Dienstag, 7. Juni 2016

Alte Männer, alte Geschichten

„Es läuft nicht immer alles nach Plan, sagte der Frosch und fraß den Storch.“ (Lupo Laminetti)
Anfang der neunziger Jahre kannte ich einen Atomphysiker aus Lichtenberg, der gerade von einem Job in Vancouver kam. Ein knapp zwei Meter großer Fleischberg mit Vollbart. Wir lernten uns auf einer Party kennen, die eine Freundin meiner damaligen Freundin gegeben hatte. Diese Freundin war 1988 von einem Holländer aus Ost-Berlin „ausgeheiratet“ worden, war inzwischen geschieden und lebte wieder in Berlin. Es gab Kaviar, die üblichen Nudel- und Kartoffelsalate, Wodka und Bier - und eine ganze Ochsenzunge. Ein schöner Ost-West-Mix als Buffet. Der Physiker, versoffen und lustig, und ich waren gleich ein Herz und eine Seele.
Über ihn lernte ich einen anderen Ossi kennen, dem ich innerhalb von einem Monat eine BWL-Magisterarbeit geschrieben habe. Für 3.500 DM. Über die Bewertung von Immobilien (Einheits-, Ertrags- und Verkehrswertverfahren). Der Typ war Steuerberater und hatte zu Ostzeiten noch Politische Ökonomie studiert. Die Scheine, die er damals gemacht hatte, waren nach dem Mauerfall natürlich nix wert, weil Marx und Lenin nix mehr wert waren. Also hatte er BWL im Westen angefangen, aber die Magisterarbeit nicht mehr geschrieben, weil er diesen Job als Steuerberater bekam und eine russische Frau und zwei Kinder zu ernähren hatte. Er lebte in einer riesigen Altbauwohnung in der Oranienburgerstraße, später in der Husemannstraße im Prenzlauer Berg. Außerdem hatte er noch eine hübsche Zweitwohnung in der Schlegelstraße (alles billig, da noch zu DDR-Zeiten angemietet) in Mitte, in der ich einen Freund aus Ingelheim als Untermieter unterbringen konnte.
Jedes Mal, wenn wir uns trafen, besoffen wir uns und er lud mich in seinen Stammpuff ein. Ukrainerinnen, vierzig Mark. Aber ich habe immer abgelehnt. Nach dem Job habe ich ihn nur noch ein paar Mal gesehen. Zum Beispiel in einer Kneipe in der Schönhauser Allee, als mich ein Neonazi dumm angeglotzt hat und ich ihn fragte: „Ist was?“ Er blickte mich an wie ein Ork, kam auf mich zu und gab mir eine Ohrfeige. Nur ganz leicht, ein Klaps, eine Provokation. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie zwei seiner Kumpel von hinten auf mich zu kamen. Ich rannte raus und traf den Steuerberater in seinem schicken Anzug auf dem Bürgersteig. Die Freundin von dem Neonazi lief uns hinterher und hat sich für den Vollidioten entschuldigt.
Den Atomphysiker habe ich wenige Monate später aus den Augen verloren, als er die Wissenschaft aufgegeben hat. Er hatte bei Boston Consulting angeheuert und war die meiste Zeit in Frankfurt oder bei seinen Kunden. Wenn wir uns trafen, erzählte er mir, wie einfach der Job in der Unternehmensberatung sei. Mathematisch keine Herausforderung und die Bürokratie in den Unternehmen, für die er eingeteilt war, beispielsweise die Daimler AG, erinnerte ihn an die VEB in seiner Jugend. Die Arbeit hat ihn, was sein Verhältnis zum Westen angeht, doch sehr ernüchtert.
Er hat sich später als Unternehmensberater und Vermögensverwalter selbständig gemacht und ist, nach meiner Internetrecherche von neulich, immer noch in diesem Segment aktiv. Die Freundin, auf deren Party in Mitte wir uns kennengelernt hatten, lernte bald darauf einen schwäbischen Ingenieur kennen, dem sie auf seine Baustellen in Indien und Saudi-Arabien folgte. Sie bekam zwei Kinder und schrieb meiner Freundin gelegentlich eine Mail. Mein damaliges Herzblatt ist heute Professorin in Hamburg und ich bin bekanntlich Vorstandsvorsitzender von Bonetti Complete Solutions Inc. geworden.
P.S.: Die BWL-Magisterarbeit wurde von meinem Auftraggeber leider nie eingereicht. Schade, ich wüsste gerne, welche Note ich bekommen hätte.
George Thorogood - Bad to the bone. https://www.youtube.com/watch?v=8i6anTAQqnw
P.P.S.: Noch eine Geschichte, die ich als Geschichtenerzähler erlebt habe. Als Kiezschreiber im Brunnenviertel hat mich einmal ein älterer Herr angesprochen. Werner Papke: Elite-Nazi-Kind, Schwerverbrecher, Boxtrainer, Kinderschänder. Ich sollte seine Biographie schreiben. Nach einem mehrstündigen Gespräch in seiner Wohnung und einer kurzen Recherche habe ich das Projekt abgelehnt. Inzwischen hat er seine Memoiren selbst geschrieben. Ich erinnere mich an Dutzende handgeschriebene Seiten, die vielen Zeitungsausschnitte zum Thema Gladow-Bande, der er angehört hatte, und über die ganzen Weltmeister, die er trainiert hat. Gegen die Verurteilung wegen Missbrauchs kämpft er bis heute und kann mit drei urologischen Gutachten nachweisen, dass sein Penis nur zwei Zentimeter lang ist und er unfähig zur Erektion und zum Samenerguss ist. Musste ich mir alles anhören. Man trifft immer wieder illustre Gestalten in Berlin …
http://www.werner-papke.de/

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