieder bei meiner Mutter. Und dann höre ich das Quietschen der Tür. Hitchcock nix dagegen! Jemand betritt den Raum. Neben mir wird die Tür geöffnet und geschlossen. Ich höre Knistern und Rascheln. Strumpfhosen? Rock? Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Ich muss hier raus! Und zwar ganz schnell, solange die Frau noch mit sich selbst beschäftigt ist.
Ich ziehe die Hose hoch und betätige die Spülung. Da höre ich es wieder. Das Quietschen der Tür. Und diesmal sind es zwei Frauen. Sie unterhalten sich. Mucksmäuschenstill setze ich mich wieder auf das Klo und warte. Hier hilft nur Warten. Aussitzen. Die Minuten vergehen. Immer mehr Frauen drängen sich in die Toilette. Ich schaue unter der Tür durch. Ein Wald von Beinen in hohen Schuhen. Sie beginnen zu lästern. „Ist die da drin eingeschlafen oder was“. Was soll ich machen? Meine Mutter sucht mich sicher schon. Ich sehe sie vor meinem geistigen Auge, wie sie das Gebäude und den Parkplatz absucht, meinen Namen schreiend. Immer verzweifelter.
Ich warte. Aber es wird nicht besser. Der Raum ist inzwischen zum Bersten mit wartenden Frauen gefüllt. Es hat keinen Zweck. Ich muss hier raus. Ich öffne die Tür und gehe durch ein Spalier staunender Frauen hinaus. Mein Kopf ist feuerrot. Es ist mein Ende. Das Wort Scham ist nicht ausreichend, um meine Gefühle zu beschreiben. Schande reicht auch nicht. Waterloo? Armageddon? Zu schwach. Todessehnsucht? Wenn mich eine dieser Frauen auch noch angehalten oder nur angesprochen hätte, wäre ich im Erdboden versunken. Es fällt mir noch heute schwer, darüber zu sprechen. Meiner Mutter habe ich es nie erzählt.
P.S.: Dieser Text ist Teil der Blogparade "Ich war fremd" der fabelhaften Friederike.
http://landlebenblog.org/2015/09/01/blogparade-ich-war-fremd/
The Police - So Lonely. https://www.youtube.com/watch?v=fQ1sTL_TYUM

Donnerstag, 17. September 2015

Nur mal so zwischendurch 2

Es ist längst dunkel. Wir waren nochmal in Richtung Autobahn unterwegs, weil man ja in Schweppenhausen um diese Uhrzeit nichts mehr kriegt. Nur ein Kilometer, dann hast du dein Sixpack oder deine Flasche Wein. Für den kurzen Rückweg kaufen wir immer noch einen Jägermeister. Scheiß doch die Wand an! So läuft es mindestens einmal die Woche.
Wir steigen aus dem Wagen. Aber heute ist es anders. Neben der Autobahnraststätte mit den leckeren Getränken, den Daddelautomaten und den schönen Schnitzeln stehen ja auch die ganzen Trucker mit ihren Lastwagen. Ich höre aus einem Truck ganz in der Nähe unseres Wagens Kühe brüllen. Nach wem rufen sie? Nach ihren Freunden, nach ihrer verlorenen Heimat? Sie spüren, dass ihr Leben zu Ende geht. Sie fahren zu ihren Mördern. Ein Lkw voller Todeskandidaten.
In diesem Augenblick vergeht mir die Lust an der ganzen Welt.
Pat Metheny - And I Love Her (The Beatles). https://www.youtube.com/watch?v=MYcZ6s3z1jg

