Montag, 2. Mai 2016

Clayton

„Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Theater in Oklahoma aufgenommen! Das große Theater von Oklahoma ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!“ (Franz Kafka: Der Verschollene)
„Können sie mich hören?“
Er blickte in hellblaue Augen.
„Wo bin ich?“ Seine Stimme ein Flüstern.
„Bei uns. In Sicherheit.“
Er wollte seinen linken Arm heben, aber sein ganzer Körper schien weit von ihm entfernt. Er konnte ihn weder spüren noch sehen.
***
Der Mann trug eine Uniform, die er noch nie gesehen hatte. Ein weißer Overall, der vom Kragen bis zum Bauchnabel mit silbernen Knöpfen besetzt war. Er hatte einige kleine Taschen mit funkelnden Reißverschlüssen. In seiner Hand hielt er ein merkwürdiges Instrument, das gebogen war wie ein Hirschgeweih.
„Ihre Heilung schreitet voran“, sagte der Mann zu ihm. „Sie werden wieder laufen können, aber es braucht noch etwas Zeit.“
„Was ist passiert?“ Seine Stimme hörte sich inzwischen anders an.
„Sie hatten einen Autounfall. Die ersten Tage haben Sie im Koma gelegen.“
***
Er stand vor dem Spiegel im Badezimmer. Sein Gesicht kam ihm merkwürdig fremd vor. Es sah jünger aus. Glatt. Als hätte es den Schmerz des Unfalls vergessen.
Als er zum ersten Mal in die Kantine des Krankenhauses ging, war sein Gang leicht und federnd. Wann war er zuletzt auf diese Weise eine Treppe hinuntergegangen? Er lief wie ein Kind. So als würde es keinen Boden geben, kein Gewicht.
***
„Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“
„Das wundert mich nicht. Ich hatte einen Unfall auf dem Highway. Die letzten Wochen habe ich im Krankenhaus gelegen. Eigentlich kenne ich die Gegend gar nicht.“
Der Mann neben ihm am Tresen lachte. „Mein Name ist Bill.“
„Ich bin Thomas.“
Der Barkeeper stellte die nächste Runde Bier auf den Tresen.
****
Jim hatte eine Farm und brauchte noch einen Mann, der ihm bei der Arbeit half.
Thomas hatte nichts und nahm den Job an.
Das war in Clayton, Oklahoma.
***
Bills Frau Mary lächelte und wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab. „Willkommen auf der Jackdaw-Farm.“
Thomas schüttelte ihr die Hand.
Er bekam das Zimmer über der Garage. Ein Bett, ein Schrank, ein Stuhl und ein Tisch.
Er arbeitete mit den Jackdaws, er aß abends mit den Jackdaws.
Manchmal fuhr er mit dem Pick-up nach Clayton und trank ein paar Bier. Manchmal saß er abends an seinem Tisch und schrieb Geschichten.
Und eines Tages zeigt er eine seiner kleinen Geschichten Mary und Bill.
***
Mary und Bill gefiel die Geschichte und sie schickten sie an den Bruder von Mary, der beim Oklahoma City Chronicle arbeitete.
Und so begann Thomas, Kurzgeschichten für die Wochenendausgabe der Zeitung zu schreiben. Viele Monate lang.
Bis ein Verlag auf ihn aufmerksam wurde.
Thomas war sehr aufgeregt, als er zum ersten Mal in die große Stadt fuhr.
***
„Ich habe mich zuerst in deine Geschichten verliebt.“
Er konnte es gar nicht glauben. Das war ein Satz aus dem Kino. Sagen Menschen solche Sätze? Es war höchst unwahrscheinlich.
Sie lagen auf einer Wiese im Clayton Lake State Park, nur fünf Meilen von Clayton entfernt. Vor sich das tausendfache Glitzern des Wassers, im Hintergrund die Kiamichi Mountains im Dunst des Sommernachmittags.
Lara war seine Lektorin. Malachitgrüne Augen, blonder Pagenkopf.
Im Herbst sollte ein Buch mit seinen Kurzgeschichten erscheinen.
Sein erstes eigenes Buch. Davon hatte er immer geträumt.
***
Thomas war auf dem Weg zum Fernsehstudio in Oklahoma City. Sein Buch war ein Erfolg. Es verkaufte sich in ganz Amerika. Die perfekte Story. Der Junge von der Farm, der große Literatur schreibt. Woher hatte er all die Geschichten? Er schöpfte aus dem Vollen. Das Leben vor seinem Unfall schien ein unerschöpflicher Schatz zu sein.
„Herzlich willkommen! Wir freuen uns auf Ihren Besuch.“
Der Mann schüttelte seine Hand und lächelte ihn professionell an. Dann sanken seine Mundwinkel und er bekam einen erstaunten Gesichtsausdruck.
„Das gibt’s doch nicht. Du? Kannst du dich noch an mich erinnern?“
Thomas erkannte ihn im selben Augenblick. „Larry. Wie lange ist das her?“
Sie waren zusammen zur Schule gegangen.
Aber Larry war schon lange tot.
Das Interview lief sehr gut.
Die Verkaufszahlen schossen durch die Decke.
***
Es dauerte einige Tage, bis sich seine Euphorie gelegt hatte.
Dann wusste er, was er zu tun hatte.
Er nahm den Pick-up und fuhr von der Farm nach Clayton.
Der Friedhof liegt gleich hinter der Kirche und ist nicht sehr groß.
Clayton ist ein winziges Dorf in Oklahoma.
Es begann zu regnen. Graue Fäden zwischen Himmel und Erde.
Er suchte eine Weile und dann fand er ihn.
Den Grabstein.
Seinen Namen.
P.S.: Karl Rossmann findet am Ende von Kafkas Amerikaroman Aufnahme im Theater von Oklahoma. Das ist sein Paradies, hier endet sein Abstieg durch die neun Kreise der Hölle. An diesem winzigen Punkt in Zeit und Raum findet Rossmann seine Erlösung von Verdammung und Schuld. Den Ort Clayton gibt es wirklich – auch in Oklahoma. Er hat etwa so viele Einwohner wie Schweppenhausen. Im Roman ist der Rennplatz in Clayton jedoch an der Ostküste. Zwei Tage und zwei Nächte fährt Rossmann mit dem Zug nach Westen. Vor seiner Ankunft am dritten Tag endet das Manuskript.
Depeche Mode – Behind the Wheel. https://www.youtube.com/watch?v=04ZIj4r6jx8

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