Samstag, 26. Dezember 2015

Berliner Asche, Kapitel 2, Szene 5

Mardo war ganz froh, dass er das „Seven Heavens“ für eine Weile verlassen konnte. Yasmin, Julias beste Freundin aus dem Kiez, hatte ihn abgelöst. Falls die Geschäfte so gut liefen, dass seine Hilfe benötigt wurde, konnte er jederzeit zurückkommen. Die indische Reisegruppe hatte für etwas Entspannung in der Ladenkasse gesorgt. Mardo genoss die sommerliche Wärme auf dem Bürgersteig und blinzelte zufrieden in die Sonne, als sein Kumpel Marek des Weges kam.
„Mensch, Jan, hast du schon gehört? Der Mord an dem Spekulanten?“ Marek Smrz grinste über die gesamte Breite seines Gesichts. „Die Sache heute Nacht?“ fragte Mardo.
„Na klar, habe eben mal bei indymedia geschaut. Die Szene ist in hellem Aufruhr!“ Indymedia war eine Internetseite, auf der sich vorwiegend Linksalternative und Linksradikale tummelten.
Mit Mareks Szene hatte Mardo nichts zu tun. Er fühlte sich zwar links, aber was hieß das genau? Gerechtigkeit war für ihn ein großes Thema. Die Reichen waren zu reich, die Armen zu arm. Er hatte in seinem Leben festgestellt, dass die meisten Menschen es sehr schätzten, wenn der Lebensstandard in der Nachbarschaft ungefähr gleich war. Wenn zum Beispiel jeder ein Auto hatte und die Autos hatten unterschiedliche Namen, Farben und Tachostände. Aber nicht einer mit zehn Autos und einer ohne Auto. Als Migrantensohn mochte er es natürlich nicht, wenn jemand auf seine teutonische Herkunft besonders stolz war. Mardos Vater war Portugiese, seine Mutter Tschechin.
Links ist international, rechts ist national. Was die großen Parameter anging, hatte er einen festen politischen Standpunkt und ein gesundes Misstrauen gegenüber jeder Einmischung von außen oder von oben. Aber es gab so viele linke Strömungen, so viele Gruppen und Bürgerinitiativen mit so vielen Theorien und Thesen, dass es ihn verwirrte. Er hatte sich deshalb entschlossen, sich immer nur an konkreten Sachfragen zu orientieren und den Rest den Ideologen zu überlassen.
„Ich will gerade zu einem Treffen der linken Szene. Da geht nach dem Mord bestimmt die Post ab. Kommst du mit?“ Marek klang regelrecht begeistert.
„Ich weiß nicht. Gibt es denn schon ein Bekennerschreiben? Ich habe die letzten Stunden gar nichts mehr gehört.“ Mardo war ein wenig unschlüssig. Bei diesem schönen Wetter eine endlose Diskussionsrunde irgendwo in Kreuzberg besuchen? Es gab Dinge, die mehr Spaß machten. Andererseits hatte es einen solchen Fall noch nie gegeben. Mardo erinnerte sich jedenfalls nicht daran. Natürlich hatte es früher Terrorismus gegeben, die RAF und irgendwelche revolutionären Zellen. Aber das war lange vor seiner Zeit gewesen, das war Teil der Geschichte, aber nicht Teil seiner Realität. Heute waren rechtsradikale oder islamistische Terroristen die größte Gefahr.