Der fabelhafte Sommer 1985

„Come sail your ships around me / And burn your bridges down” (Nick Cave & The Bad Seeds - The Ship Song)
In diesem beschissenen Notizbuch aus DDR-Papier, das wahrscheinlich (ach, was sage ich – sicherlich!) später einmal in meinen Pfoten zu Staub zerfallen wird, möchte ich doch noch ein paar Ereignisse der letzten Monate festhalten, bevor sie endgültig in Vergessenheit geraten oder in sentimentaler Verklärung zu Legenden und erlogenen Anekdoten werden, die man sich auf irgendwelchen Jahrgangstreffen in tausend Jahren ins Gesicht langweilt.
Heute ist der 28.6.1985, ich liege immer noch im Bett (es ist 15:30 Uhr), Frank Zappa gibt mir moralische Unterstützung und ich versuche anhand eines Terminkalenders die letzten gottverdammten zwei Monate zu rekonstruieren. Dafür habe ich jetzt genügend Zeit, da die Schule endgültig aus ist und ich demnächst erstmal als Arbeitsloser rumhänge.
1. Mai: Die letzten zwei Wochen waren ruhig. Große Exzesse konnte ich mir ja auch nicht leisten, Lernen fürs schriftliche Abi war angesagt. Dieses „einen-Gang-zurückschalten“ wegen der Schule hat mich bis zur Weißglut geärgert. Aber nach dem Abi würde ich gepflegt die Sau rauslassen, das hatte ich mir geschworen. Selbst D. hatte viel zu wenig Zeit für mich, sie macht sich mit ihrem Stress total fertig. Und ich musste einige geile Kiff-Orgien in Schweppenhausen, meinem Elfenbeinturm, auslassen. Auch M.s gutgemeinten Rat, vor der Prüfung Captagon zu schlucken, musste ich leider ablehnen. Abends war ich aber doch mit ihm einen trinken. Ich kam erst nachts aus der Dorfkneipe und erklärte meinem alten Herrn mit schwerer Zunge, dass ja alles kein Problem wäre.
2. Mai: Deutsch-Abi. Über mein Spezialgebiet Kafka. Zehn Punkte.
3. Mai: Englisch-Abi. In der Beurteilung steht, ich hätte an der „Zielsprache“ vorbeigeschrieben. Fünf Punkte. Danke, Frau Schmitt – und tschüss!
6. Mai: Sozialkunde-Abi. Die Beurteilung ist allererste Sahne, ein einziger Lobgesang. Dreizehn Punkte. Nach der Prüfung traf sich der Jahrgang zu einem üblen Besäufnis am Ausgang. Fliegende Sektkorken, eilig im HL eingekaufte Sixpacks usw. Am Nachmittag war ich bei N., mit dem ich zwei geile Artikel für die Abi-Zeitung geschrieben habe, von denen später noch die Rede sein wird. Natürlich haben wir uns die Rübe vollgegossen. Abends ging ich mit D. zur Abi-Feier eines Mitschülers. Da ging's dann nur noch ab. Ich gab mir mit Baccardi, Wein und Bierchen den absoluten Rest. Irgendwann gegen vier war ich zu Hause. Gong – die postabiturielle Zeit ist zünftig eröffnet! Es darf die Sau rausgelassen werden.
11. Mai: Mit D. und ein paar anderen Freunden im „Revolution“ in Simmern. Die geilste Disco, von der Musik und der Anlage her. Ich treffe J. und V. aus Schweppenhausen und wir fahren erstmal weg, um was zu quarzen. Wir parken irgendwo und wollen gerade anrauchen, da bemerken wir, dass zwanzig Meter neben uns ein anderes Auto parkt. Wir düsen also weiter und die verdammte Zigarrenkiste bleibt immer hinter uns. Verfolgungsjagd durch halb Simmern – bei uns Panik im Auto – wir denken, es ist das RD – jeder hat sein Piece schon in der Hand, ums zu schlucken – plötzlich noch ein Streifenwagen – und ich Suffkopp schlucke das Piece komplett unter. Wir halten endlich, der andere Wagen hält auch – und es sind nur ein paar total beschissene Jugendliche, die uns verarschen wollten! Mein Gott!! Was bei uns ne Panik war!!! Wir haben dann trotzdem was geraucht, was zu dem Piece im Bauch und dem Suff addiert für mich schließlich so aussah: Ich hocke zwei Stunden im „Revolution“ an der Wand und bin im Film.
26. Mai: Ein glühend heißer Sonntag, ich latsche zum Folk-Festival an der Burgkirche in Ingelheim. Das traditionelle große Freak Out an Pfingsten! Ich war noch nicht ganz auf dem Festplatz, da kam mir schon M. entgegen. Zusammen mit den anderen Jungs aus Schweppenhausen, J. und V., haben sie hier gezeltet und zum Frühstück schon fett was geraucht. Wir gingen zum Zelt, wo schon wieder gekifft wurde. Auch in den Zelten nebenan sah es nicht besser aus. Alle rauchten sich ein für den Tag. Saufen, rauchen, Musik hören. So verbrachten wir den Tag. Gegen zehn Uhr abends erwischte mich der finale Schlag, ein leises Kribbeln in der rechten Hirnhälfte – ab dann nur noch Film gesehen und einen merkwürdigen Pfeifton gehört. Bis drei Uhr war ich dann so höllisch drauf, dass ich wirklich gar nix mehr geregelt bekommen habe. Ich soll selbst alte Freunde nicht mehr wiedererkannt haben.
28. Mai: Party bei A. in Wackernheim. Mache mich nachts mit D. auf den Heimweg. Da wir um drei Uhr nicht mehr zu mir ins Zimmer konnten, weil meine Mutter sofort aufgewacht wäre, gingen wir in die Waschküche unseres Mietshauses. Hier im sauber riechenden Keller legten wir unsere Jacken auf den kalten Betonboden und hatten uns ein bisschen lieb. Und spannend war’s auch noch – hätte ja jeden Moment einer reinkommen können. Später haben wir noch oft darüber gelacht.
14. Juni: Einen Tag habe ich fürs mündliche Abi gelernt, gestern Abend war ich im „Pony Express“ – und dann mache ich zwölf Punkte in Biologie. Damit drücke ich sensationell noch meinen Abi-Schnitt unter drei: 2,9. Abends war dann die Party für den Abi-Jahrgang bei Herrn S. in Mainz. Er hat eine geile Wohnung: riesig, direkt am Rhein, Super-Anlage, zwei Balkons, ein Loveland-Schild an der Schlafzimmertür – und mitten im Wohnzimmer steht ein Flipper. Der Typ ist sowieso vorbildlich: uralte Ente, Freak-Klamotten, Säufer, Kiffer, 43jähriger Studienrat. Eine echte Super-Party, habe mich mit tausend Leuten unterhalten. Mit dem letzten Ingelheimer, der noch fahren konnte, bin ich um vier Uhr abgerauscht.
