Mittwoch, 16. Dezember 2015

Der Wasserhasser

„Wir alle sterben in Pisse und Blut, scheißen uns ein wie Neugeborene, ersticken an unserem eigenen Schleim.“ (Paul Auster: Das Buch der Illusionen)
Ich nehme an, Sie wissen, dass man nicht jeden Brief ernst nehmen sollte. Vor allem wenn man ein weltbekannter Autor von Kriminalromanen ist, die in jeder Bahnhofsbuchhandlung zu kaufen sind. Ich muss es noch lernen.
Es war ein trüber Herbstvormittag, als mir Gwendolyn, meine bezaubernde Sekretärin, die Post brachte. Da meine Privatadresse sehr diskret gehandhabt und von den wenigen Eingeweihten sorgfältig gehütet wird, erreichen mich nur sehr wenige Briefe von Unbekannten. Die Fan-Post wird an eine Adresse in Berlin geschickt, wo sie bei Bedarf in Form von Standardbriefen und Autogrammkarten beantwortet wird.
Der Brief, um den es sich handelte, kam in einem schweren, hellblauen Umschlag aus Seidenpapier. Mein Name und meine Adresse waren offenbar von einem kalligraphischen Großmeister schwungvoll auf die Vorderseite geschrieben worden, ein Absender war nicht angegeben. Ich öffnete den Umschlag und las den Brief, der mit roter Tinte auf rauem Büttenpapier geschrieben war.
„Sehr geehrter Herr Bonetti,
es hat mir außerordentliches Vergnügen bereitet, Ihr neues Werk ‚Der Wasserhasser‘ zu lesen. Ich darf mich kurz vorstellen: Mein Name ist Bruno Westheim und wie Sie unschwer erkennen können, ist es der gleiche Name, den auch eine Hauptfigur Ihres Romans trägt. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn es nicht andere Parallelitäten zwischen Ihrem Roman und der Wirklichkeit gäbe. Es hat tatsächlich in der Nähe von Querfurt ein verlassenes Grundstück gegeben, auf dem sich ein geheimer Stollen befindet. Und ich habe dieses Grundstück auch tatsächlich gekauft. Nur habe ich von dem Stollen nichts gewusst. Aber Ihr Buch hat einen alten Mitarbeiter des DDR-Verteidigungsministeriums auf mich aufmerksam gemacht, der mich gebeten hat, Ihnen zu schreiben. Bitte besuchen Sie mich umgehend. Anbei sind tausend Euro für Ihre Reisekosten. Ihren Anteil an den wertvollen Funden werde ich Ihnen persönlich auszahlen. Und ich bin sicher, Ihre Erlebnisse hier vor Ort werden Ihnen Stoff für eine Fortsetzung von ‚Der Wasserhasser‘ bieten. MfG, B. Westheim“.
Und tatsächlich segelten zwei druckfrische Fünfhundert-Euro-Scheine und eine kleine Landkarte aus dem Umschlag. Mein Interesse war geweckt. Hätte sich jemand einen Spaß mit mir erlauben wollen, wäre kein Bargeld im Umschlag gewesen. Und so saß ich keine Stunde später in meinem Lamborghini Miura und raste nach Osten. Ich muss zugeben, dass Neugier und Abenteuerlust die Berufskrankheiten der Journalisten und Schriftsteller sind. Ich wollte wissen, was dahinter steckte. Hatte meine Phantasie unabsichtlich ein Rendezvous mit der Realität gehabt oder hatte ich irgendwo eine Geschichte aufgeschnappt und sie in einen Roman verwandelt? Dergleichen passiert – aber die Gleichheit der Namen war doch etwas unheimlich. Ich wusste nur, dass es mir keine Ruhe lassen würde, und so bog ich zwei Stunden später von der Landstraße in die Einfahrt von Bruno Westheims Anwesen ab.
***
Als ich aus dem Wagen kletterte, öffnete sich langsam die schwere Tür des Hauses und ein Mann trat heraus. Er war schmächtig und klein. Aus einem betongrauen Pullover ragte ein langer, dünner Hals. Sein Unterkiefer war sehr kräftig und über einem breiten, fleischigen Mund trug er eine kantige, schwere Brille und schütteres, dunkelblondes Haar.
„Schön, dass Sie so schnell kommen konnten, Mister Bonetti“, sagte er zur Begrüßung und gab mir die Hand.