„Nein. Niemand weiß etwas. Der Immobilienfritze ist in seinem Auto verbrannt. Im Netz heißt es, der hätte hier in Berlin glänzende Geschäfte gemacht und hätte die rechte Szene unterstützt. Passt doch alles.“
Marek Smrz vertrat in der linken Szene das von ihm entwickelte Theorem des minimal-invasiven Lebensstils. Das hieß: so geringe Eingriffe in die Umwelt wie möglich, Drosselung des persönlichen Verbrauchs und der Aktivitäten. Smrz lehnte beispielsweise Fahrräder ab – über Autos wurde hier schon gar nicht mehr diskutiert -, weil sie ebenfalls industriell aus Metall und Kunststoff hergestellt wurden. Man solle alles zu Fuß erledigen, für unabwendbare Reisen nehme man die öffentlichen Transportmittel. In den strengen Grenzen dieses Konzepts gab es natürlich nur sehr geringe Möglichkeiten für eine Erwerbstätigkeit, beispielsweise in einer selbstverwalteten Werkstatt im eigenen Kiez. Außerdem ließ sich seine Idee wunderbar mit den Boykottlisten verbinden, an denen in linken Kreisen akribisch gearbeitet wurde. Wenn man den Kapitalismus ins Herz treffen wollte, durfte man nicht moralisch argumentieren, sondern musste auf die Brieftasche der Konzerne zielen. Also: keine amerikanischen Produkte, weil man damit den US-Imperialismus und Angriffskriege unterstützt, kein Ikea-Plunder, weil man damit den skandinavischen Faschismus unterstützt, Fairtrade-Zeugs kaufen usw. – wem das alles zu kompliziert wurde, ging einfach nach Kreuzberg in die LPG am Mehringdamm einkaufen, dann war sicher alles im Einkaufskorb allerschwerstens „politisch korrekt“.
Smrz setzte sein Theorem des minimal-invasiven Lebensstils, mit dem der expansive Konzernkapitalismus im Übrigen seiner zerstörerischen Dynamik beraubt werden sollte, in erster Linie im heimischen Bett um. „Wenn man es sich recht überlegt, ist doch jede Stunde, die man gefaulenzt hat, auf das Sinnvollste verwendet worden. All die Zeitschätze, die er dem Imperium der Vernunft vorenthalten und freudig verschwendet hatte. Keine Minute mochte er missen, die er auf dem Bett liegend oder aus dem Fenster starrend in den Augen anderer vergeudete. All die Traumfetzen der zahllosen Nickerchen, all die zufriedenen Grunzer der Behaglichkeit nach einem guten Essen, all das gedankenverlorene Dösen vor dem Fernseher, all die gemütlichen Zeiten der Müdigkeit und der Melancholie. Der süße Zauber vollkommener Untätigkeit ...“ zitierte er auswendig Rondo Delaforce, den großen Denker des Müßiggangs, aus dessen Frühwerk „Die singende Fleischwurst“.
Mardo kannte das alles, schließlich hatten sie gemeinsam bei einigen Krügen „Gambrinus“ in den „Prager Hopfenstuben“ auf der Karl-Marx-Allee den Grundstein für das philosophische Werk von Marek Smrz gelegt. Die Mischung aus Gelassenheit und Gerissenheit, aus portugiesischem Lebensgenuss und tschechischer Lebensklugheit – dieser Delaforce musste mit Mardo verwandt sein. Vielleicht lebte er sogar in dieser Stadt? Ruhe war sein Schlüssel zum Glück. Mardo glaubte nicht daran, dass die Menschen, die nach Managementratgebern lebten, wirklich ein glückliches und sorgenfreies Leben führten. Es war wie in dem Märchen vom Hasen und vom Igel. Mardo hatte wie Smrz früh beschlossen, sich der Fraktion der Igel anzuschließen. Der echte Berliner hat Zeit und lässt sich nicht von der Hektik der Kleinstadt anstecken.
„Na komm schon, Jan. Das wird lustig. Und diese blöde Veganerin kommt schon längst nicht mehr.“ Diese Frau hatte Mardo vor einem halben Jahr einmal erklärt: „Leder ist tote Haut, das trage ich nicht. Du hast Lederschuhe und einen Ledergürtel an, wahrscheinlich hast du auch eine Lederjacke im Schrank hängen. Das lehne ich ab. Da könntest du ja gleich einen Pelz tragen. Es gibt doch so tolle Sachen aus Hanf …“ Blablabla. Zum Glück lebte er in einer stabilen Beziehung mit einer undogmatischen Vegetarierin und führte ein relativ zivilisiertes Leben. Früher hatte er morgens in Unterhosen ein Snickers über der Mülltüte gegessen und das ganze Frühstück genannt.
