Montag, 11. Juli 2016

Unter Zombies 1

„Da steht man in der Mittagspause im Anzug mit einer Flasche Gin im Schnapsladen und fragt sich, ob der Penner neben einem glücklicher ist.“ (Horst Hutzel)
Ich kann keine Geschichte über sie erzählen, ich kann sie nur beschreiben. Wäre ich ein Maler, würde ich eine Skizze anfertigen, während sie mir gegenüber sitzt und spricht.
Sie ist weit über fünfzig, dünn und braungebrannt. Es ist das Braun eines alten Ledersattels und sie verdankt ihre Gesichtsfarbe nicht der Sonne. Ihre dunkelblauen Augen liegen in tiefen Höhlen und ihre Zähne leuchten im Kontrast zu ihrer Haut unnatürlich weiß. Sie trägt einen Morgenmantel aus dunkelroter Seide und zierliche Pantoffeln.
Ihr Mann ist Rechtsanwalt, aber die Praxis ist im Niedergang begriffen. Sie macht sich Sorgen um die Zukunft. Sorgen, ob sie den Lebensstil noch halten können. Die Putzfrau, die Reisen, die Restaurantbesuche.
Jetzt sitzt sie vor mir, in einem Sessel, und hält ein Glas Champagner in ihrer Hand. In der anderen Hand glimmt eine Zigarette. Sie fragt sich ernsthaft, ob ihr einmal Altersarmut drohen wird. Und ich höre ihrem traurigen Monolog zu.
Sie lebt mit ihrem Mann in einer Stadtvilla aus dem 19. Jahrhundert, die von alten Bäumen umstanden ist. Er bewohnt das untere Stockwerk, sie bewohnt das obere Stockwerk. Im mittleren Stockwerk sind die Küche, das Wohnzimmer und das Esszimmer.
Sie ist ein Zierfisch, eine Orchidee auf der Fensterbank. Voller Selbstmitleid, voller Erinnerungen an bessere Zeiten. Sie wollte nie Kinder haben und sie hatte nie Kinder. Sie wollte nie arbeiten und sie hat nie gearbeitet. Mit fünfundzwanzig saß sie in einem Zugabteil erster Klasse und draußen rauschte das Leben vorbei.
Die Szene ist Realsatire. Man müsste nichts tun, nur die Kamera einschalten. Loriot wäre begeistert gewesen. Oder Gerhard Polt. Man kann es nicht besser machen: Die braungebrannte Gattin des Rechtsanwalts, die mit einem Glas Champagner in der Hand in ihrer Villa in Wiesbaden über Altersarmut spricht.
Es ist keine Geschichte, es ist nur eine Miniatur. Das deutsche Bürgertum in der Abenddämmerung der Dekadenz.
The Rolling Stones - Paint It Black. https://www.youtube.com/watch?v=O4irXQhgMqg

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