18. bis 21. Juni: An diesen vier Tagen war unser Abi-Jahrgang in einer CVJM-Baracke oberhalb des Heidelberger Schlosses. Den ganzen Tag hingen wir draußen rum, spielten Fußball oder tranken einfach in den Tag hinein. Zum Frühstück gab es schon Sekt, wobei wir mit den Korken auf den Jesus an der Wand vom Speisesaal zielten. Einmal schlief ich auf einem Tisch, weil in meinem Bett ein Pärchen lag. Mit D. war ich an zwei Abenden in der Disco. Auf einer Wiese mit malerischem Blick auf das beleuchtete Schloss machten wir es uns auf dem Rückweg bequem und waren gerade halb ausgezogen, als noch Leute aus unserem Jahrgang vorbeilatschten. Wir mussten weg und D. verhedderte sich noch in ihrer komplizierten Latzhose. War eine total geile Fahrt.
22. Juni: Der Tag beginnt für mich um neun Uhr in der Schule, wo wir noch die Abi-Zeitung heften müssen. Dann ist die feierliche Zeugnisverleihung. S. und ich haben doch keine Abi-Rede geschrieben, einer aus dem Jahrgang erklärt, warum es von uns keine Rede gibt. Bei Gott, alle Schleimscheißer tragen Anzug oder Kleidchen. Nach dem Sektempfang verziehe ich mich mit ein paar Jungs an eine Tanke, wo wir uns ein paar Sixpacks holen. Nachmittag auf einer Parkbank. Abends dann die Abi-Grillparty auf einer Wiese. Ich gebe mir nochmal die Kanne und sitze irgendwann völlig breit auf einer Bank – mit einer Fanta-Flasche! Neben mir D., die mal wieder total sauer bin, weil ich nichts mehr peile. Der Typ von der JU gröhlt besoffen „Heil Hitler“ und A. will ihn zusammenschlagen, ist aber selbst zu blau dazu. P. pisst in den Kartoffelsalat, von dem der JU-Typ später noch isst. Am Ende werden die Reste des Salats mit Böllern gesprengt. Alles in allem ein ganz gelungenes Fest.
24. Juni: Nachts steigen wir in die Schule ein. Eine alte Tradition, die Frau des Hausmeisters hat ein Fenster offengelassen. Wir öffnen leise den Haupteingang von innen. Ich habe Baumaterial organisiert und wir mauern im ersten Stock den Gang des Lehrerzimmers zu. Über zwei Meter Hohlblocksteine. Das Lehrerzimmer wird geknackt und mit leeren Flaschen vollgestellt, ein verkleideter Leichnam aus alten Kissen wird an der Schuluhr wie an einem Galgen aufgehängt. Schließlich brachten wir ein Schrottauto in die Vorhalle, das mit Anarcho-Sprüchen vollgesprüht ist. Als wir abziehen, werden die Schultüren noch mit Ketten verriegelt.
25. Juni: Offizielle Schulfeier. Man hatte wohl einige Arbeit, unsere Spuren halbwegs zu beseitigen. Das Schrottauto steht jetzt auf dem Schulhof. Die Mauer ist weg. „Ich zeige sie an, Herr Eberling!“ brüllt der Schuldirektor. Was soll’s? Es gibt zwei Fässer Bier und es wird weiter gefeiert. Wir übermalen eine Action-Painting-Wand des Kunstlehrers an der Fassade mit weißer Farbe. Als sich die Party auflöst, machen wir einen Auto-Konvoi durch Ingelheim. Abends ist dann noch eine Feier mit dem Sozialkunde-Leistungskurs bei unserer Lehrerin in Heidesheim. Auch dieser Tag endet erst in den Morgenstunden.
27. Juni: In einer Kneipe werde ich von einem Chemielehrer meiner ehemaligen Schule wegen unseres Artikels „Unter Ratten und Kakerlaken“ in der Abi-Zeitung beschimpft, u.a. als „kapitales Arschloch“. Andere Reaktionen auf den Text von N. und mir: der Schuldirektor möchte mich zu einem Vier-Augen-Gespräch über meine „Beweggründe“ einladen; D.s Eltern schreien sie an, ich wäre ein perverser Kranker und ein Terrorist – ich erhalte Hausverbot; bei fast allen Lehrern, Eltern und den Streber-Schülern gelte ich als Schwein, nur meine besten Freunde und einige andere sind hellauf begeistert – Schulterklopfen, die beiden Artikel von N. und mir sind Tagesgespräch, in den Deutsch-Leistungskursen werden sie im Unterricht besprochen, noch Wochen später sprechen mich Fremde auf die Artikel an. Leider hat fast niemand die Intention der Geschichte verstanden, alle waren nur auf positive oder negative Weise von der Perversität gebannt, obwohl es um einen Atomkrieg ging. Wie bei Upton Sinclair: „Ich wollte die Menschen ins Herz treffen, doch ich traf sie nur in den Bauch.“
29. Juni: Am Abend vorher habe ich bei einer Party eine komplette Flasche Pernod vernichtet. An diesem Morgen habe ich keinen Kater, aber der Rest-Alkohol arbeitet noch munter. Gut gelaunt beschließe ich, ein Buch zu schreiben und bis 15 Uhr sind die ersten beiden Kapitel fertig.
30. Juni / 1. Juli: Diese beiden Tage habe ich mit M., J. und V. glatt und sauber durchgekifft. Keine besonderen Vorkommnisse.
12. Dezember: Wird ja mal Zeit, dass ich von den letzten Monaten berichte. Das Buch („Drei Eimer Scheiße“), in dem es hauptsächlich um Außerirdische und Fäkalien geht, ist tatsächlich fertig geworden. Das abgetippte Original und eine Kopie zirkulieren in Ingelheim – geht wohl von Hand zu Hand – ich habe jedenfalls keins mehr. Ich habe den Führerschein gemacht. Bei der Prüfung hatte ich totales Glück: a) im zweiten Gang losgefahren, b) nach zweihundert Metern den Motor abgewürgt, c) in einer unübersichtlichen Kurve links gefahren, d) beim Einparken fast die Kupplung gefetzt (roch schon), e) auf der Autobahn den Prüfer gefragt, ob ich überholen soll. Er meinte am Ende, ich sei „beschissen“ gefahren, gab mir den Lappen aber doch noch, weil er sowieso schon gekündigt hätte. Und am 2. Januar 1986 beginnt ein neues Kapitel: Zivildienst im Ingelheimer Altenheim – als Urinkellner für zwei Mark die Stunde. Wahnsinn!
Quelle: Tagebuch 1985
Steve'n'Seagulls – Thunderstruck. https://www.youtube.com/watch?v=e4Ao-iNPPUc