Mardo zuckte grinsend mit den Schultern. „Na gut, überredet. Wo trifft sich denn diesmal die Szene, um ihre moralische Überlegenheit zu demonstrieren?“
Marek strahlte. „Wir fahren mit der U 8. Den Rest erzähle ich dir unterwegs.“
Als sie an der Hermannstraße ausstiegen, strahlte auch die Sonne. Sie bogen in den Schillerkiez ein und gingen die Okerstraße entlang. Vor einem Kiosk standen ein paar türkische Männer und plauderten, zwei Kinder kamen mit Eis am Stiel aus dem Laden. Die Schillerpromenade 32 war ein herunter gekommener Altbau, dessen Erdgeschoss die „Antifa Neukölln“ von einer städtischen Wohnungsunternehmen gemietet hatte. Das heißt: Miete zahlten sie nicht, aber immerhin die Nebenkosten für dieses seit langem leerstehende Ladenlokal. Der Raum war angefüllt mit vielen bunten Gestalten, deren Haare in allen Farben leuchteten. Indische und türkische Stoffmuster, ein Palästinensertuch, Rastalocken und viel Zigarettenqualm. „Gegen die Stuttgartisierung von Neukölln. Wehret den Anfängen, Prenzlauer Berg sei Euch Mahnung genug. Kampf dem Schwabenbefall in unserem Kiez.“ So stand es auf einem drei Meter langen Transparent an der Wand.
Mardo wurde von Marek als „Jan von Occupy Mauerpark“ vorgestellt, der angeblich im Widerstand gegen die Bebauung des Parks durch eine Immobilienfirma aus Wien kämpfte. Marek selbst war bekannt wie ein bunter Hund.
Die Diskussion über den Toten bei der Brandserie war bereits in vollem Gange.
„Es geht doch auch darum, etwas gemeinsam zu machen. Der einsame Wolf, der nachts Autos anzündet - das ist doch genau diese Vereinzelung, diese Isolierung, die uns von neoliberalen Ideologen seit Jahrzehnten eingetrichtert wird. Ich-AG, der hedonistische Götzendienst namens Individualisierung, das kennen wir doch alle schon. Der revolutionäre Widerstand hat eine soziale Komponente, wir bilden Gruppen. Wo bleibt das Kollektiv?“ Sabrina Rossbach war in der Fantifa, bei den feministischen Antifaschistinnen, aktiv.
„Genau: Bildet Banden! Und es stellt sich auch die Frage: Wenn Autos abfackeln, warum nicht Polizeiwagen? Oder den Dienstwagen des Bürgermeisters? Die Aktionen müssen zielgerichtet sein, damit die Menschen unsere Botschaft verstehen.“ Ben Brauser zählte zum militanten Flügel der Antifa Schöneberg. Er hatte einen langen geknoteten Kinnbart nebst Haarzopf, der das fettige dünne Haar aus seinem schmalen Gesicht fern hielt.
„Es muss auch viel deutlicher werden, dass es eine politische Aktion ist. Wir haben durch die Brandserie eine wahnsinnige Medienpräsenz erreicht. Selbst die Bundesboulette Merkel spricht über uns. Diese Aufmerksamkeit muss man nutzen. Wir sollten ein Manifest schreiben. Diese Plattform bietet uns doch tolle Möglichkeiten. Aktion und Agitation müssen miteinander verbunden werden.“ Tim Kuhn war Anarchist, liebäugelte aber mit einem Parteieintritt bei den Piraten.
„Wir müssen deutlich machen, dass uns dieses zerstörerische patriarchal-kapitalistische System in die Katastrophe führt. Die Idee mit dem Manifest finde ich gut. Aktion allein ist noch kein Widerstand, das ist nur Nervenkitzel oder der Versuch, irgendwie cooler und toller als die anderen zu sein. Wir müssen unseren gemeinsamen Standpunkt klar machen.“ Daniela Mohrenstecher war die Sprecherin der Lesbischen Volksfront/Brigade Dora Dick. Ihr blondierter Irokese hatte die Farbe von alter Butter.
