Montag, 28. Dezember 2015

Berliner Asche, Kapitel 4, Szene 1

Nach dem morgendlichen Regen dampfte die Haut der Stadt und verströmte den herben Geruch wilder Tiere. Leber hatte die Fenster seines Büros geöffnet, um die warme und verbrauchte Luft des Vortags gegen die neuen Düfte auszutauschen. Trotz der frühen Stunde hatte er sein kurzärmliges Hemd bereits an den einschlägigen Stellen durchgeschwitzt. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel Zeitungen.
Die bundesdeutsche Presse überschlug sich geradezu:
„RAF erklärt Deutschland den Krieg“, titelte die Bildzeitung.
„Auf dem Weg nach Weimar“ (FAZ).
„Bürgerkrieg in der Hauptstadt“ (Süddeutsche Zeitung).
Während der Kommissar die Printmedien studierte, surfte sein Assistent durchs Netz. Den Tod Altmanns und der Angriff auf die Büroräume der Maximum AG wurden den Linksradikalen angelastet. Für den Angriff auf die Versammlung der Linken und die Entführung Kuhns machte man die Rechtsradikalen verantwortlich. Die neue Generation der Roten Armee Fraktion, wie sie in der Presse genannt wurde, und die Berliner Zelle des Nationalsozialistischen Untergrunds führten offenbar einen Krieg um die deutsche Hauptstadt. Der Korrespondenten sämtlicher in- und ausländischer Medien schwärmten seit den Morgenstunden aus und belagerten die Orte des Geschehens sowie die Pressestelle des Berliner Polizeipräsidenten am Platz der Luftbrücke in Tempelhof. Im Internet blühten die Verschwörungstheorien und jeder Artikel hatte einen Rattenschwanz von Kommentaren zur Folge. Auf den einschlägigen Internetseiten der Linksradikalen, Indymedia, und der Neonazis, Altermedia, brachte das Publikumsinteresse die Server zum Glühen. Der Antikapitalistische Widerstand und die Germanische Weltnetzgemeinschaft überschütteten sich gegenseitig mit Hasstiraden und Schuldzuweisungen. Die Seite der „Freien Kräfte Berlin-Neukölln“ rief zur Weltrevolution auf, zunächst aber zu Bandenbildung und Barrikadenbau. Gab man die Begriffe „Brandstifter“ und „Berlin“ in eine Suchmaschine ein, bekam man den Link zu einer Schnapsbrennerei in der Grainauer Straße in Wilmersdorf angeboten. Dort wurde seit einigen Tagen ein siebenfach gefilterter Kornbrand mit dem Namen „Berliner Brandstifter“ feilgeboten.
Sämtliche Dienststellen der Berliner Polizei, der Feuerwehr und der verschiedenen Rettungsdienste waren in heller Aufregung. Für zehn Uhr hatte der Polizeipräsident persönlich zur Pressekonferenz gebeten, alle Nachrichtensender wollten live übertragen. Fehlt ja nur noch CNN vor meiner Hütte, dachte der Kommissar verbittert. Und gleich würde sicherlich sein Chef, Kriminaldirektor Friedrich Dragoner, den Raum betreten und ihm leider mitteilen müssen, dass der Staatsschutz, das BKA, das Bundesamt für Verfassungsschutz und wer weiß noch alles die Ermittlungen übernehmen und ihm gegenüber weisungsbefugt sein würden. Das wird der heißeste Tag des Jahres, dachte Leber, und der Kaffee macht es auch nicht besser.
In den Zeitungen wurde ausführlich über die Kontakte des toten Maximum-Chefs Altmann in die Neonazi-Szene berichtet. Insofern passte alles ins Bild eines linken Racheakts. Aber für wen war das Lösegeld gedacht? Oder hatte er sich geirrt und es handelte sich einfach nur um eine Transaktion der Maximum AG, bei der womöglich das Finanzamt umgangen werden sollte? Vielleicht sollte er sich mal beim Finanzamt für Fahndung und Strafsachen Berlin in der Ullsteinstraße 66 umhören? Womöglich kannte man die Maximum AG dort bereits. Der Drucker summte und Laschka legte ihm zwei Blätter auf den Schreibtisch.
Leber sah ihn erstaunt an.
„Da ist noch ein zweites Bekennerschreiben eingetroffen.“
„Das ist nicht Ihr Ernst.“
Laschka grinste schüchtern. „Mein voller, Chef.“
Leber grinste zurück und nahm das erste Blatt Papier. Die Überschrift lautete „Integracion ou Muerte“. Dann ging es weiter: „Wir sind eine militante Untergrundorganisation der Migranten und lassen es uns nicht mehr gefallen, schutzlos von Nazischweinen abgeschlachtet zu werden. Jetzt wird zurückgeschossen!“
