Sonntag, 29. Januar 2017

Van Loon

„Wein und Würfel herbei! Fahr' hin, wer um morgen sich kümmert! Lispelt der Tod doch ins Ohr: ‚Lebet, ich komme gewiss.‘“ (Vergil)
Ich kann mich noch genau an die Szene erinnern. Es ist ein Sommernachmittag und ich sitze mit einer Freundin auf dem Restaurantschiff „Van Loon“ im Urbanhafen in Kreuzberg. Wir trinken Kaffee und essen Kuchen. Ein extrem entspannter Moment, manche Deutsche benutzen für diese Augenblicke die Formulierung „die Seele baumeln lassen“. Ich habe nie verstanden, wie das genau gemeint ist. Wie fühlt sich eine Seele an? Wann baumelt sie? Was macht sie sonst? Ist sie manchmal auch „gespannt wie ein Flitzebogen“? Egal.
Ich blinzele in die Sonne. Der Kuchen schmeckt. Eine schöne Frau sitzt mir gegenüber und wir führen ein interessantes Gespräch. Und dann stellt sie diese Frage. Ich war überhaupt nicht vorbereitet. Auf diese Fragen kann man sich gar nicht vorbereiten. Ich wusste auch überhaupt keine Antwort. Es ist jetzt fünfzehn Jahre her und ich wüsste auch heute nicht die Antwort. Es ist keine fiese Frage. Nicht böse oder so. Aber sehr klug. Und einfach formuliert. Ich starre sie einfach nur an, während sie an ihrem Kaffee nippt und unschuldig auf das Wasser blickt.
„Willst du das jetzt den Rest deines Lebens machen?“ Meine Güte, ich bin 35 Jahre alt und Wissenschaftler. Ich habe mich auf das Thema „Zeit“ fokussiert. Ich schreibe Bücher, halte Vorträge, treffe Fachkollegen und gebe gelegentlich ein Interview zu diesem Thema. Zeit. Das ist ein weites Feld. Man könnte viel zu diesem Thema sagen und ich absolviere ganze Forschungsprojekte, um meine Fragen zu diesem Objekt meiner geistigen Begierde zu beantworten. Ich lese, ich führe selbst Interviews mit vielen Leuten, um ihren Umgang mit der Zeit und ihre Sichtweise auf das Thema zu begreifen.
Und dann diese Frage. Will ich das für den Rest meines Lebens machen? Immer dieses eine Thema? So vielschichtig es auch sein mag? Ich habe nur dieses eine Leben. Will ich nichts anderes mehr machen? Ein „vernünftiges“ Leben als Wissenschaftler führen? Werden mir irgendwann die Fragezeichen ausgehen und es bleiben nur noch Punkte? Plötzlich werde ich unsicher. Die Frage reißt mich aus der Selbstgewissheit eines angenehmen Lebens und eines angenehmen Nachmittags heraus. Was will ich eigentlich vom Rest meines Lebens? Die Frau gegenüber ist Redakteurin beim Fernsehen. Jeden Tag neue Themen. Sie muss sich nicht festlegen. Sie lässt in aller Ruhe ein Stückchen Käsekuchen auf der Zunge zergehen und sieht mich mit ihren großen blauen Augen fragend an.
Ich weiß es nicht, sage ich schließlich. Ganz schwache Antwort. Ich weiß. Aber ich weiß es wirklich nicht. Ein Jahr später bin ich arbeitslos. Ein weiteres Jahr später wird die „Agenda 2010“ in Kraft gesetzt und noch ein Jahr später bin ich Sozialhilfeempfänger.
Will ich den Rest meines Lebens schreiben? Bloggen? Keine Ahnung. Was ist in einem Jahr? Wir treiben wie ein Papierschiffchen auf den Wogen des Zufalls und bilden uns ein, Antworten auf die wirklich wichtigen Fragen zu haben. Wir könnten nicht falscher liegen.
Grace Jones – Walking In The Rain. https://www.youtube.com/watch?v=VZO2xx2jk0g

4 Kommentare:

  1. Natürliche Dinge sind nicht unanständig.

    Vergil
    (70 v. Chr. - 19 n. Chr.)

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  2. Es gibt sicher keine Antwort, die immer und für jeden/jede gilt. Ich erfahre in meinem Leben, dass es immer wieder die Suche nach gelungenem Leben, aber auch die Unzufriedenheit in der Gegenwart gibt. Was in einem Jahr ist, weiß niemand. Was unser Ziel ist, sollten wir mutig formulieren. Sicherheit gibt es nicht, aber wenn man nicht weiß, wo man hin will, dann ist es schwer irgendwo anzukommen und sich gut zu fühlen.
    Für mich wäre es ganz wunderbar, mit Schreiben und Bloggen zu leben, könnte ich schreiben wie Du, würde ich Bücher schreiben. Material habe ich, aber ich weiß nicht, wie anfangen. So bleiben es "Kopfgeburten". Gedichte hier und da, kurze Texte, Briefe- alles schreibe ich gern.
    Hab einen guten Tag!

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  3. Manchmal ist es gut in Frage gestellt zu werden ;-)

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