„Wir sollten auch mal darüber diskutieren, wie der Alltag im revolutionären Widerstand gestaltet werden kann. Nachts Autos anzünden bringt auf Dauer nichts. Es gibt über fünfzig Millionen Autos in der BRD. Wie wollen wir leben, das ist doch die Frage.“ Das war Leo Streitwieser vom Kommando Fritz Teufel, zuständig für die Spaßguerilla in Kreuzberg. Neukölln und SO 36 gehörten seit den alten Hausbesetzertagen zusammen wie zwei Arschbacken.
„Genau. Immer machen wir Aktionen und fahren nach Gorleben oder so. Und dann kommt man nach Hause und das war’s dann irgendwie. Am Ende hat der Bullenstaat seinen perversen Atommülltransport doch noch durchgeprügelt und du hast dir die Hände blutig geschottert, hast dir die Fresse polieren lassen und kriegst noch eine fette Strafanzeige. Und teilweise hocken wir ja dann noch selbst im Auto und sind damit Teil des kaputten Systems, wenn wir die Umwelt verpesten und die Ölkonzerne reich machen.“ Naomi Kutscher war von der hedonistischen Internationale, die sich auf das Tortenwerfen spezialisiert hatte.
„Aber wir können nicht nur den gemeinsamen Einkauf von freilaufendem Gemüse und autonom gestrickten Socken organisieren. Wir sind eine Bewegung. Und das ist wörtlich gemeint.“ Vanessa Schäfer war bekennende Marxistin und studierte Politische Wissenschaft an der Freien Universität in Dahlem.
„Wohin bewegen wir uns denn? Wir finden den Polizeistaat Scheiße, wir finden die Bonzenschweine Scheiße, die Autos, den Wohlstandsmüll. Aber wohin geht die Reise?“ Das war wieder Sabrina Rossbach, deren Schultern mit großen Tribals geschmückt waren.
Ben Brauser antwortete: „Selbst wenn wir ein Ziel formulieren. In diesem repressiven System kannst du dich nicht selbst verwirklichen. Wir wären immer noch durch die herrschende Klasse unterdrückt. Wir brauchen eine Revolution. Aber die ist weit weg. Gleichzeitig Miete zahlen und die Herrschaftsstrukturen verändern – das ist gerade für die jungen Genossen ziemlich schwierig geworden.“
Der zehnte Sprecher war zum Reden aufgestanden. Ein junger Mann Anfang zwanzig, sein ungepflegter Vollbart sah aus wie Schambehaarung. „Darauf läuft die Diskussion immer hinaus. Und dann höre ich den Satz: Das bringt doch nichts. Ich sage: Wir können etwas verändern, wir können die Verhältnisse ändern. Schaut euch an, was die Leute in den arabischen Ländern machen. Schaut euch an, wie die Unterschicht in den englischen Großstädten die Umverteilung in die eigenen Hände genommen hat. Oder die friedlichen Revolutionen überall im Osten vor über zwanzig Jahren. Jeden Tag ist Veränderung möglich. Jeder Tag kann der erste Tag der Revolution sein. Das glaubt ihr nicht? Wer hätte einen Tag vor dem Mauerfall hier in Berlin gewusst, was alles passieren wird? Einen Tag vorher hätte noch jeder behauptet, das Ding steht bis an unser Lebensende. Ich habe mal Augenzeugenberichte von der französischen Revolution gelesen, da hieß es, noch wenige Wochen vor der Erstürmung der Bastille hätte niemand auch nur im Entferntesten daran gedacht, das Volk könne den vollgefressenen Adel einfach davon jagen. Wenn es passiert, passiert es plötzlich und sehr schnell. Und jedes Stück, das wir auf unserem Weg vorwärts kommen, ist wichtig. Jedes brennende Auto, jedes besetzte Haus, jeder Bulle und jeder Nazi im Krankenhaus. Diese Republik und ihre Eliten sind am Ende. Es ist nur wichtig, dass nicht der Faschismus die Gunst der Stunde nutzt. Wir müssen bereit sein – oder wir enden alle im Vierten Reich! Und was das bedeutet, muss ich euch nicht sagen.“
„Wer hört uns zu, wenn wir unseren Protest formulieren? Niemand.“ Das war Leo Streitwieser. „Aber wenn wir eine Bullenstation abfackeln oder ein verdammtes Kaufhaus, dann wird man uns zuhören. Dann wird selbst CNN Interviews mit euch machen. Ohne Gewalt nimmt man uns nicht wahr und ohne Gewalt nimmt man uns nicht ernst. Das ist die Wahrheit. Die Presse und die Bonzen reagieren nicht auf Argumente, aber sie reagieren auf Taten. Wenn wir etwas erreichen wollen, selbst wenn es nur die Aufmerksamkeit der reaktionären und gleichgeschalteten Presse ist, dann müssen wir etwas dafür tun. Die Bonzenschweine haben vor uns nur Respekt, wenn sie Angst haben. Sie müssen Angst haben, Angst um ihren Besitz, Angst um ihr Leben.“
„Wollt ihr eine zweite RAF oder was?“ rief einer dazwischen.