Mittwoch, 16. September 2015

Nur mal so zwischendurch

Der Kapitalismus war sich seiner selbst schon in meiner Jugend so sicher, dass man eine Mark in eine Jukebox einwerfen und „Anarchy in the UK“ von den Sex Pistols drücken konnte. Jeder wusste: das Lied ruft niemand wirklich zum Umsturz auf und der Automatenaufsteller hat Geld verdient. Und der Wirt verkauft Getränke an die pseudorevolutionäre Jugend und spart sich eine eigene Anlage. Ich bin so scheißeblöd bis zum heutigen Tag, dass ich kotzen könnte.
The Beastie Boys - No Sleep Till Brooklyn. https://www.youtube.com/watch?v=QkIB7YHbvc8

Was wären wir ohne Andy Bonetti?

„Nichtstun macht nur dann Spaß, wenn man eigentlich viel zu tun hätte.“ (Noël Coward)
Das Bild ging um die Welt. Zumindest war es im Internet. Andy Bonetti hat einem jungen Mann die Hand auf die Schulter gelegt, die andere Hand ruht auf dessen Unterarm. Der junge Mann hat eine Schusswaffe in der Hand, beide lächeln in die Kamera. Bonetti hat die Eskalation eines Streits auf einem Weinfest verhindert.
Diesen kurzen und flüchtigen Ruhm setzt er in den folgenden Tagen mit der Präzision einer Schweizer Toilettenspülung in langfristigen Erfolg um. Er schreibt in einer einzigen Woche sein Meisterwerk „Scheißdreck! Eine Kulturgeschichte der Empörung“. Am 28. November 2015 präsentiert Bonetti im „Schnäppchenparadies Bad Nauheim“ sein neues Buch der Weltöffentlichkeit. Der Zeitpunkt ist mit Bedacht gewählt. Ein grauer, regnerischer und trauriger November liegt hinter uns, es ist das erste Adventswochenende. Deutschland schaltet traditionell vom Höhepunkt der jährlichen Frustration auf den betäubenden Kaufrausch der Vorweihnachtszeit um.
Neben ihm sitzt Lazy Louie von den „Sidewalk Saints“. Der Sänger der lokalen Nachwuchsband ist jener junge Mann, den der hessische Großschriftsteller vor einem Amoklauf bewahrt hat. Bonetti kann sich ganz in der Rolle des bescheidenen Lebensretters und nachdenklichen Künstlers präsentieren, während Lazy Louie mit dem sanften Lächeln eines jungen Rebellen die Geschichte erzählt, wie der Autor und sein neuestes Werk sein Leben verändert haben. Bonetti selbst liest das Kapitel „Warum ich Politiker wie Arschkrebs hasse“ vor, unterbrochen von tosendem Applaus des Publikums. Die Präsentation wird vom hessischen Fernsehen live übertragen und ein solcher Erfolg, dass bereits einen Tag später Raubkopien mit koreanischen Untertiteln im Internet angeboten werden.
Da „Scheißdreck! Eine Kulturgeschichte der Empörung“ schon jetzt als eines der großen und richtungsweisenden Bücher unseres Jahrhunderts gilt, dessen bleibender Wert außer Frage steht, darf ich hoffen, mit einer kurzen Schilderung der Entstehungsgeschichte das geschätzte Interesse all jener Leser zu finden, die sich ernsthaft mit Literaturgeschichte beschäftigen. Bonetti gelingt hier das Kunststück, mit strengem Sinn für die praktische Relevanz und sachlicher Knappheit einen Text zu formulieren, aus dessen Seiten uns dennoch der Zauber einer unvergleichlichen Poesie entgegenweht.

 
Fortsetzung folgt. Stichworte:

Das Skateboard vor dem Bett

Die Wespe beim Frühstück

Der Überraschungsbesuch der Task Force der hessischen Steuerfahndung

Der üble Verriss seines neuesten Krimis „Der Tod des Miniaturentensammlers“ von Lupo Laminetti im „Bad Nauheimer Volksboten“

Die Finalgon-Wärmecreme im Auge

Ganz allgemein das Thema „Rücken“

Der Besuch eines Weinfestes mit Johnny Malta

Der Auftritt der Abstinenzlervereinigung „Schluss mit lustig“

Die Verhinderung eines Blutbads durch den gezielten Wurf eines Schoppenglases

Die anschließende Pressekonferenz und die Stunde im Stau, in der Bonetti die Idee für sein neues Werk „Scheißdreck!“ hat
Nick Cave & The Bad Seeds - The Ship Song. https://www.youtube.com/watch?v=q4VWKbZkIcM

