Sonntag, 27. September 2015

Andy Bonetti und das fünfte Element

„Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben.“ (Franz Kafka: Die Sorge des Hausvaters)
Es war früher Morgen und die Luft war angenehm kühl. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber ein majestätisches Blau zeichnete die Silhouette der Berge an den Horizont. Andy Bonetti saß auf der Veranda seiner Villa in Bad Nauheim, in einen bordeauxroten Morgenmantel gehüllt, und ließ sich seinen Tee servieren. Das Schiff hatte gestern die Zeitungen gebracht und so las er vergnügt die vier Wochen alten Nachrichten aus fernen Ländern. Die Geschichte, die ich erzählen möchte, spielt zu einer Zeit, als die Stadt noch nicht ihren spätviktorianischen Charme verloren hatte und die liebenswerte Eleganz einer älteren Dame aus guter Familie verströmte, die bei selbstgebackenen Cremetörtchen von längst vergangenen Zeiten erzählt.
Als Bonetti gegen acht Uhr sein erstes Frühstück einnahm - Rührei mit Käse und Tomate, eine Brioche und Aprikosensaft – wurde ihm von seinem Kammerdiener Johann Besuch gemeldet. Der weltbekannte Schriftsteller war überrascht, da er so früh niemanden erwartet hatte, ließ den Gast aber unverzüglich in den Speisesaal bitten.
Ein großer Mann um die fünfzig in einem champagnerfarbenen Dreiteiler betrat daraufhin den Raum. Sein Bauch quoll über den Gürtel wie der Teig eines Muffins über das gefaltete Papierförmchen.
Er machte eine für seine Unförmigkeit erstaunlich tiefe Verbeugung und sagte: „Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung, dass ich Sie um diese Uhrzeit störe. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Kuno von Prall. Ich leite das Bernstein-Institut für angewandte Elementardiagnostik. Wir erfreuen uns schon seit vielen Jahren Ihrer freundlichen und überaus großzügigen Unterstützung.“
Bonetti bot dem Herrn einen Sitzplatz an und überlegte kurz, aber den Namen des Instituts hatte er noch nie gehört. Er unterstützte jedoch unzählige Forschungseinrichtungen und wohltätige Organisationen, so dass es ihm nicht im Geringsten verdächtig vorkam.
„Was kann ich für Sie tun, Herr von Prall?“
Der Besucher ließ sich vorsichtig und umständlich auf die Sitzfläche eines schweren Ledersessels nieder, der ihn knarrend und stöhnend in sich aufnahm.
„Es geht um ein neues Element, das wir gefunden haben. Das fünfte Urelement.“ Der Wissenschaftler wischte sich mit einem großen Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn.
Bonetti kannte natürlich die vier klassischen Elemente Wasser, Feuer, Erde und Luft. „Wo haben Sie es denn gefunden?“
„In einer Höhle tief unter der Stadt. Sie wissen ja vermutlich, dass der Untergrund Bad Nauheims der Gegenstand zahlreicher Expeditionen und Forschungsprojekte ist.“, antwortete Kuno von Prall.
„Wirklich sehr interessant“, sagte Bonetti, während er sich im Stillen fragte, was der Mann wirklich von ihm wollte.
„Wir haben das neue Urelement Bonettinum genannt, nach Ihnen.“ Und nach einer Pause, in der er die Wirkung seiner Worte beobachtete, fügte er hinzu. „Ich würde es Ihnen gerne zeigen.“
Das schleimige Lächeln glitt an Bonetti ab wie kaltgepresstes Olivenöl. Also Geld, dachte er. Der Mann braucht Geld für seine Forschungszwecke. Ein Bittsteller. Was für eine traurige Gestalt. Womöglich sammelte er Porzellanclowns mit aufgemalten Tränen. Dennoch war seine Neugier geweckt. Das fünfte Element. Bonetti beschloss, dem rätselhaften Wissenschaftler in sein Labor zu folgen.
Vor Bonettis Anwesen wartete ein Landauer, der von zwei schwarz schimmernden Pferden gezogen wurde. Auf dem Kutschbock saß ein alter Mann mit einem hellgrauen Zylinder, in dessen ausdruckslosem Gesicht eine knollenförmige rote Nase wie ein Furunkel leuchtete. Die Fahrt ging durch die Chinatown von Bad Nauheim, die an diesem Morgen schon sehr belebt war. Die rätselhaften Schriftzeichen leuchteten an den Fassaden, fliegende Händler boten lautstark ihre Waren an und sie kämpften sich durch ein Gewimmel von Lastenträgern und Rikschas.
Dann kamen sie in einen Vorort namens Guntersblum. Er war noch nie an diesem Ort gewesen und doch kam er ihm seltsam vertraut vor. Die schmalen Gassen mit den heruntergekommenen Häusern erinnerten Bonetti an seine Kindheit. Sein Vater verdiente damals sein Geld als Vogelstimmenimitator in den umliegenden Gasthäusern und er selbst begleitete ihn häufig, sammelte das Geld ein und verkaufte nebenbei Streichhölzer. Die Schachteln hatte er zuvor mit Reproduktionen von zeitgenössischen Kupferstichen beklebt, die Bad Nauheim im Wandel der Zeit darstellten. Dafür ließen sich leicht dreißig Pfennig und mehr erzielen. Im Einkauf kosteten zehn Schachteln „Welthölzer“ damals noch fünfzig Pfennig. Es war die Zeit des Zündholzmonopols, dass der schwedische Industrielle Ivar Kreuger gegen einen Kredit an die deutsche Reichsregierung 1930 erwarb. Kreuger machte zwar zwei Jahre später Bankrott und erschoss sich in Paris, sein Monopol auf den Verkauf von Streichhölzern in Deutschland hatten die Schweden aber noch bis 1983. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das Forschungsinstitut am Rande der großen Stadt war wie eine Warze in der Achselhöhle: zu klein, um zu stören, zu unbedeutend, um entfernt zu werden, aber dennoch vom warmen Blut des Körpers, also von kommunalen Steuergeldern und Spenden, sanft durchströmt. Nur ein halbes Dutzend Wissenschaftler arbeiteten am Bernstein-Institut für angewandte Elementardiagnostik. Das Gebäude wirkte baufällig, es mochte vor langer Zeit einmal ein herrschaftlicher Wohnsitz gewesen sein. Der Vorgarten war verwildert, eine umgestürzte Statue lag im hohen Gras.
Kuno von Prall bat den Schriftsteller ins Gebäude. In der Vorhalle war niemand zu sehen. Wie aus weiter Ferne hörte man das Ticken verschiedener Uhren. Der Wissenschaftler führte seinen Gast in einen Seitentrakt und öffnete die Tür zu seinem Labor. Es war fast völlig dunkel, die Fensterläden waren verschlossen. Dann sah er es. Es lag auf dem Schreibtisch des Forschers und war etwa so groß wie eine Faust.
Das Bonettinum schimmerte dunkelblau. Es sah aus, als sei es aus einzelnen Kristallen zusammengesetzt. Seine Oberfläche war aber samtweich und warm. Unter seiner Hand vibrierte es leicht. Es hätte Bonetti nicht gewundert, wenn es wie eine Katze geschnurrt hätte. Und tatsächlich hörte man ein leises Wispern, wenn man es ganz nah an sein Ohr hielt.
T. Rex – Hot Love. https://www.youtube.com/watch?v=fwC-GUHL2gU

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