„Nein“, antwortete der junge Mann mit dem fusseligen Bart. „Ich will eine Stadtguerilla ohne Tote. Ich will den Kampf mit dem System, aber ohne Blutvergießen.“
„Und vergesst nicht die Nazis. Gegen die kämpfen wir auch“, warf Ben Brauser dazwischen.
„Drecksfaschisten. Wenn wir die Autokennzeichen von denen wüssten, könnten wir ihre Autos abfackeln.“ Der junge Mann mit den Rastalocken war noch neu in der Szene.
„Ihr redet doch immer nur. Ihr labert und labert und nichts passiert. Man müsste mal, man könnte mal, man sollte mal. Ewige Debatten, die sich im Kreis drehen, alles ohne Ergebnis. Ihr macht einfach nichts. Muschilecker und Waschweiber! Ständig erklärt ihr euch gegenseitig, wie schlecht die Welt ist. Man muss doch auch mal mit dem Gesülze aufhören und zur Sache kommen. Wenn man zu dem Schluss kommt, dass die Verhältnisse ungerecht sind, sollte man doch die Konsequenzen ziehen, anstatt mit schlechtem Gewissen immer weiter dieselbe Scheiße zu machen, die diesen Planeten ruiniert. Ihr sitzt nur rum, ihr Nörgeltanten. Nix machen, aber alles besser wissen.“ Der bärtige Mann wurde nun richtig aggressiv.
Das ganze war so ergebnislos wie eine Fernseh-Talkshow. Mardo hatte genug, er musste raus an die frische Luft. Marek auch. Da gab es einen Toten bei der Brandserie, die höchstwahrscheinlich von der Linken inszeniert war, und hier wurden weltanschauliche Debatten geführt. Das Graffito an der Hauswand vor ihm sprach Bände: „Feuer und Flamme für diesen Staat“. Vielleicht war ja ein Mörder unter ihnen, in ihren eigenen Reihen? Aber darum ging es offenbar gar nicht. Es war ein Wunder, dass die Medien oder die Polizei noch nicht hier waren. Aber wie immer hatte sich die Szene spontan als Flashmob organisiert, da kamen die Staatsgewalt und die vierte Gewalt einfach nicht mit.
Mardo hatte schon als Jugendlicher kapiert, dass er die Welt nicht retten konnte. Bestenfalls konnte er sich selbst retten – und auch das nur temporär. Aber die Mittelschichtkinder aus Westdeutschland waren mit einem Treibsatz an Selbstbewusstsein ausgestattet, die ihm manchmal unheimlich erschien. Sie wussten offenbar von ihren Eltern, dass sie Recht hatten und sich am Ende durchsetzen würden. Mardos Eltern hatten ihm beigebracht, im Zweifelsfall etwas geschmeidiger durchs Leben zu kommen. Er wusste natürlich ebenso wie seine biodeutschen Mitbürger, dass er in vielen Fragen Recht hatte und die Politiker und Wirtschaftsbosse nicht. Aber er hing es nicht so an die große Glocke wie die hiesigen Artgenossen. Die politischen Debatten hatten etwas Verkniffenes, Humorloses, und die Redner waren so lustig wie ein Stand-up-Comedian der Zeugen Jehovas.