Dienstag, 15. September 2015

Der fabelhafte Frühling 1985

„We were the class they couldn’t teach.“ (Police: Born in the 50’s)
30. März: Der erste Ferientag meiner letzten Ferien. Die letzte Woche habe ich eigentlich relativ gut abgeschnitten. In Mathe habe ich sensationelle fünf Punkte in der Klassenarbeit bekommen, kriege ich also keine null Punkte im Zeugnis, falle ich deswegen auch nicht durch’s Abi. Geil! Dienstags habe ich im Kino einen neuen Monty Python-Film gesehen, Mittwoch auf dem Treffen des Abi-Jahrgangs durchgesetzt, dass in irgendeiner Nacht der Gang vor dem Lehrerzimmer zugemauert wird, und Donnerstag gelang es mir sogar, D. mal wieder zu verführen. Gestern war der letzte Schultag mit 45 Minuten bei Frau Schmitt, die aus dem Buch „Der klerikale Witz“ vorgelesen hat. Es gibt Menschen, die können brutal humorlos sein. Heute habe ich meine schriftliche Begründung zur Kriegsdienstverweigerung angefangen, aber während ich an der Schreibmaschine saß, kamen M. und J. vorbei. M. hatte einen Brocken Super-Shit, den wir sofort zu einem gigantischen Tütchen verbauten. Dann gingen wir zu V. rüber. Es wurde ein total geiler Abend, Musik gehört und nichts mehr geregelt gekriegt. Ich habe gelacht, was die Lungen hergaben. Wir sahen dann noch einen alten Film im Fernsehen, wo so Steine die ganze Zeit wachsen. Wir trampten später nach Stromberg, sind dort mit ein paar Flaschen Wein rumgeflogen und waren in der Disco.
1. April: Morgens schrieb ich die Verweigerung fertig, hab einfach alles von einem Schulfreund abgeschrieben. Nachmittag bei N. wegen des Deutsch-Referats. Wir haben aber nur irgendeinen süßen klebrigen Likör in uns reingeschüttet. Danach war ich bei D. – übrigens alles mit dem Rad, weil meine Busfahrkarte abgelaufen ist. Sie hat natürlich schon an der Tür meine Fahne gerochen. Ich glaube, wir könnten das glücklichste Paar werden, wenn sie auch so dekadent wäre wie ich. Aber sie kifft nicht, säuft nicht und raucht noch nicht mal. Übrigens lernt sie schon fürs Abi. Als ich rauskomme, ist mein Rad total demoliert, Reifen abgestochen usw. Ich gehe also zu Fuß nach Hause. Wozu brauche ich ein Fahrrad? Ich wollte ja sowieso demnächst den Führerschein machen.
2. April: Vormittags habe ich das Geld für meine AZ-Artikel kassiert und das Layout für meine Abi-Zeitungsartikel gemacht. Abends trampte ich zu P. nach Gau-Algesheim. Wir diskutierten über Tod und Dritte Welt. Er hat überhaupt keine Beziehung zum Leben und sieht alles sehr zynisch. „Klar kauft der Flick sich die Politiker, würde ich auch machen, wenn ich Geld hätte, Gerechtigkeit gibt’s doch gar nicht“. An sowas wie Liebe glaubt er nicht und will Selbstmord begehen, falls er querschnittsgelähmt würde oder eine hässliche Narbe im Gesicht hätte oder Krebs. Behinderten rät er, lieber gleich Schluss zu machen, er hat mir seinen Schlaftablettenvorrat schon gezeigt. Im Falle des Atomkriegs würde er Musik hören und Nuss-Eis essen, bevor er versaftet wird. Auf dem Heimweg habe ich wohl noch zwei Mercedes-Sterne abgebrochen, denn die waren am nächsten Tag in meiner Jackentasche.
3. April: Kater, Rollläden bleiben unten, obwohl draußen das blitzsaubere Wetter vor der Tür steht und rein will. Chaos im ganzen Zimmer. Das ist nichts neues, aber jetzt, wo ich den Kram fürs Abi-Lernen sortieren will, ist es ganz aus. Ich finde den zweieinhalbseitigen Anfang einer Geschichte, die ich wohl letztens unter dem Eindruck meines derzeitigen Kafka-Trips begonnen habe. Abends war Abi-Zeitungs-Treff. Ich war einer der wenigen, die wirklich einen Artikel geschrieben haben. Wir sitzen draußen, paffen gemütlich unseren Halfzware weg und einer liest vor. Abends war ich mit J. im „Haus der Jugend“, wo ein Werner Herzog-Film über Aborigines und irgendwelche grünen Ameisen lief. Danach gingen wir in den „Stillen Zecher“, um ein paar Bierchen zu zoschen. Die Wirtin und ein harter Kern später Gäste saßen total besoffen am Stammtisch. Trotzdem bediente sie uns noch. Wir amüsierten uns köstlich über diese Rasselbande. Wir diskutierten über Philosophie. Vor einem Jahr, als wir noch unsere Sauf-Sessions auf dem Kinderspielplatz gemacht haben, hätten wir nur darüber diskutiert, wieviel Bier in einen reingeht und wieviel wo wieder rauskommt.
4. April: Bin früh und mies gelaunt aufgestanden, da ich die ganze Nacht geträumt habe, mir würden Leute von oben auf den Kopf kotzen. Vormittags war ich bei den Bullen, wegen einem polizeilichen Führungszeugnis für die Kriegsdienstverweigerung. Nachmittags zog ich die Jeans-Jacke an – damit ist der Sommer offiziell eröffnet – und fuhr mit U. zu S. Es war total warm und wir saßen die ganze Zeit im Garten, tranken Gin-Tonic und versuchten, die Rede für die Abi-Feier am 22. Juni zu schreiben. Über die total unlustige Anrede „Meine eher versehrten Lahmen und Leeren“ sind wir aber nicht hinausgekommen.
Abends traf ich M., der die glorreiche Idee hatte, einfach mal loszutrampen und dann zu sehen, wo man rauskommt. Ein Typ, der uns die ganze Zeit was von Gott erzählte, nahm uns bis zur Ingelheimer Post mit, wo wir der fahrenden Kirche mit unseren Weinflaschen entstiegen. Dort hingen ein paar Leute mit einem Kasten Bier rum und wir blieben eine Weile. Um halb zwölf gingen wir in den „Club“. Dort wollten wir ein Piece anchecken, es ging aber nix ab. Später waren wir noch im „Pony Express“, haben ein Guiness getrunken und uns mit zwei Pizzas auf eine Parkbank gesetzt. Frisch gestärkt ging es zur Autobahnauffahrt. Wir hatten Glück, es hielt sofort jemand, der uns nach Bingen mitnahm. Dort war nicht mehr viel los, inzwischen war es schon zwei Uhr. Ein oder zwei Bier in der Bahnhofskneipe. Wir trampten bis Weiler und wollten zu Fuß nach Schweppenhausen. Auf der Landstraße sprangen irgendwelche Kröten herum. M. suchte die ganze Zeit mit seinem Feuerzeug Kröten und wollte ihnen über die Straße helfen.
Drei Uhr. Kein Auto weit und breit. Wir schleppten uns über die Straße und versuchten, während dem Gehen ein bisschen zu schlafen. Plötzlich hielt ein Auto. Ein Bulle auf dem Rückweg von einer Razzia im Ingelheimer Asylantenheim. Er fuhr uns bis nach Stromberg. Dort trafen wir auf dem Marktplatz ein lustiges Sammelsurium von Leuten. Ein Bayern-Fan, der von irgendwelchen Meisterschaften erzählte, ein bärtiger Brillen-Gnom, der vorbeifahrenden Autos zuwinkte und mir dann immer verschämt zuflüsterte, er kenne die Leute gar nicht, ein junger Prolet, der nie was sagen durfte, weil ihn der Bayern-Fan nicht ausreden ließ, und ein Typ, der es fertig brachte, noch besoffener zu sein als alle anderen. Er fragte uns immer, wo wir hinwollten, und versprach uns dann, uns nach Schweppenhausen zu bringen. Der Bärtige hatte mir aber inzwischen zugeraunt, dass dieser Typ weder Führerschein noch Auto hätte. Die Nummer wiederholte sich alle fünf Minuten. Dann kam noch ein Berg von Kerl wankend hinzu. Er blieb nur kurz und stolperte dann auf ein Haus am Marktplatz zu, das er offenbar bewohnte. Er drohte, uns mit seiner abgesägten Schrotflinte vom Balkon aus abzuknallen, wenn wir zu laut würden.
Inzwischen war es vier Uhr und mit Trampen war es wohl nichts mehr. Wir liefen wieder los und nahmen die Abkürzung über eine Wiese. Doch dann hörten wir ein Auto. M. lief wie ein Irrer los, ich lachte ihn schallend aus. Aber das Auto hielt und ich rannte auch los. Was soll ich sagen? Es war V. mit einigen Freunden, gerade zurück aus dem „Revolution“ in Simmern. Eine Sekunde später landeten wir in Schweppenhausen.
5. April: Schon um zehn Uhr musste ich entnervt das Bett verlassen. Es ging zu Oma und Opa nach Klingelbach. Oma hat irgendwo Geld versteckt und findet es nicht mehr. Sie hat sich dann einfach auf die Treppe gesetzt, einen hysterischen Schreikrampf gekriegt und mal wieder mit Selbstmord gedroht. Sie lebt übrigens in einer Blutfehde mit Opa. Beim Essen der zweite Anfall, mein Vater kann gerade noch verhindern, dass sie mit einem furchterregenden Küchenwerkzeug auf Opa einschlägt. Sie hält ihn für einen Spion. Er will sie in die Irrenanstalt einweisen lassen, was ihm jedoch nicht gelingt, weil man einem Alkoholiker sowieso nichts glaubt. Jetzt (drei Uhr nachmittags) bin ich endlich hier im Wohnzimmer allein und beende diese Niederschrift (Oma sucht Geld, Opa ist in der Kneipe), während mein Vater denkt, ich säße an meinen Abi-Vorbereitungen. Ich sehe zu ihm rüber. Wenn er das hier lesen könnte …
Quelle: Tagebuch 1985
David Bowie – Loving the Alien. https://www.youtube.com/watch?v=IJLkjjtUb10

