Montag, 20. Februar 2017

Wie ich den Krieg verlor

„Eine Geschichte der Menschheit gibt es nicht. Das ist die tiefe, traurige Wahrheit. Ihre Annalen sind nie geschrieben worden und werden nie geschrieben; und selbst, wenn es sie gäbe, wären wir außerstande, sie zu lesen. Was wir haben, ist das eine oder andere Blatt aus dem großen Buch des Schicksals, das von den Stürmen, die über die Erde hinwegziehen, hergeweht wird. Wir entziffern das, so gut wir können, mit unseren kurzsichtigen Augen; aber alles, was dabei herauskommt, ist ein konfuses Gemurmel. Wir haben es mit Hieroglyphen zu tun, zu denen uns der Schlüssel fehlt.“ (John Lothrop Motley)
Es begann in den Fernsehnachrichten. Dort war von Forderungen und Provokationen die Rede, in den folgenden Tagen fielen Begriffe wie „Ultimatum“ oder „Mobilisierung der Reserve“, die ich gar nicht kannte. Ich war damals zehn Jahre alt und fragte meine Eltern, was das zu bedeuten habe, aber sie senkten nur schweigend den Kopf oder sagten mir, ich sei noch zu klein.
Eine Woche später war unser Land im Krieg. Den genauen Grund für den Ausbruch dieses Krieges habe ich nie erfahren. Unsere Gegner waren heimtückisch, primitiv und hatten keine Chance gegen uns. Der Mann aus dem Nachbarhaus trug plötzlich eine Uniform und musste zu seiner Einheit. Ich habe vergessen, welche Einheit das war, aber ich war traurig, dass mein Vater keine Uniform hatte und nicht in den Krieg zog.
In unserem Dorf gab es einen Umzug der Soldaten, die in den Krieg zogen. Sonst gab es nur im Karneval einen Umzug, aber die Menschen waren an diesem Tag genauso fröhlich und ausgelassen wie in der närrischen Zeit. Am Bahnhof standen hunderte von uniformierten Männern mit riesigen Rucksäcken und einem Gürtel, an dem allerlei geheimnisvolle kleine Taschen waren. Ihre Stahlhelme baumelten an der Seite der Rucksäcke.
In dieser Zeit fühlten sich die Menschen wie Verbündete. Unsere Nachbarn im Dorf, selbst Fremde im Supermarkt waren uns jetzt viel näher. Es wurde in den Medien und in den Alltagsgesprächen viel von Zusammenhalt und Solidarität geredet. Man war erleichtert, wenn man einem anderen Menschen ein klein wenig helfen konnte, denn damit durfte man seinen Gemeinschaftssinn und seinen Willen zum Sieg auch im Kleinen zeigen.
Nur die Ausländer wurden misstrauisch betrachtet. In unserem Dorf gab es Türken, Italiener und Polen. Konnte man ihnen trauen? Ihre Länder waren zwar keine Kriegsparteien, aber es konnten doch Spione sein. Sie unterhielten sich in fremden Sprachen und gehörten nicht zu uns. In der Schule wurden sie zu Außenseitern, mit denen niemand mehr spielte. Wir deutschen Kinder wollten unter uns sein. Wir sprachen auf dem Schulhof über nichts anderes mehr als über den Krieg.
Wir hörten Geschichten von der Front, die im Dorf schnell die Runde machten. Obwohl es eigentlich verboten war, schickten viele Soldaten Mails und Fotos an ihre Angehörigen, von denen natürlich etliche im Internet landeten. Ich las die täglichen Berichte über den Kriegsverlauf. Es war spannender als die Fußballbundesliga. Hatten wir ein Gefecht gewonnen oder verloren? Hatten wir ein Stück Territorium erobert oder mussten wir es räumen? Wie viele Tote hatte der Gegner, wie viele Tote hatten wir? Das war der aktuelle Tabellenstand des Krieges.
Im Fernsehen und im Internet sah ich mir viele Beiträge über die Kampfhandlungen an. Ich muss sagen: unsere Bomber und Panzer waren einfach schön. Sie sahen gut aus und das Mündungsfeuer der Artillerie jagte mir wohlige Schauer über den Rücken. Auch die Luftaufnahmen von Explosionen oder die Bilder einer Drohne kurz vor ihrem Einschlag waren beeindruckend. Unsere Soldaten sahen cool aus, wie Filmstars. Während die Gefangenen des Feindes aussahen wie Verbrecher.
Irgendwann erreichten die Todesmeldungen auch unser Dorf. Der Nachbar mit der schönen Uniform war tot. Seine Frau weinte, als sie es meiner Mutter erzählte. Seine beiden Töchter gingen zunächst gar nicht zur Schule, dann nur schweigend und mit hängenden Köpfen. Ich fragte meinen Vater, ob er auch in den Krieg ziehen müsste. Ich war unsicher geworden. Nein, sagte er, aufgrund seiner Tätigkeit als Leiter der Buchhaltung in einem kriegswichtigen Betrieb müsse er nicht mit seiner Einberufung rechnen. Wieder neue Worte: „kriegswichtig“, „Einberufung“.
Es waren die Politiker, die entschieden, was kriegswichtig war und wer als nächstes einberufen werden sollte. Man sah sie jetzt häufiger im Fernsehen, wo sie lange Reden hielten. „Schicksal“, „Nation“, „historische Entscheidungsschlacht“ oder die „Zukunft unserer Kinder“ waren Begriffe, die sehr häufig in ihren Reden vorkamen. Viele Flaggen und klatschende Menschen waren zu sehen, die Inszenierung war beeindruckend. Ob meine Eltern abends vor Ergriffenheit oder Angst weinten, weiß ich nicht mehr. Aber eines Tages hatten wir den Krieg verloren.
Solid Space - Spectrum Is Green. https://www.youtube.com/watch?v=rsR40Skuxfo

3 Kommentare:

  1. Erinnert mich sehr an "Im Westen nichts Neues" :-)
    Muss ich mal wieder lesen.

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  2. ...ja, nach dem Motto: "Führer befiehl, wir tragen die Folgen"

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  3. ... Vergessen wurden:
    Die Deportierten
    Der Hunger
    Die zerstörten Häuser und Straßen und die radioaktiv verstrahlten Gebiete

    Gruß
    Jens

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