Dann gingen wir in einen Salon mit Blick auf den Garten und tranken Kaffee. Westheim erzählte mir seine Geschichte. Er hatte das Haus mit dem großen Grundstück, das auch einen kleinen Wald umfasste, 1991 von der Treuhand gekauft und das Haus renovieren lassen. Im Wald befand sich ein Wasserhäuschen, dessen Eingang jedoch verschlossen war. Man konnte es vom Salon aus nicht sehen, aber es war nur einen kurzen Fußmarsch entfernt. Dann hatte er im vergangenen Jahr von einem Freund „Der Wasserhasser“ geschenkt bekommen. Der Freund fand es ulkig, dass eine der Figuren im Roman den gleichen Namen trug wie er. Im Buch kauft bekanntlich ein Bruno Westheim ein Grundstück im Harz, auf dem das Ex-Verteidigungsministerium in einem Stollen Gold und Devisen versteckt hatte, um im Falle eines imperialistischen Angriffs den Widerstand ausrüsten zu können. Und da hatte Westheim sogleich an das alte Wasserhäuschen gedacht. Er hatte die Tür aufgebrochen und war tatsächlich auf einen Schatz gestoßen. Allerdings nur wertlose alte DDR-Mark- und Rubel-Bestände. Er hatte diese alten Geldscheine auf Ebay angeboten – und so war er in Kontakt mit dem Ex-Mitarbeiter des DDR-Verteidigungsministeriums gekommen.
Natürlich wollte ich das Wasserhäuschen sehen, und nachdem wir unseren Kaffee ausgetrunken hatten, gingen wir in den Wald hinter dem Garten und standen bald darauf vor dem Wasserhäuschen. Eine verwitterte Stahltür, von der grüner Lack blätterte, hing schräg in den Angeln. Dahinter verbarg sich eine feuchte Wendeltreppe aus Beton, die in die Tiefe führte. Westheim holte eine Taschenlampe aus seiner Hosentasche und ging voran. Wir kamen in einen rechteckigen Vorraum mit einer Stahltür. Mein Begleiter öffnete sie und wir traten ein. An den Wänden des Raums waren Dutzende von Kisten aufgestapelt. Einige lagen auf dem Boden und waren geöffnet. Ich sah Geldbündel mit Banderole. Hundertmarkscheine mit dem Konterfei von Karl Marx.
Ich war begeistert und lächelte Westheim an.
Westheim lächelte nicht und fragte mich: „Und wo ist der Rest, Mister Bonetti?“
„Ich verstehe Sie nicht?“
„Sie verstehen mich sehr gut. In Ihrem Buch ist von einem Schacht die Rede. Und durch den Schacht kommt man an das Gold und die Dollars. Ihre Geschichte ist zu gut, um reine Phantasie zu sein. Also: Wo ist das Gold? Wo sind die Dollars?“
„Ich schwöre Ihnen, dass es reiner Zufall ist. Vielleicht hat mir vor vielen Jahren jemand einmal eine ähnliche Geschichte erzählt. Ich bekomme viele Geschichten zu hören. Oder ich habe sie gelesen. Aber ich weiß nichts von einem Schacht.“
„Wir machen halbe-halbe. Was halten Sie davon?“
„Hören Sie, ich würde Ihnen gerne helfen. Aber ich weiß wirklich nichts von einem Schacht oder von irgendwelchen Verstecken. Das müssen Sie mir glauben.“
Dann erlosch plötzlich das Licht. Ich hörte ein Scharren, das mussten die Schritte von Bergheim sein.
Der Schlag traf mich hinter dem linken Ohr und ich versank im Nichts, bevor der Schmerz kam.
***
Es war der Schmerz, der mich weckte. Er pulsierte in meinem Schädel und als ich die Augen öffnete, sah ich bunte Muster. Ich konnte mich nicht bewegen, ich war gefesselt.
Vor mir stand wieder Bergheim. Ich sah mich um. Wir waren in einem fensterlosen Raum und neben mir saß ein weiterer Mann. Auch er war gefesselt.
Der Mann im grauen Pullover grinste mich höhnisch an. „Darf ich vorstellen? Der echte Bruno Westheim. Mein Name tut nichts zur Sache. Ich habe Herrn Westheim über Ebay kennengelernt. Von ihm habe ich auch den Lektüretipp, Mister Bonetti.“
Er lachte und hielt mir ein Skalpell unter die Nase. „Und jetzt will ich von euch beiden Vögeln endlich wissen, wo der echte Schatz ist. Gibt es eine Geheimtür im Wasserhäuschen? Wo ist der Schacht? Oder habt Ihr alles längst beiseite geschafft?“
Nie werde ich die roten Äderchen in seinen Augäpfeln und die vielen Aknenarben auf seiner Haut vergessen können. Aber ich wusste wirklich nichts von einem verborgenen Schatz. Mein Gewissen war so rein wie frisch gefallener Schnee.
Ich kann Ihnen nur raten, keine Fragen zur Entstehung Ihrer Erzählungen zu beantworten und die entsprechenden Briefe zu ignorieren. Ein Autor sollte immer im Hintergrund bleiben, so viel weiß ich inzwischen.
P.S.: Diese Begebenheit und die anschließende spektakuläre, dramatische und stellenweise unglaubliche Befreiungsaktion durch seinen Kammerdiener Johann verarbeitete Andy Bonetti später in seinem Roman „Das Haus der roten Schatten“.
Isolierband – Kontrolle. https://www.youtube.com/watch?v=tqwxOv8LFwM

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