Montag, 14. September 2015

Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!

Erklärung von Theodor Knall, Vorsitzender der Freiwilligen Wähler Hunsrück-Ost:
„Wenn jetzt von Bayern Solidarität bei der Verteilung der Flüchtlinge gefordert wird, kann ich nur lachen: Ha ha. Wo war denn die vielbeschworene Solidarität der Bayern beim Thema Länderfinanzausgleich? Da wollten sich die reichen Bayern bekanntlich davonstehlen. Und warum sind sie so reich? Weil die Wirtschaft brummt. Na also. Dann können die Unternehmen auf der anderen Seite des Weißwurstäquators doch zusätzliche Arbeitskräfte gebrauchen. Für uns in Rheinland-Pfalz ist Bayern jedenfalls ein sicheres Herkunftsland. Wir fordern Kontrollen an den Grenzen zum Freistaat Bayern! Der Zugverkehr Richtung Würzburg, Augsburg und München muss unverzüglich eingestellt werden. Unsere Ministerpräsidentin Dreyer sollte sich baldmöglichst mit dem ungarischen Junta-Chef Orban treffen. Am Freitag beginnt die Schweppenhäuser Kerb und ich weiß nicht, wie unsere Betrunkenen auf den Anblick von hungernden und frierenden Flüchtlingen reagieren werden. Haben wir denn gar kein Recht auf ein bisschen Spaß? Und unsere Turnhalle brauchen wir übrigens selbst.“
Nick Lucas - Tip-toe Through the Tulips. https://www.youtube.com/watch?v=0zqVIODzUlc

Viel Rauch um nichts

Die älteren Leser werden sich noch an ihn erinnern. Früher kämpfte er um die Aufrüstung, später zeigte er Verständnis für Diktatoren in aller Welt. Er hat nach seiner Zeit als Bundeskanzler aus einem großen Saftladen einen kleinen gemacht („Die Zeit“). In den letzten Jahren kämpfte er nur noch gegen das Rauchverbot: Helmut Schmidt.
Zahllos sind seine Auftritte in Fernzügen, Talkshows und Theatern, wo er trotz bestehenden Verbots eine Mentholzigarette nach der anderen rauchte. Strafanzeigen glitten an ihm ab wie Selbstzweifel an Chuck Norris. Seine Lieblingsband heißt „Smokie“, sein Lieblingsfilm ist „Fog – Nebel des Grauens“. Und im Fernsehen hat er immer „Rauchende Colts“ gesehen. Ein aufrechter und furchtloser Kämpfer für den deutschen Raucher, der längst in Reservate verbannt wurde und den Winter zitternd in Hauseingängen verbringen muss.
„Wissen Sie, ich versuche, mich an die Gesetze zu halten. Aber es ist gar nicht so leicht, den Überblick zu behalten, wo was erlaubt und verboten ist. Das ist einfach Quatsch.“ (Helmut Schmidt)
Nach meinen knallharten Recherchen hat er mit seiner späteren Frau Loki schon geraucht, als er elf und sie zehn Jahre alt war. Helmut Schmidt raucht also seit 1929. Er hat schon in der Weimarer Republik geraucht. Er hat das komplette Dritte Reich durchgequalmt, in der Besatzungszeit, während der deutschen Teilung und als die Mauer fiel, hat er sich vermutlich gerade eine Kippe angezündet. Der Mann raucht seit 86 Jahren und hat selbst den Marlboro-Mann überlebt. Wenn wir von geschätzten hundert Zigaretten am Tag ausgehen, hat er in dieser Zeit über drei Millionen Fluppen gequarzt. Das ergibt aneinandergereiht die Strecke von der Erde bis zum Mond.
Nur wegen Helmut Schmidt habe ich noch nicht mit dem Rauchen aufgehört. Krankenkassen, Ärzten und Apothekern gegenüber habe ich immer mit seinem Beispiel argumentieren können. Und der Mann war immerhin der letzte sozialdemokratische Bundeskanzler (Schröder zählt nicht). Und jetzt das: Old Teerlunge Schmidt hat mit dem Rauchen aufgehört und ernährt sich seitdem von Nikotinpflastern. Ich bin fassungslos, traurig, bestürzt und was es an Betroffenheitsgedöns noch so gibt. Der Lotse geht von Bord. Die Welt ist eine andere geworden.
Matt Bianco - More Than I Can Bear. https://www.youtube.com/watch?v=r1RK25XleEE
P.S.: Qualitätsjournalismus bedeutet für mich, sämtliche Quellen offenzulegen. http://www.welt.de/politik/article1596445/Sie-gaben-sich-ihr-Leben-lang-Feuer.html