Marek trat seine Zigarette aus und nickte Mardo grinsend zu. Marek Smrz war schon in diversen Parteien des linken Spektrums unterwegs gewesen. Zunächst in der APPD (Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands), dann in der Bergpartei und zuletzt in der ÜberPartei. Ihm gefielen die Plakate wie „Kompetenz als Maske“, „Wunder ohne Wirtschaft“ oder „Erfolg als Bedrohung“. Aktuell interessierte er sich aber hauptsächlich für Ludmilla Kesselfleisch, die gutaussehende Blondine aus der Tierschutz AG, auf die alle scharf waren. Sie machte gerade ein Praktikum auf dem Kinderbauernhof im Görlitzer Park.
Als Mardo mit Marek wieder den Raum betrat, wurde in allen Ecken wild diskutiert.
„Wir können uns gegen die Gentrifizierer und den Easy Jet Set aus aller Welt wehren, die aus unserem Kiez Ballermann Zwo machen wollen. Wir können ihnen im Vorbeigehen ins Essen spucken, wir können Touri-Busse bewerfen, Falschmeldungen über angebliche Bomben verbreiten und Hotelfenster einschmeißen. Wir pissen an ihre Haustüren, wir klauen ihre angesagten Diamant-Fahrräder, wir zünden ihre teuren Autos und Kinderwägen an. Ich spreche von einer gezielten Abwertung von Gebäuden und anderem Besitz. Die Autos von Siemens, Vattenfall und der Deutschen Post müssen brennen.“
„Wenn so eine Scheiße wie im Prenzlauer Berg in der Natur passieren würde, hätte niemand dafür Verständnis. Stell dir vor, du kaufst ein Stück Wald. Und dann beschließt du einfach, alle Kaninchen mit einem Arschtritt von deinem Grundstück zu befördern. Und nachdem alle Kaninchen weg sind, siedelst du Nerze in diesem Wald an. Jeder würde dich für total bescheuert, herzlos und was weiß ich noch alles halten, wenn du so was machen würdest. Die Tierschützer würden demonstrieren, Greenpeace hätte dich von morgens bis abends in der Mangel und bei Facebook hättest du das Image von Josef Ackermann. Jedem Juchtenkäfer wird heute mehr Respekt entgegengebracht als einem Menschen.“
Dann wieder der Fusselbart: „Lasst euch bloß nicht einreden, dieses Land sei pleite oder arm. Wir sind eines der reichsten Länder der Erde mit einer megaerfolgreichen Industrie und gut ausgebildeten Leuten. Aber wir lassen uns immer einreden, für die ganze Arbeit darf es nicht mehr Geld geben. Als wären wir Schafe, die regelmäßig die feinste Kaschmirwolle liefern. Und am Tag nach dem Scheren fragen wir den Bauern, was er für unsere Wolle bekommen hat, und er sagt: ‚Tut mir leid, aber die Weltmarktpreise sind schlecht, Wolle ist total aus der Mode’ und so weiter. Am Ende kannst du froh sein, wenn es trockenes Heu zu fressen gibt.“
„Vergesst das Nazi-Dreckspack nicht!“ rief ein Typ mit schwarzen Kapuzenpulli, dessen eine Kopfhälfte rasiert war.
„Das sind doch fast alles Ossis. Die sind eben schon als Duckmäuser auf die Welt gekommen.“
Und plötzlich zersplitterte die Frontscheibe mit einem scharfen Knall. Ohrenbetäubender Lärm. Alle duckten sich instinktiv oder warfen sich auf den Boden. Nach ein paar Augenblicken war alles vorbei.
Mardo sah noch, wie ein schwarzer Mercedes der S-Klasse mit Vollgas auf der Schillerpromenade beschleunigte.
Die ganze Wand war mit Einschusslöchern übersäht, offenbar automatische Waffen. Langsam erhoben sich die Leute und schüttelten sich den Staub aus Haaren und Klamotten.
Niemand sprach mehr.

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