Weiter kam Leber nicht, denn die Tür zu seinem Büro wurde geöffnet.
„Guten Tag, Herr Leber. Ich bin Ulf Sonleitner vom LKA 5. Ist das eine Kopie des Bekennerschreibens von heute früh? Können Sie vergessen. Haben wir schon überprüft. Das sind irgendwelche rechten Trittbrettfahrer, die den Türken was anhängen wollen.“
„Klingt aber nicht sehr türkisch.“
„Klingt überhaupt nicht professionell. Darf ich mich setzen?“ Sonleitner sah ihn aus strahlend blauen Augen durchdringend an.
„Bitte“.
Sonleitner war etwa Anfang dreißig, schlank und muskulös. Allerdings zeichnete sich auf seinem Schädel eine Dreitagehalbglatze ab, was den jugendlichen Eindruck etwas abmilderte. Trotz der zu erwartenden hohen Temperaturen trug er einen dunkelgrauen Anzug.
Leber fuhr sich unwillkürlich über das dünne graue Haar, das seinen kantigen Schädel bedeckte.
„Haben Sie schon mit Dragoner gesprochen?“
„Selbstverständlich“. Sonleitner lächelte und machte es sich auf dem Besucherstuhl so bequem wie möglich. „Sie können sich ja vorstellen, was gestern Abend noch auf höchster politischer Ebene los war. Der Bürgermeister hat der Sache höchste Priorität gegeben. Wenn wir nicht schnellstens Ergebnisse liefern, könnte die Lage in Berlin eskalieren. Die Bundespolizei wird ab heute in der Innenstadt patrouillieren und an den großen Straßenkreuzungen Präsenz zeigen, um die Bevölkerung zu beruhigen.“
„Ich nehme an, Sie wollen sich die Fahndungsakten ansehen.“
„Das mache ich später. Erzählen Sie mir doch erst einmal, was Sie bisher herausgefunden haben.“
„Das Opfer wurde gefesselt, geknebelt und betäubt in seinen eigenen Wagen gelegt, den wir in Kreuzberg gefunden haben. Das deutet auf eine Entführung hin. Wir haben einen Augenzeugen und Bildaufzeichnungen, wie ein Mitarbeiter des Opfers eine große Summe Geld abhebt. Das Fahrzeug wurde in Brand gesetzt, das Opfer starb vermutlich an einer Kohlenmonoxidvergiftung und ist verbrannt.“
„Die Identifizierung des Opfers ist eindeutig?“ Sonleitner fragte, ohne sich Notizen zu machen. Offensichtlich erwartete er nicht allzu viel von diesem Gespräch.
„Ja, davon können wir ausgehen. Der Gerichtsmediziner hat das bestätigt. Vom Opfer fehlt seit vorgestern morgen jede Spur, außerdem haben wir seine Papiere, seinen Ehering und eine Überprüfung der Zahnbefunde.“ Leber trank seinen Kaffee aus, ohne dem Staatsschützer eine Tasse angeboten zu haben.
„Was können Sie mir zum Täter sagen?“
„Nichts. Wir vermuten ihn im linksradikalen Umfeld. Ob es ein Einzeltäter oder eine Gruppe ist, wissen wir nicht.“ „Ganz schön schwach.“ Sonleitner zog einen Mundwinkel nach oben.
„Hören Sie, die ganze Polizei sucht seit Monaten nach dem Brandstifter! Glauben Sie, wir spielen uns hier den ganzen Tag an den Eiern rum?“ Der Kommissar war wütend geworden.
„Jetzt sind wir ja da“, bemerkte Sonleitner gönnerhaft.
„Da bin ich ja mal gespannt, was Ihr so auf die Reihe kriegt. Ich hoffe, Ihr habt ein paar gute V-Leute in der Szene. Soweit ich weiß, tappt Ihr aber genauso im Dunkeln wie wir alle. Aber vielleicht klappt es ja, wenn wir ein paar Tausend Polizisten durch die Straßen jagen. So kriegt Ihr den Täter bestimmt.“
„Diese Fragen können sie getrost uns überlassen. Ich komme auf Sie zurück, wenn ich Ihre Hilfe brauche. Die Unterlagen lasse ich später abholen. Und tun Sie mir einen Gefallen: Ziehen Sie nicht auf eigene Faust los. Jede Ermittlungstätigkeit in der Sache Altmann läuft ab jetzt über meinen Schreibtisch. Wir haben uns verstanden?“ Sonleitner war bei den letzten Sätzen bereits aufgestanden und blickte Leber erwartungsvoll an.
„Haben wir das verstanden, Laschka?“
„Aber sicher, Chef. Dann können wir uns ja endlich wieder dem vietnamesischen Zigarettenhändler widmen, den man vor drei Tagen aus der Rummelsburger Bucht gezogen hat.“
Laschkas Lächeln konnte Sonleitner schon nicht mehr sehen.

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