Sonntag, 13. September 2015

The Bonetti Tales

„Schreiben ist das einzige, was deinem Alkoholismus Glaubwürdigkeit verleiht.“ (Stewie Griffin)
„Ich werde 2017 zur Wahl des Bundespräsidenten antreten“, sagte Andy Bonetti am Ende einer langen, ziemlich wirren Rede bei den MTV Video Music Awards in Los Angeles.
„Politik ist in der Theorie banal und in der Praxis so komplex wie Atomphysik.“ (Andy Bonetti in der Talkshow „Minervas Butterfahrt“ auf Canale Grande am 14.8.2015)
Ein bedeutungsloser Zellhaufen mit Realschulabschluss namens Björn Heuberg behauptet, als Ghostwriter Bonettis Welterfolg „Manfred Potter und der Stein der Weisen“ geschrieben zu haben. Bonettis Anwälte haben ihn auf alles verklagt, was er hat, was nicht viel sein dürfte.
Es sind einige alte Schriften aufgetaucht, die der Meister unter dem Namen „Kid Bonetti“ veröffentlicht hat: „Der Tote vor dem Kaugummiautomaten“, „Der Tod ist eine Insel“ und „Noch mehr Tote vor dem Kaugummiautomaten“.
Andy Bonetti hat seine spätere Ehefrau Mandy in einer Splenomegalie-Selbsthilfegruppe an der Volkshochschule Bad Nauheim kennengelernt. Es stellte sich bei einem Mint Julep am Tresen einer Cocktailbar heraus, dass sie ihre Erkrankung nur simulierten, um andere Leute kennenlernen zu können. Beide haben bis heute ihre Milz.
Gossip, mit dem man in einer Cocktail-Bar außerhalb Bad Nauheims Eindruck schinden kann: Die Villa Bonetti basiert in ihrem Grundriss auf den Arbeiten des italienischen Renaissance-Architekten Andrea Palladio.
Bonettis erste Band „Death Grunt“ wurde nach dem ersten Konzert vom hessischen Verfassungsschutz verboten. Wegen Unfähigkeit.
Incoming Warts-Ab-Message 8:14 PM: „Bin in Grönland angekommen. Recherchen für das Eskimo-Dramolet ‚Eisland ist Scheißland‘, das Remake von Hark Bohms ‚Nordsee ist Mordsee‘ unter verschärften klimatischen Bedingungen, aber wieder mit der Musik von Udo Lindenberg, laufen. Kein Rotwein, viel Fisch.“
Demnächst in einer weiteren Episode der heiteren Serie „Wanderer, kommst du nach Bad Nauheim“: Der Künstler Johnboy Bodycello, die Köchin Rosemary Parsley, der Rentner Jebediah Bedfeather und der Umweltschützer Biodegradable Bob.
„Gute Nerven und Humor, das ist es, was man im Leben braucht. Manche sagen, man brauche gute Beziehungen und Geld. Aber ich sage: gute Nerven und Humor sind das Allerwichtigste.“ (Andy Bonetti im ZEIT-Gespräch mit Viktor Fälmy)
Ein Gourmet wie Bonetti isst schon lange keine Burger mehr, aber er lässt sich von seinem Koch Creepy Pizzaiolo gerne einmal ein Rinderhackfleischmedaillon an einem Dialog von Focaccia, frischem Tomatenragout und Salaten der Saison zubereiten.
Hätten Sie’s gewusst? Andy Bonetti war zusammen mit seiner Jugendfreundin Cordula Katzenfell der letzte deutsche Meister im Charleston-Tanz. Das war im Mai 1987 in der Subkulturhalle Rodgau.
Hätten Sie wenigstens das gewusst? In Paraguay nennt man frittierte Geflügelwürstchen im Maismehlmantel „Bonettinjos“. Werden die Würstchen im Rahmen eines Kartoffelsalats zusammen mit Bier und geriebenem Parmesan serviert, spricht man auch von einer „Bonettinata Grandioso“.
Und demnächst soll ein hochprozentiger „Brandy Bonetti“ auf den Markt kommen.
Lesen Sie nächste Woche in „More Bonetti Tales“:
Bonettis Mutter Felicitas bekommt in Kopenhagen eine indonesische Spenderaugenbraue transplantiert.
Sein Kochbuch zur aktuellen Entwicklung der österreichischen Küche, „Schlupfndupfl mit Kren“, wird im Herbst im Programm des ORF präsentiert.
Das exklusive Bonetti-Smartphone von Wakajawaka Heavy Industries wird auf der Absolutmedia in Schwerin vorgestellt. Es hat die typische Form einer Buchseite, allerdings mit abgerundeten Ecken.
Funny van Dannen – Schilddrüsenunterfunktion. https://www.youtube.com/watch?v=YlfL7Oe5dAI

Samstag, 12. September 2015

Hans Fallada

Jablonskistraße 55, Prenzlauer Berg. Eine kleine Wohnung: Wohnküche, Schlafzimmer. Toilette auf halber Treppe. Ein Arbeiterehepaar. Und dann kommt ein Brief, der ihr Leben verändert. Ihr Sohn, ihr einziges Kind, ist im Krieg ums Leben gekommen. Sie beschließen, selbst Karten und Briefe zu schreiben. Gegen den Krieg, gegen die Diktatur. Sie legen ihre Botschaften in belebten Treppenhäusern aus. Polizei und Geheimdienst sind schon bald hinter ihnen her. Sie ahnen es schon: Die Geschichte geht nicht gut aus. Weder im wahren Leben, noch im Roman von Hans Fallada.
Denn diese grausame Geschichte aus der Zeit der Finsternis ist wirklich passiert. Sie ist aus Unterlagen der Gestapo rekonstruiert. Die realen Vorbilder waren die Widerstandskämpfer Otto und Elise Hampel aus dem Wedding (eine Gedenktafel in der Amsterdamer Straße 10 erinnert noch heute an sie). Die Erzählung Falladas, die im Prenzlauer Berg beginnt und - bis auf wenige Szenen im Umland - ausschließlich in Berlin spielt, endet in Plötzensee. „Die Einzelzelle des Totenhauses ist nun seine letzte Heimat auf dieser Erde. (…) Die zum Tode Verurteilten haben nur noch den Tod zum Gefährten, so will es das Gesetz.“
Als der Krieg endlich vorbei ist, schreibt Rudolf Ditzen, so der bürgerliche Name Falladas, den umfangreichen Roman (866 Schreibmaschinenseiten) in nur dreieinhalb Wochen. Zu diesem Zeitpunkt ist er aufgrund seiner Drogen- und Alkoholsucht in der Nervenklinik der Berliner Charité. Es ist sein letztes großes Werk. Drei Monate später ist er tot. „Jeder stirbt für sich allein“ ist ein Buch, das die Innenwelt des Nationalsozialismus beschreibt: Gewalt, Angst, Verrat, Fanatismus, Tod. Die Hoffnungslosigkeit einer kaputten Welt. Im Dritten Reich zeigen sich die widerlichsten Charaktereigenschaften des Menschen. Und ich erschrecke beim Lesen immer wieder, denn einige Szenen spielen in meinem alten Kiez zwischen Prager Platz und Nollendorfplatz.
Im nächsten Jahr kommt die Verfilmung ins Kino („Alone in Berlin“), im Frühling haben die Dreharbeiten begonnen. Das Buch war vor einigen Jahren in den USA, in Großbritannien, Frankreich und Israel ein Bestseller. In Deutschland wurde die Neuausgabe über dreihunderttausendmal verkauft. Der Freund, der es mir geliehen hat, sagte noch, dagegen sei Kafkas Prozessroman ein heiterer Sommerspaziergang. Harter Stoff. Deprimierend. Brutal. Bis zur Hinrichtung, die mit schmerzhafter Präzision geschildert wird. Eigentlich ist es nicht zu ertragen. Aber es lohnt sich.
The Cure - Charlotte Sometimes. https://www.youtube.com/watch?v=Wih15YiH9UY

Freitag, 11. September 2015

Salvador Allende

Der 11. September ist ein Datum, das wir mit dem Terrorismus verbinden. Ein Tag, an dem wir an Amerika denken. Die USA waren Opfer – und sie waren Täter. Der 11. September 2001 – der 11. September 1973. An diesem Tag fand in Chile der blutige Putsch von General Pinochet gegen Präsident Allende statt.
Die CIA hatte bereits zehn Jahre zuvor begonnen, die öffentliche Meinung gegen die sozialistische Partei von Salvador Allende zu manipulieren. Als Richard Nixon an die Macht kam, wurden die Maßnahmen des US-Geheimdienstes verschärft. Neben der finanziellen Unterstützung wurden Waffen geliefert. Rechtsradikale Gruppierungen, die nicht nur dem Sozialismus, sondern auch der Demokratie feindlich gegenüberstanden, wurden von den Vereinigten Staaten ausgerüstet. Übrigens hat die CIA auch den Bundesnachrichtendienst wenige Tage vor dem geplanten Putsch informiert.
Der Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte General Augusto Pinochet lässt am 11. September 1973 den Präsidentenpalast stürmen. Allende hält seine letzte Ansprache an das Volk – die nur von einem einzigen Radiosender übertragen wird, da die Luftwaffe zuvor alle Radiostationen bombardiert hatte.
„In diesem historischen Moment werde ich die Treue zum Volk mit meinem Leben bezahlen. (...) Sie haben die Macht, sie können uns überwältigen, aber sie können die gesellschaftlichen Prozesse nicht durch Verbrechen und nicht durch Gewalt aufhalten. Die Geschichte gehört uns und sie wird durch die Völker geschrieben. Arbeiter meiner Heimat: Ich möchte Ihnen für Ihre Treue danken. (...) Es lebe Chile! Es lebe das Volk! Es leben die Arbeiter! Dies sind meine letzten Worte und ich bin sicher, dass mein Opfer nicht umsonst sein wird, ich bin sicher, dass es wenigstens ein symbolisches Zeichen ist gegen den Betrug, die Feigheit und den Verrat.“
Allende scheidet aus dem Leben, als die Lage im Regierungsgebäude aussichtslos geworden ist. Der Diktator Pinochet lässt Konzentrationslager einrichten, viele tausend Menschen werden von seinen Schergen ermordet. Der berühmte US-Ökonom Milton Friedman und seine Schüler, die „Chicago Boys“, legen nach diesem Putsch ein umfangreiches Wirtschaftsprogramm vor. Mit finanzieller Unterstützung der CIA arbeiten zehn Ökonomen seit 1972 an diesem Programm. Chile wird das erste Versuchsfeld des Neoliberalismus. Die Reallöhne sinken in der Folge um 60 Prozent (noch 1983 liegen sie 13 Prozent unter den Löhnen von 1970), die Arbeitslosigkeit verdoppelt sich. Der unheilvolle Aufstieg dieser Ideologie, die uns bis heute beherrscht, beginnt an diesem 11. September vor 42 Jahren.
K.I.Z. - Hurra die Welt geht unter ft. Henning May. https://www.youtube.com/watch?v=XTPGpBBwt1w&feature=share